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Dichte Aufführungen

Zur Ethnologie des postdramatischen Theaters

Christopher Balme (München)

Der Titel meines Beitrags bezieht sich auf eine der wohl einflussreichsten ethnologischen Publikationen der vergangenen vierzig Jahre, Clifford Geertz’ Einleitung zu seiner Aufsatzsammlung, „The Interpretation of Cultures“, sowie den darin enthaltenen Essay über den balinesischen Hahnenkampf: „Deep Play: Notes on the Balinese Cock Fight“. Diese Aufsätze können gleichsam als Gründungsdokumente der Theaterethnologie betrachtet werden. Der dort entfaltete Begriff der „dichten Beschreibung“ entwickelt eine Methode, die anstelle teleologisch ausgerichteter funktionalistischer Erklärungsmodelle eine hermeneutische Interpretation privilegiert. „Dichte Beschreibung“ kann auch als Aufführungsanalyse für Ethnologen bzw. für ethnologisch ausgerichtete Theater- oder Performance-Wissenschaftler bezeichnet werden. Geertz notiert:

Das Ziel dabei ist es, aus einzelnen, aber sehr dichten Tatsachen weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen und vermöge einer präzisen Charakterisierung dieser Tatsachen in ihrem jeweiligen Kontext zu generellen Einschätzungen der Rolle der Kultur im Gefüge des kollektiven Lebens zu gelangen.1

Geertz’ Verwendung einer Dramen- und Theatermetaphorik zur Untersuchung gesellschaftlicher Phänomene verlieh dem Text einen paradigmatischen Status innerhalb der Performance Studies, die sich in der von Richard Schechner vorgegebenen Ausrichtung eher als Sozial- denn als Geisteswissenschaft verstand.2

Während Geertz und vor ihm Milton Singer, ein Mitbegründer der so genannten ‚interpretativen‘ Ethnologie, noch dem Konzept des Textes verhaftet blieben, wählte der Ethnologe Victor Turner einen anderen Weg: Sein Konzept des sozialen Dramas sowie seine Studien zum Ritual bereiteten den Boden für die Performance Studies und verstärkten die Bande zwischen Ethnologie und der neuen Disziplin nachhaltig. Dwight Conquergood, ein in den Performance Studies arbeitender Ethnologe, bezeichnet Turner sogar als den „undisputed founding father“ der performativen Wende innerhalb der Ethnologie. Im Zeichen dieser Wissenschaftsgenealogie wird Geertz lediglich die Rolle des „influential in-law“ zugebilligt, „having married into the ‚culture as performance‘ family from the powerful ‚culture as text‘ clan.“3 Natürlich gibt es signifikante Differenzen, die auch den grundlegenden Unterschied zwischen Kunst- und Sozialwissenschaft markieren: Beim Hahnenkampf geht es im Gegensatz zur Kunst schließlich um etwas: für die Hähne um ihr Leben, für die menschlichen Teilnehmer um ihr Geld, wie die komplexe Beschreibung des Wettsystems deutlich macht.

Ob Hahnenkampf, Hochzeit oder hinduistisches Ritual: Dichte Beschreibungen gehen von einem örtlich und kulturell klar definierten, geradezu ‚umhegten‘ performativen Phänomen aus, um es dann in eine semantische Beziehung zu dem es bestimmenden Kulturgefüge zu setzen. Es gilt – wenn man es so will – das Prinzip der raumzeitlichen Kontiguität. In diesem engen Geflecht besteht auch die Affinität zur theaterwissenschaftlichen Aufführungsanalyse, die von einer Kopräsenz von Zuschauern und Darstellern ausgeht. Der Hahnenkampf-Essay von Geertz erschien Anfang der 1970er Jahre, Milton Singers Arbeiten über Cultural Performance ein Jahrzehnt früher,4 Victor Turners einschlägige Arbeiten in den 1970er und 1980er Jahren.5

Wenn wir heute die Beziehung zwischen Theater und Ethnologie betrachten wollen, müssen wir selbstredend an die aktuellen Ansätze der Ethnologie anknüpfen. Dem Thema der Tagung folgend, geht es darum, eine theaterfremde Wissenschaft, die Ethnologie, auf den Gegenstand ‚Theater‘, vor allem auf die interkulturell bzw. global erweiterten Spielformen von Theater zu applizieren. Meine Überlegungen hierzu gehen von drei ‚Wenden‘ innerhalb der Ethnologie aus, die das frühere Modell, wenn nicht in Frage stellen, so doch methodologisch und epistemologisch neu konturieren.

