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1. Mehrsprachigkeit und Fremdsprachenunterricht: Gründe für die wissenschaftliche Auseinandersetzung

Das Thema Mehrsprachigkeit wird von Sprachendidaktiker/innen bereits seit langem wiederkehrend diskutiert, nie jedoch war das Interesse an diesem Thema so groß wie heute. Folgende Gründe können hierfür Erklärungen liefern.

Steigende Flüchtlingszahlen

Knapp eine Million Asylanträge wurden im Jahr 2016 in Europa gestellt, etwa zwei Drittel davon entfielen auf Deutschland (https://www.welt.de). Laut Angaben des Bundesamtes für Statistik (https://www.destatis.de) sind ca. 120000 der im Jahr 2015 aufgenommenen Geflüchteten in Deutschland im schulpflichtigen Alter. Die Frage nach der bestmöglichen Förderung von Kindern mit nicht deutschem Sprachhintergrund stellt sich seit diesem Zeitpunkt verstärkt auch für den Fremdsprachenunterricht.

Anhaltende Bildungsbenachteiligung von mehrsprachigen Kindern mit Migrationshintergrund

Wenngleich das Thema Integration von Kindern mit vielsprachigem Hintergrund in Deutschland kein neues ist, wurde bislang offensichtlich noch keine ausreichende Strategie entwickelt, wie diese Lernenden, optimal gefördert werden können. So zeigt eine Statisitik des Statistischen Bundesamts von 2016, dass im Schuljahr 2014/15 30,6 % der Schüler/innen der Sekundarstufe mit nicht deutscher Herkunft eine Hauptschule besuchten (Statistisches Bundesamt 2016: 18). Wenngleich die Gesamtzahl innerhalb der letzten zehn Jahre gesunken ist (43,3 % im Schuljahr 2004/05), ist sie bedenklich vor dem Hintergrund, dass insgesamt in Deutschland nur 12 % der Schüler/innen eine Hauptschule besuchen.

Auch in der jüngsten PISA-Studie zeigt sich, dass der Abstand zwischen Schüler/innen mit und ohne Migrationshintergrund unverändert hoch bleibt, und zwar zum Nachteil der Kinder mit Migrationshintergrund (OECD 2016).

Obschon andere Vergleichsstudien, wie z.B. DESI (DESI Konsortium 2008) oder EVENING (Groot-Wilken 2009) zeigen konnten, dass die Unterschiede in den Leistungen ein- und mehrsprachiger Schüler/innen in der Fremdsprache nicht ganz so stark ausfallen wie in anderen Fächern, und mehrsprachige Kinder unter bestimmten Bedingungen, wie z.B. gute Kompetenzen in der Erst- und Zweitsprache und ein untersützendes Sozial- und Lernumfeld, sogar besonders gute Leistungen im Fremdsprachenunterricht erbringen können, stellt sich für den Fremdsprachenunterricht die Frage, wie die offensichtlich vorhandenen besonderen Sprachlernvoraussetzungen der Mehrsprachigen optimal berücksichtigt werden können. Bislang liegen hier nur sehr wenige Erkenntnisse vor (u.a. Poarch/Bialystok 2017).

Wachsende Erkenntnisse im Bereich des multiplen Spracherwerbs und zum bilingualen Unterricht

Zwar nutzen Mehrsprachige dieselben Gehirnareale wie einsprachige Menschen, allerdings zeigen computer-tomographische Aufnahmen (z.B. Franceschini 2002), dass die Sprachregionen bei multilingualen Menschen häufig anders ausgebildet sind. Das betrifft insbesondere einen Teil des Broca‘schen Sprachenzentrums in der Großhirnrinde. Dieses Areal steuert unter anderem unsere Entscheidungsprozesse. Mehrsprachige Menschen nutzen dieses Areal deutlich häufiger als Einsprachige, weil sie geübt darin sind, schnell zu entscheiden, in welcher Sprache sie sprechen müssen. Häufig fällt es Frühbilingualen – im Vergleich zu Monolingualen – deshalb bei der Aufgabenbearbeitung leichter, wichtige von unwichtigen Informationen zu trennen (vgl. Bialystok/Poarch/Luo/Craik 2014). Für den Zweit- und Fremdsprachenunterricht stellt sich die Frage, wie mit den unterschiedlichen Prädispositionen Früh- und Spätmehrsprachiger umgegangen werden kann (vgl. hierzu Poarch/Bialystok 2017).

