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I. Die Erfindung der ‚Zigeuner‘

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Im 15. Jahrhundert, knapp bevor sich das europäische Subjekt soweit stabilisiert und emanzipiert hatte, dass es seine Vertreter ausschicken konnte, um neue Länder und Kontinente zu erschließen, wird es selbst heimgesucht und in seiner Identität befragt. Dass man mit dem Fremden und Ungearteten rechnen muss, ist zwar durchaus im Bewusstsein verankert, sein Ort war aber bis dato das Grenzland respektive die unbekannte, unentdeckte Ferne, seine Gestalt mehr oder weniger fabelhaft: Hic sunt dracones. Nun aber erscheint das Fremde nicht nur unvermittelt im eigenen Hoheits- und Wissensgebiet, es zeitigt zudem unverkennbar die Gestalt des Menschen. Rom-Völker und weitere Fahrende tauchen vor den Toren der Städte auf und ziehen infolge durch ganz Europa, wie die Chroniken zahlreicher mittelalterlicher Städte belegen. 1420 kommt es zu einer ersten Konfrontation in Brüssel, 1427 folgt Paris, 1428 werden sie in Nijmegen gesichtet, 1444 stehen sie vor den Toren Bolognas, Forlis und Lwows, für 1447 ist ihr Erscheinen in Barcelona und für 1457 in Mailand belegt.1 Da sie nicht in kriegerischer Absicht kommen und nicht mit Gewalt Einlass in die Städte begehren, erwecken diese vagabundierenden Fremden vor allem Verwunderung, der durch zweierlei Deutungsmuster begegnet wird: Entweder werden die Fremden in Analogie zu der aus Ägypten flüchtenden heiligen Familie gesetzt und verehrt oder aber sie werden aufgrund ihrer Fremdheit und Freiheit als Seher und Späher gedeutet.2

Das Interesse der städtischen Gesellschaften und ihrer Chronisten richtet sich vor allem auf die Art und Weise ihrer Repräsentation, auf ihre seltsame Kleidung, ihr befremdliches Verhalten. In ihren Einträgen wird weniger eine Andersheit reflektiert, denn eine Differenz konstruiert, die primär über Äußerlichkeiten zu Tage tritt, da sich weder Schrift noch Religion als Unterscheidungsmerkmale beiziehen lassen. Die ersten Chronisten bleiben in ihrem Urteil über diese Fremden indes neutral bis vage positiv. Sie betonen die von König Sigismund in einem Schutzbrief gewährten Sonderrechte der „Secanos“3 und vermessen das „gens ciganorum“4 vor der bekannten mittelalterlichen Ständeordnung und Hierarchie. Dieser entsprechen und entziehen sich die Fremden zugleich: Einerseits gibt es auch unter ihnen Fürsten und Grafen, Ritter und Fußvolk, andererseits wird ihr Umherschweifen mit dem Abfall vom Glauben und ihrem freizügigen Verhalten begründet. Der Blick in diese frühen Dokumente spiegelt somit ein ambivalentes Bild dieser Fremden respektive ihrer Einschätzung durch die Chronisten wider, was sich unter anderem damit erklären lässt, dass weder eine eindeutige geo- noch eine ethnographische Verortung und Identifikation dieser Fremden gelingt. Sie bleiben rätselhaft. Vielleicht sind sie Späher und Kundschafter des osmanischen Reiches, vielleicht Pilger aus Ägypten, die gezwungen sind, Buße zu tun – Mutmaßungen, die sich weder erhärten noch ausräumen lassen.

Während sich in den folgenden hundert Jahren durch mündliche Überlieferung die Zeugnisse über das Auftauchen dieser Fremden verdichten und sich das Wissen über ihre Eigenschaften, ihre Wesensart und ihr Verhalten konkretisiert, so verlieren sich die wenigen Anhaltspunkte zu ihrer Verortung vollends. Die Fremden gelten nun als ein „Auswurf aller Nationen“, „‚erfahren‘ in allen Sprachen“, der „ringsumher in allen Provinzen“ Männer und Frauen in seine Gemeinschaft aufnimmt.5 „Damit setzt sich“, so Reimar Gronemeyer, der diese Quellen bereits in den 1980er Jahren zusammengetragen, übersetzt und kommentiert hat, „ein weitaus aggressiverer Ton gegenüber den Zigeunern durch, die nicht mehr als Fremde gesehen, sondern zu Kriminellen gestempelt werden.“6 Nicht verort- und klassifizierbar zu sein erweist sich als eine markante Dysfunktionalität im Austausch mit den spätmittelalterlichen Gesellschaften Europas, deren Subjekte sich mehr und mehr über geographische Spezifika ihres Lebensraums und sprachliche Eigenheiten ihrer Region zu definieren beginnen und deren Gemeinschaft sich mehr und mehr auf topologische Parameter gründet,7 – deren Begriff vom Menschen sich also zunehmend „nach dem Volk und nicht nach dem Individuum“ richtet.8 Diese Dysfunktionalität wird für beide Seiten zum Ausgangspunkt für die fiktionale Konstruktion einer spezifischen Andersheit, die sich strategisch verwerten lässt und der diese Fremden von nun an nicht mehr entkommen werden, auch dann nicht, als im 19. Jahrhundert durch sprachwissenschaftliche Forschungen erste belastbare Hinweise zur ethnographischen Herkunft dieser, mittlerweile seit Jahrhunderten in Europa lebenden Menschen auftauchen.