Die erste Wende heißt ‚multi-sited ethnography‘ und steht vor allem mit einem Aufsatz von George Marcus aus dem Jahr 1995 in Verbindung: „Ethnography in/of the World system: The Emergence of Multi-Sited Ethnography“. Anstelle einer Perspektive, die sich einem einzigen Ort widmet – „intensively-focused-upon single site of ethnographic observation and participation“ – tritt ein Fokus auf multiple, oft geographisch entfernte Lokalitäten, die mit einander in Verbindung stehen.6 Der von Marcus als „world system“ betitelte Begriff signalisierte eine Auseinandersetzung mit Globalisierung und dem Befund, dass die Kulturen, für die sich die Ethnologie üblicherweise interessiert, nicht mehr dort sind, wo sie hätten sein sollen bzw. manchmal dort sind, aber auch woanders. Der Dorfbewohner aus Kerala ist ein Gutteil des Jahres in den Golf-Staaten als Wanderarbeiter unterwegs, der junge Samoaner versucht sein Glück als Rugby-Spieler in Japan. Mit anderen Worten fordert Marcus, die Ethnologie müsse methodisch und theoretisch auf die von Arjun Appadurai Anfang der 1990er Jahre beschriebenen „five dimensions of global cultural flow (…) ethno-, media-, finance-, techno- und ideocapes“ reagieren:

These landscapes thus are the building blocks of what (extending Benedict Anderson) I would like to call imagined worlds, that is, the multiple worlds which are constituted by the historically situated imaginations of persons and groups spread around the globe.7

Die multiplen Welten der kulturellen Globalisierung stellen die Ethnographie vor besondere Herausforderungen angesichts deren „committed localism“: „Ethnography is predicated upon attention to the everyday, an intimate knowledge of face-to-face communities and groups.“8 Der Fokus auf das Lokale verbindet die Ethnologie mit der Theaterwissenschaft, die ebenfalls einem ‚committed localism‘ verpflichtet ist, und zwar in Form von ‚face-to-face-communication‘ und Gemeinschaftsbildung, die beispielsweise Erika Fischer-Lichte in ihrer Ästhetik des Performativen9 vielfach beschrieben hat.

Wie soll sich aber die Theaterwissenschaft neu positionieren, wenn auch im Theater die gleichen Bedingungen der multi-sitedness vorherrschen wie von Marcus beschrieben?

Multi-sited research is designed around chains, paths, threads, conjunctions, or juxtapositions of locations in which the ethnographer establishes some form of literal, physical presence, with an explicit, posited logic of association or connection among sites that in fact defines the argument of the ethnography.10

Um diesen Pfaden, Verbindungen und Schnittstellen gerecht zu werden, schlägt Marcus eine andere Vorgehensweise vor: ganz im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour heißt es, Dingen, Geschichten, Metaphern und Menschen zu folgen: „Strategies of quite literally following connections, associations, and putative relationships are thus at the very heart of designing multi-sited ethnographic research.“11

Die zweite Wende betrifft die Form der wissenschaftlichen Repräsentation und Präsentation, die auch ethische und ideologische Implikationen hat. Dahinter steht eine von der postkolonialen Theorie formulierte Fundamentalkritik an den Modi wissenschaftlicher Wissensaneignung und -darstellung, die auf eine Verfestigung kolonialer Verhältnisse hinausläuft. Wie kann man die alten, der kolonialen Weltanschauung inhärenten Dichotomien wie eigen/fremd, them and us usw. überwinden? Deshalb fragt der Ethnologe und Theaterwissenschaftler Dwight Conquergood:

What are the rhetorical problematics of performance as a complementary or alternative form of „publishing“ research? What are the differences between reading an analysis of fieldwork data, and hearing the voices from the field interpretively filtered through the voice of the researcher?12

Dies führt schließlich zu der Überlegung, die man als eine Art performativer Wende innerhalb der Ethnologie bezeichnen könnte, die aber analog auf die performance studies zurückwirkt: „What about enabling the people themselves to perform their own experience?“13 Diese wohl radikalste Perspektive wirft grundlegende epistemologische Fragen auf hinsichtlich der Darstellung wissenschaftlichen Wissens und der Trennung zwischen Subjekt und Objekt sowie zwischen dem wissenschaftlichen Beobachter und dem Gegenstand dieser Beobachtung. Kann eine Aufführung herkömmliche, ‚objektive‘ Formen wissenschaftlichen Schreibens ersetzen oder zumindest als ebenbürtig betrachtet werden? Dieser Vorschlag fügt sich ein in allgemeinere Überlegungen zu Multivokalität, Dialogizität und Selbstreflexion, die alle Geistes- und Kulturwissenschaften in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren erfassten.14

Die dritte Wende betrifft die Lokalität der Ethnographie selbst und vor allem das Verhältnis zwischen ‚fremd‘ und ‚eigen‘. In seinem Aufsatz „Feld ohne Ferne: Reflexionen über ethnologische Forschung zu Hause – in Hamburg zum Beispiel“, stellt der Münchner Ethnologe Martin Sökefeld fest: „Ethnologie [ist] nicht mehr die Wissenschaft vom ‚Fremden‘ oder ‚kulturell Anderen‘, sondern die Wissenschaft von wechselnden Positionierungen und Perspektiven.“15 Zunehmend werden die Kultur(en) vor Ort zum Untersuchungsgegenstand, was Sökefeld als das Feld ohne Ferne bezeichnet.

Die Frage ist nun, ob und inwiefern eine theaterethnographische Forschung von diesen Ansätzen profitieren und sie anwenden kann? Das möchte ich an zwei Beispielen durchspielen, die jeweils andere Perspektiven beleuchten: an der Arbeit des sehr bekannten Kollektivs Rimini Protokoll und an einem weniger bekannten, internationalen Theaterprojekt, Hunger for Trade, das zwischen 2013 und 2014 am Schauspielhaus Hamburg und in mehreren Ländern realisiert wurde.

Theater und Ethnologie

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