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2. Textverstehen lehren – Strategievermittlung

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Auch in den Schulen ist die Kritik der PISA-Autor/innen angekommen: Lesestrategien als eigener Unterrichtsgegenstand spielen vor allem in der ersten Hälfte der Sekundarstufe eine starke Rolle in einem lesedidaktisch reflektierten Deutschunterricht.

Die Förderung von Lesestrategien bezieht sich, anders als die zuerst genannte Gruppe von Förderverfahren, in der Praxis dominant auf Sachtexte (Philipp 2015). Strategien sind prinzipiell bewusstseinsfähige, aber bei guten Leser/innen oft automatisierte mentale Handlungsfolgen, die gezielt und adaptiv eingesetzt werden, um Textverstehen zu erreichen. Der Leser, die Leserin muss einzelne mentale Schritte – wie z.B. einen Zusammenhang herstellen, noch mal bereits Gelesenes überprüfen, sich einen Begriff klarmachen – auswählen und diese Schritte zielbewusst kombinieren und koordinieren. Für diese strategische Arbeit am Text braucht es auch Metakognition: Der Prozess muss geplant werden – Was soll mir der Text ermöglichen? –, er muss überwacht werden – Habe ich verstanden? –, er muss gesteuert und schließlich evaluiert werden. Wenn Schüler/innen „nicht lernen können“, also gar keine Vorstellung davon haben, wie sie sich einen Wissensbereich eigenständig lesend aneignen, dann fehlt es ihnen an Wissen über effektive Lern- bzw. Lesestrategien.

Lesestrategien erfolgreich zu lehren ist nicht einfach. Schließlich handelt es sich beim strategischen Lesen nicht allein um Wissen, sondern um ein Können, um eine Kompetenz im eigentlichen Sinn. „Wichtiges Unterstreichen“ beispielsweise hilft nur, wenn man sich verdeutlichen kann, was wofür wichtig ist innerhalb einer Textpassage. Insofern kann das Unterstreichen Ausdruck der Anwendung einer Strategie sein, nicht sie selbst. Entsprechend wurde vorgeschlagen, zwischen einzelnen Techniken wie Unterstreichen, Vorhersagen, Zusammenfassen, Klären usw. nicht den Strategiebegriff in Anwendung zu bringen: Zur Strategie wird solches Tun erst, wenn es zielorientiert und adaptiv auf den Inhalt bezogen eingesetzt wird. Abgesehen von der Praxis der Lesestrategie-Vermittlung an den Schulen, deren Erfolge sich m.W. noch nicht überzeugend gezeigt haben (vgl. Souvignier/Philipp 2016, Philipp 2015: 107f.), stellt sich die Frage, ob Strategieprogramme nun das Mittel der Wahl zur Leseförderung bei mehrsprachigen und/oder schwachen Leser/innen sind?

