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1. Neue Forschungsansätze zu gendersensiblen Fragestellungen

Wie lassen sich genderspezifische Unterschiede bei der Sprachverarbeitung darstellen und werten?

Genderspezifische sprachliche Entwicklungen überhaupt zu identifizieren, ist schon deshalb eine Herausforderung, da neben den Variablen, die sich aus den zerebralen Unterschieden ergeben (vgl. Böttger 2016: 88), auch soziokulturelle Einflüsse wie beispielsweise Erziehung, Leitbilder oder Medien (ebd. 80f.) miteinbezogen werden müssen. Eine isolierte Betrachtung der rein biologischen Geschlechtsunterschiede verfälscht jede Interpretation: „Gender studies claim that a clear-cut distinction between a biological sex and a social gender does not exist“ (vgl. Butler 1990; Fausto-Sterling 2000). Gendersensible und -spezifische Forschungsdesigns in der Spracherwerbsforschung betrifft dies somit ebenfalls. Generalisierte sprachendidaktische Schlussfolgerungen sind deshalb nicht ohne qualitative Forschungsinstrumente wie z.B. zusätzliche Leitfadeninterviews mit den Kindern und ihren Erziehungsberechtigten sowie Lehrkräften und Betreuer/innen zu möglichen Einflussfaktoren wie Herkunft, häusliche Förderung etc. möglich.

Der Forschungsfokus bzw. das Erkenntnisinteresse dieses Kapitels lässt sich auf zwei Fragestellungen komprimieren:

1 Welche genderspezifische Entwicklung nehmen die Lesekompetenzen mehrsprachiger Kinder?

2 Wie lassen sich die Befunde zur genderspezifischen Entwicklung im schulischen Sprachenunterricht berücksichtigen?

Forschungsüberlegungen und -instrumente

Zur Beantwortung solch komplexer Forschungsfragen sind Forschungsansätze über mehrere Wissenschaften hinweg nötig. Im an dieser Stelle beschriebenen interdisziplinären Forschungsprojekt zu allgemein genderspezifischen Sprachentwicklungsunterschieden trat neben die Recherche und Berücksichtigung aller ab etwa 1980 bereits bekannter relevanten Forschungsbefunde zur Thematik deren systematischer Vergleich in einer analytischen Cross-sciences-Metastudie. Medizinische, psychologische, psycholinguistische Erkenntnisse und solche der Sprachverhaltensforschung, der Biologie sowie der Neurowissenschaften wurden berücksichtigt. Insbesondere die Anzahl der genderspezifischen neurowissenschaftlichen Untersuchungen durch radiologische Bildgebung per fMRi (functional magnetic resonance imaging) wächst (vgl. Kaiser/Haller/Schmitz/Nitsch 2009) sowohl insgesamt als auch anteilig an allen fMRi-Studien und fMRi-Publikationen weltweit. Die Aussagekraft der educational neurosciences ist zunächst auf die reine Bildgebung beschränkt, kann jedoch gerade durch den Abgleich mit Ergebnissen der nicht neurowissenschaftlichen Spracherwerbsforschung mit diesen in Beziehung gesetzt werden, sie bestätigen oder neue Fragestellungen aufwerfen.

Die radiologische Bildgebung per fMRi nutzt die Magnetresonanz von Wasserstoffatomen. Sie ermöglicht eine für die Spracherwerbsforschung relevante Erkundung neuronaler Substanzen der menschlichen Kognitionsfunktionen. Dazu werden die aufgabenbezogenen Veränderungen und Ereignisse in zerebralen Regionen bezüglich Blutfluss und Sauerstoffkonzentration visualisiert.

Dargestellt kann also werden, in welcher Intensität an welcher Stelle des Gehirns Aktivitäten stattfinden. Speziell für die nachfolgend beschriebene Untersuchung macht das fMRi das Volumen bestimmter Gewebe im Gehirn sichtbar. Wie schnell sich beispielsweise Wasser in diesem Gewebe verteilt, kann die Konsistenz des Gewebes bestimmen. Das Diffusion-tensor-imaging-Verfahren (vgl. Schmithorst et al. 2008: 15) misst diese Diffusionsbewegung von Wassermolekülen und lässt zu, sie räumlich aufgelöst dreidimensional darzustellen (vgl. Le Bihan/Mangin/Poupon/Clark/Pappata/Molko/Chabriat 2001). So entstehen aus physikalisch-radiologischen Messungen Bilder mit Aussagekraft.