Ein ansteigendes Forschungsinteresse lässt sich zudem auch im Bereich des bilingualen Unterrichts ausmachen, woraus sich natürlicherweise auch neue Erkenntnisse auf diesem Gebiet ergeben. Insgesamt zeigt sich, dass Schüler/innen, die an bilingualen Unterrichtsmaßnahmen teilnehmen, unter bestimmten Bedingungen nicht nur hinsichtlich der Fremdsprache einen höheren Zuwachs verbuchen können als Lernende, die am herkömmlichen Fremdsprachenunterricht teilnehmen (z.B. Zydatiß 2009). Darüber dhinaus kann der bilinguale Unterricht auch zu verbesserten Kompetenzen in den Sachfächern sowie in Teilbereichen der Muttersprache, wie z.B. dem Lesen, führen (z.B. Zaunbauer/Gebauer/Möller 2013). Insgesamt wird deutlich, dass geförderte unterrichtliche Zwei- und Mehrsprachigkeit offensichtlich ein hohes Potenzial für Lernende birgt und deshalb weiter erforscht werden sollte.

Die Bedeutung von mehrsprachigen Kompetenzen in einer globalen Gesellschaft

Die steigende Nachfrage an mehrsprachigen Lerngelegenheiten ist zweifellos auch ein Resultat der weltweiten Vernetzung von Unternehmen, der wirtschaftlichen Globalisierung und der zunehmenden Mobilität in unserer Gesellschaft. Etwa 7000 Sprachen gibt es auf der Welt. In der Europäischen Union werden aktuell 24 Sprachen als Amts- und Arbeitssprachen anerkannt. Um sich beruflich oder privat mit anderen verständigen zu können, ist die Beherrschung mindestens einer gemeinsamen Verkehrssprache essentiell. Seit dem 2. Weltkrieg ist Englisch als wichtigste lingua franca anerkannt und muss deshalb von allen Schüler/innen in Europa gelernt werden. Dennoch plädiert die EU schon lange dafür, dass europäische Bürger/innen neben ihrer Muttersprache nicht nur Englisch, sondern mindestens noch eine weitere Fremdsprache erlernen.

Langfristig verfolgt die Kommission das Ziel, die individuelle Mehrsprachigkeit zu fördern, bis alle Bürger/innen zusätzlich zu ihrer Muttersprache über praktische Kenntnisse in mindestens zwei weiteren Sprachen verfügen. (Kommission der EG 2005: 4)

Diese Forderung führt für Fremdsprachendidaktiker/innen und Lehrkräfte gleichermaßen zur Frage, wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene möglichst viele Fremdsprachen so gut wie möglich und so schnell wie möglich erlernen können.

Wachsender Bedarf an geeigneten Sprachlehr- und Lernmethoden

In Deutschland beispielsweise wurde das Ziel Muttersprache plus 2 lange Zeit lediglich durch den verbindlichen Fremdsprachenunterricht (spätestens) ab Klasse 3 sowie durch das je nach Schulform verbindliche oder freiwillige Angebot einer zweiten Fremdsprache ab Klasse 7 umgesetzt.

Diese nacheinander folgenden Maßnahmen alleine reichten aus Sicht der EU und der KMK (Kultusminsterkonferenz) jedoch nicht aus, um Mehrsprachigkeit umfassend und im europäischen Sinne zu fördern. So fügte die Europäische Kommission 2003 ergänzend hinzu:

Es ist wesentlich, dass Schulen und Ausbildungseinrichtungen im Sprachunterricht einen ganzheitlichen Ansatz verwenden, der geeignete Verbindungen herstellt zwischen dem Unterricht in der Muttersprache, den Fremdsprachen, der Unterrichtssprache und den Sprachen der Migrantengemeinschaften; entsprechende Strategien erleichtern es den Kindern, das volle Spektrum ihrer kommunikativen Fähigkeiten zu entwickeln. (Kommission der EG 2003: 10)

Es geht somit nicht nur darum, dass verschiedene Sprachen in der Schule im Rahmen von Fachunterricht gefördert werden, sondern auch darum, hierfür einen holistischen Sprachvermittlungsansatz zu wählen, der die wertschätzende, fördernde und strategische Einbindung verschiedener Erstsprachen beim Fremdsprachenerwerb unterstützt und Bezüge zwischen den verschiedenen Sprachen der Lernenden herstellt. Wie dies methodisch umgesetzt werden kann, soll im Folgenden überlegt werden.

Mehrsprachige Leseförderung: Grundlagen und Konzepte

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