Auch Lesestrategievermittlung setzt gewissermaßen hoch an: Sie bezieht sich vor allem auf die Textebene, indem textseitige Darstellungsmittel systematisch auf den thematischen Zusammenhang bezogen werden. Entsprechend sind Lesestrategien Kompetenzen, die sich gut von der Erst- in die Zweitsprachenlektüre tansferieren lassen (Grabe 2009: 127, 151) – sofern sie in der Erstsprache ausgebildet wurden, was bei Zweitsprachlektüre auf akademischem Niveau der Fall wäre. Aber selbst für solche Leser/innen mit höchsten Kompetenzen in der Erstsprache fordert Grabe für den Fremdsprachenerwerb ein lesedidaktisches Primat für die Wort- und Satzebene, für die Leseflüssigkeit (ebd.: 329f.), für diejenige Ebene also, auf der auch leseschwache Schüler/innen deutlich Probleme zeigen. Trotzdem drängt sich im Zusammenhang mit der Förderung von Lesestrategien folgende Frage auf: Brauchen Leser/innen mit Deutsch als Zweitsprache teilweise andere Lesestrategien für das Lernen aus deutschsprachigen Texten als Muttersprachler/innen? Sie ist m.W. noch nicht erforscht; aber plausibel wäre das schon: Eine solche Strategie für Mehrsprachige wäre es u.U., Lernende dazu anzuhalten, auf der Wortebene gesteigerte Aufmerksamkeit auf Phonologie, Orthografie und Morphologie zu legen und so nach sprachlichen und/oder thematischen Verwandtschaften zu ihrer Muttersprache Ausschau zu halten. Einzelne unbekannte Wörter könnten beispielsweise konsequent markiert und bewusst auf den Kontext bezogen werden, statt den Leseprozess durch Nachschlagen bei jeder unbekannten Wendung zu unterbrechen oder Unverstandenes gar zu ignorieren. Sinnvoll könnte auch sein, sprachliche Konnektoren grundsätzlich zu identifizieren und zu fokussieren. Ein solches strategisches Verfahren bei der Wort- und Satzidentifikation führt zu Effizienz bei der Lektüre in der Zweitsprache, so berichtet Grabe mit Blick auf akademisches Lesen (2009: 128). Aus theoretischer Perspektive scheinen also insgesamt diejenigen Strategien erfolgversprechend, die unterhalb der Textebene angesiedelt sind und insofern als Voraussetzung für das universale Textverstehen gelten müssen. Eine weitere, über die Wort- und Satzebene hinausgehende naheliegende Hypothese: Sollten bei Lernenden mit schwächeren Deutschkenntnissen gezielt die Top-Down-Strategien gestärkt werden, also die Fokussierung auf den Einbezug des Wissens zum Textthema explizit herausgefordert werden? (Vgl. in diesem Sinn Niebuhr-Siebert/Baake 2014: 178, 255ff.). Zum strategischen Lesen bei geringeren Sprachkenntnissen fehlen Forschungen. Wir wissen allerdings, dass das Textverstehen erheblich behindert wird, wenn sich mehr als ein bis zwei Prozent unbekannte Wörter im Text befinden, die nicht textintern geklärt werden. In welchem Ausmaß unbekannte Wörter in Lesetexten das Verstehen verunmöglichen, ist naturgemäß kaum zu quantifizieren: Denn unbekannte Wörter sind nicht der einzige Faktor von Textschwierigkeit (vgl. zu Textkomplexität systematisch Rosebrock 2017). Im Kontext der Lesedidaktik fordert Allington (2009) für unabhängiges Lesen einen Anteil von 99 % an Wörtern, deren Bedeutung bekannt ist – ein Wert, der für Lernende mit Mirgrationshintergrund wohl in der Regel nicht zu realisieren ist. Wenn die gängigen Strategietrainings durch ihre Fokussierung auf die Textebene die Wort- und Satzebenen, auf der mehrsprachige Schüler/innen ebenfalls Leseprobleme haben, verfehlen, dann dürfte das auch auf die schwachen Leser/innen mit Deutsch als Muttersprache zutreffen: Auch für sie sind die sprachlichen Anforderungen der Bildungssprache oft zu hoch, auch ihre Sprachkenntnisse sind nicht ausreichend.

Im schulischen Alltag lässt sich gut beobachten, dass das mangelnde Textverstehen der schwachen Leser/innen nicht allein ein Problem mangelnder Lexik in der Zweitsprache oder fehlender Textverarbeitungsstrategien ist. Schlechtes Textverstehen, wie es die Schulleistungsstudien gemessen haben, stellt eigentlich nur die Spitze eines Eisbergs dar, unter der sich die elementareren Leseschwierigkeiten verbergen: Die Gruppe der schwachen Leser/innen hat Probleme bereits auf der Wortebene, die sich im Grad der Automatisierung der Worterkennung, in der Genauigkeit beim Dekodieren und in der Langsamkeit des Prozesses ausdrücken. Auch auf Satzebene zeigen sich Schwierigkeiten: Leseschwache Schüler/innen erkennen und verstehen grammatische Strukturen weniger rasch und insgesamt schlechter. Diese Probleme auf Wort- und Satzebene können das Verstehen auf Textebene natürlich nicht unbeschädigt lassen. Für mehrsprachige Schüler/innen kommen, wenn sie das Deutsche noch lernen, zu den Schwierigkeiten beim Dekodieren und flüssigen Erfassen der Propositionen noch Probleme des geringeren Wortschatzes, also bei der Wortbedeutung, hinzu. Der Verstehensaufwand potenziert sich, wenn auf allen genannten Ebenen Defizite im Vergleich zu den durchschnittlich oder gut lesenden Altersgleichen auftreten. Sollte die Leseförderung dann nicht an der Basis des Eisbergs ansetzen – an den hierarchieniedrigen Teilfertigkeiten des Leseprozesses also?

Mehrsprachige Leseförderung: Grundlagen und Konzepte

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