Auf dieser theoretischen Grundlage erfolgten eigene Messungen und Berechnungen zu den relevanten neurobiologischen Unterschieden in Lincoln/Nebraska/USA im September 2014 sowie April 2015, genauer an der University of Nebraska-Lincoln, Center for Brain, Biology and Behavior & Medical Center. Die Forschergruppe bestand aus Neuropsychologen, Radiologen und dem Autor.

Auswirkungen auf die Spracherwerbsleistungen haben, so die Grundüberlegung der Forschergruppe, vor allem der unterschiedliche Gebrauch der Hirnhälften sowie die verschiedenen Leitungsgeschwindigkeiten von Hirnzelle zu Hirnzelle.

Im ersten Fokus der Untersuchungen standen die speziellen Verbindungen der Nervenzellen, die Axone. Über sie kommunizieren die Gehirnzellen miteinander, sie sind durch sogenannte Myelin-Schichten ummantelt. Je dicker diese sind, desto schneller werden Impulse ausgetauscht. Der Grad der Sprachentwicklung hängt von der Beschaffenheit des Myelins ab und seiner Entwicklung (= Myelinisierung).

Einen zweiten Forschungsschwerpunkt bildet die Verbindung der beiden Hemisphären des Gehirns, die Brücke. Ihre Nutzung (= Lateralisierung) verläuft genderspezifisch unterschiedlich. Die weibliche Koppelung zwischen beiden Hirnhälften ist messbar dicker, die Mehrzahl an Nervenverbindungen scheint eine bessere Verbindung herzustellen. Sie ist schon vorgeburtlich ein Fünftel größer als in der männlichen, insbesondere das sprachrelevante Areal des sog. Splenum. Jungen haben eine stärkere Verbindung innerhalb jeder Hälfte (vgl. Clements/Rimrodt/Abel/Blankner/Mostofsky/Pekar/Denckla/Cutting 2006; Haut/Barch 2006). Somit ist auch die neuronale Vernetzungsdichte bei Mädchen in beiden Hemisphären ähnlich, bei Jungen jedoch aufgrund der in der Regel linkshemisphärischen Sprachverarbeitung und -verwendung sowie der neuroanatomischen Ungleichheit der Brücke asymmetrisch.

Genderspezifische Unterschiede in der kognitiven Sprachverarbeitung (Burman/Bitan/Booth 2008) lassen sich durch fMRi-Untersuchungen ebenfalls identifizieren. Fragen nach dem Einfluss sozialer Indikationen und Erfahrungen (Leonard/Towler/Welcome/Halderman/Otto/Eckert/Chiarello 2008; Schmitz 2006) sowie nach deren Unabänderlichkeit (Jordan/Wustenberg/Heinze/Peters/Jancke 2002) müssen ausgeklammert bleiben, sie sind schlicht nicht darstellbar. Sie müssen durch empirische Forschungsinstrumente ergänzt werden (s. weiter oben). Geschlechtsunterschiede in Bezug auf höhere kognitive Fertigkeiten in der neuronalen Organisation sind jedoch nicht unveränderlich (Kaiser et al. 2009), sondern dem lebenslangen Einfluss von (Lern-)Erfahrungen ausgesetzt (vgl. auch Draganski/Gaser/Busch/Schuierer/Bogdahn/May 2004; Jäncke/Gaab/Wüstenberg/Scheich/Heinze 2001; Münte/Altenmuller/Jancke 2002).

Forschungsanlage und -methode

Das Teilprojekt, das in diesem Kapitel beschrieben wird, war Teil eines größeren interdisziplinären Forschungsvorhabens (s. weiter oben) mit mehreren Probandengruppen und Erkenntnisinteressenslagen z.B. in Bezug auf Multilingualismus. U.a. wurden die Messungen von Franceschini (2002) nachgestellt, die die neuronalen Verarbeitungsorte und -intensität einer weiteren Sprache bei bilingualen Jugendlichen in den Blick nahm.