In dem Prozess, den die Begegnung mit den Rom-Völkern in Gang setzt, treten die konkreten, realen Individuen und ihre Bedürfnisse rasch in den Hintergrund. Folgt man den aktuellen Studien, dann dient das Interesse an ihnen vor allem dem Zweck, eine Negativ-Folie für das Eigene herzustellen, wobei den realen Menschen eine imaginäre Fremdheit übergestülpt wurde, „die nach Gutdünken plastisch modelliert werden“9 und dem europäischen Subjekt in Form eines „entwirklichte[n] und entzeitlichte[n] Kollektiv[s]“ gegenüber gestellt werden konnte.10 Die Menschen, die den Spiel- und Handlungsraum der europäischen Bürger betreten, werden in der Begegnung zu einer Projektionsfläche, die primär der Selbstkonstitution eines urbanen, abendländischen Subjektes dient. Klaus-Michael Bogdal spricht daher auch von der Erfindung der ‚Zigeuner‘:

Die Erfindung der ‚Zigeuner‘ durch große Erzählungen […] stellt von Beginn an die Kehrseite der Selbsterschaffung des europäischen Kultursubjekts dar, das sich als Träger weltzivilisatorischen Fortschritts versteht. Zugleich ist sie die radikale Reinigung des Selbstbildes von dem, was es vermeintlich bedroht.11

Deutlich wird dieser Sachverhalt unter anderem in der Benennung dieser Fremden als ‚Zigeuner‘ – einer Fremdbezeichnung, deren Herkunft nach wie vor ungeklärt ist und die sich aus dem mittelalterlichen cingari oder gens ciganorum ableitet.12 Diese Etymologie führt die Bezeichnung auf das bulgarische acigane zurück,13 das über das Ungarische ins Deutsche migriert sein soll und das wiederum mit dem griechischen athinganoi in Verbindung gebracht wird, dem Namen für eine gnostische Sekte.14 Weitere Mutmaßungen bringen diese Fremdbezeichnung mit dem arabischen samerki (Blechschmied) oder dem persischen zang (Blech, Eisen) in Verbindung. Darüber hinaus gibt es zudem jene Bezeichnungen, die auf Landstriche verweisen wie Bohémiens, Ägypter/Gypsies oder Tataren.15 In frühen Quellen findet sich zudem häufig der Begriff Heiden als Synonym zur Beschreibung dieser Fremden, und im 18. Jahrhundert erfährt die Bezeichnung ‚Zigeuner‘ als polizeilicher Ordnungsbegriff eine weitere Resemantisierung.16 Bei der Suche nach einem adäquaten Namen durchkreuzen einander etymologische Mutmaßungen und gesellschaftspolitische Markierungen. An die Stelle der neugierigen Erforschung und Erkundung der Rom-Völker und ihrer Angehörigen tritt das Bestreben, die Fremden als eine homogene Gruppe zusammenzufassen, ihre bio- als auch ethnographischen Unterschiede zu nivellieren und eine Projektionsfläche herzustellen, die für Semantisierungen jeglicher Art herangezogen werden kann.17

Die Bezeichnung der Fremden als ‚Zigeuner‘ ist somit weniger eine Definition, sondern nachgerade das Gegenteil davon. Aus diesem Grund soll ‚Zigeuner‘ im Folgenden als Maske und noch spezifischer, als Figuration des Fremden verstanden werden.18 Die Ausbildung einer Figuration, die Maskierung des Fremden ist indes nicht nur ein literarisches und fiktionales Verfahren, das sich auf schriftliche Quellen und Diskurse stützt, sondern ein originär theatrales, dessen Mechanismen und Rahmenbedingungen erst in einer Aufführung so recht zum Tragen kommen. Dies erlaubt, die diskursanalytischen Befunde durch aufführungsanalytische Überlegungen zu erweitern und mit anderen Masken des Fremden und deren Aufführungen zu vergleichen. Ein weiterer Vorteil dieses methodischen Transfers liegt darin, dass durch die Prämisse der Ritual- und Performancetheorie auch der darunter liegende Körper einen Eigenwert – als widerständiger Träger und virtuoser Performer – zugestanden bekommt und in den Mittelpunkt der Analyse rückt. Die Begegnung und Auseinandersetzung mit den Rom-Völkern wird hierdurch nicht nur als ein Dialog über In- und Exklusion verstanden, sondern als eine triadische Verhandlung von Identitäten, wodurch die Differenz zwischen der Figuration, den Angehörigen der Rom-Völker und den urbanen, zentraleuropäischen Subjekten – zwischen Maske, Performer und Rezipient – herausgearbeitet werden kann. Eine derartige methodische Volte erlaubt auch, an jene postkolonialen Theorien anzuschließen, die der Essentialisierung von Eigen und Fremd eine Praxis der Hybridisierung gegenüberstellen, ohne indes diese grundlegende Unterscheidung vollends aufzugeben. Und sie betont den Stellenwert des Theaters und allgemeiner der Kunst, die eben jenen Raum der Hybridität paradigmatisch herzustellen vermögen: „Wer sich in ihm aufhält, der überschreitet die Fremdheit in Richtung einer Alterität, in der die kulturelle Differenz zugleich transzendiert wird.“19

Theater und Ethnologie

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