In dem im Folgenden dargestellten Teilprojekt waren von den 48 Proband/innen 23 männlich und 25 weiblich. Zum Zeitpunkt der ersten Untersuchung befanden sie sich alle in der Altersspanne von 5 bis 9 Jahren. Alle Proband/innen sind Mitglieder von Einwandererfamilien nach Lincoln/Nebraska und dort geboren. Sie alle wuchsen und wachsen durchweg zweisprachig auf, verfügen über eine Muttersprache als Herkunftssprache (HS) sowie die englische Sprache als erste Fremdsprache (FS) und Umgebungssprache (US). Sie befanden sich am Beginn der Alphabetisierung durch angeleiteten Unterricht in der Preschool oder dem Kindergarten (Alter 5 und 6) sowie in der Primary School (Alter 6 bis 9 Jahre). In drei Fällen entwickelten sich Mädchen im Alter von fünf, sechs und neun Jahren trilingual, durch die unterschiedlichen Mutter-/Vatersprachen bedingt (Deutsch/Spanisch).

Das Treatment wurde mit den Lehrkräften der jeweiligen Institutionen auf altersgemäße Angemessenheit abgesprochen und vorgetestet. Insbesondere bei den 4- bis 6-jährige Proband/innen waren solche vorherigen Tests notwendig, um identifizieren zu können, welche frühen Leseleistungen überhaupt möglich waren.

Drei Aufgabentypen wurden jeweils entwickelt für die Alterstufen 5/6, 7/8 und 9 Jahre. Sie bestanden aus kurzen Leseaufgaben von Buchstabenfolgen, Wörtern und Sätzen in der Herkunftssprache sowie in Englisch (s. folgende Tab. 1). Die zusätzliche Sprache Spanisch der drei trilingualen Proband/innen wurde insbesondere aus Gründen der Wirtschaftlichkeit und einer möglichen Überforderung nicht berücksichtigt.

Aufgaben Teilprojekt Lesen Herkunftssprache (HS) und Fremdsprache (FS) Messdauer/ Min. max.
Lautes Lesen von Buchstabenfolgen und Wörtern in HS und FS. 2
Lautes Lesen je eines altersgerechten kurzen Textes in HS und FS, syntaktisch und semantisch leicht, zunehmende Komplexität. 3
Stilles Lesen eines zweiten kurzen Textes in HS und FS. 3
Kurze Befragung zum Verstehen beider Textteile (siehe 2./3.) sowie generell zum Ablauf des Tests. 4

Tab. 1: Treatment des Teilprojekts Lesekompetenz

Die Variablen des zwölfminütigen Tests wurden dementsprechend in zwei Kategorien zur neurowissenschaftlichen wie auch sprachwissenschaftlichen und -didaktischen Charakterisierung eingeteilt:

 Erkennen neurowissenschaftlicher UnterschiedeGrad der Myelinisierung in den SprachzentrenLateralisierung während des Treatments

 Erkennen von Unterschieden in der LesekompetenzLeseperformanz beim lauten Lesen von zu verbalisierenden Buchstaben- oder Lautfolgen sowie je eines altersgerechten Textes in HS/FSLeseverstehen beim stillen Lesen (sinnentnehmendes Lesen) eines altersgerechten Textes in HS/FS

Zunächst war der Gendervergleich nicht erstrangig intendiert gewesen. Erst bei der Auswertung der Daten ergab sich ein offensichtlicher Unterschied, dem dann in der Analyse und Interpretation der Daten nachgegangen wurde.

Die anspruchsvolle Aufgabe für die Proband/innen, im fMRi zu liegen und gleichzeitig zu lesen, wurde durch ein Lese-Spiegel-Gestell technisch gelöst, das das Lesen in der Liegeposition bequem ermöglichte, und an das sie im Vorfeld bei Besichtigung und Probeliegen gemeinsam mit den Eltern gewöhnt worden waren. Die Übertragung des lauten Lesens wurde mit einem nicht magnetischen Mikrophonsystem gewährleistet, das den Testdurchführenden über lärmschützende Kopfhörer das Zuhören trotz der Umgebungsgeräusche erleichterte und auch nicht zu Interferenzen bei der Messung selbst führte.

Mehrsprachige Leseförderung: Grundlagen und Konzepte

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