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Edit Kaldor
ОглавлениеDie Beziehungen zwischen Performativität in dem oben skizzierten, komplexen Sinne und einem (inter-)kulturellen Verstehen sollen im Folgenden am Beispiel der ungarisch-belgischen Theatermacherin Edit Kaldor dargelegt werden.1 Edit Kaldor wurde 1968 in Budapest geboren und emigrierte als Kind mit ihrer Mutter in die Vereinigten Staaten, nachdem sie zuerst ein halbes Jahr in einem österreichischen Flüchtlingslager verbracht hatte. Sie studierte an der Columbia Universität in New York, am University College in London und am DasArts in Amsterdam und arbeitete mehrere Jahre als Dramaturgin und Videokünstlerin für und mit Peter Halasz (Squat theater/Love theater New York), bevor sie mit eigenen Theaterarbeiten bekannt wurde. Ihr Leben und Werk spielen sich zurzeit zwischen Brüssel und Amsterdam ab. In ihren manchmal multimedialen und interdisziplinären Theaterproduktionen, die sehr oft die Grenzen zwischen Fiktivem und Faktischem abtasten und mit dem Genre des Dokumentartheaters spielen, ist immer wieder die Problematik der Kommunikation und des Verstehens zentral, wobei Kaldor selbstverständlich hin und wieder aus ihrer autobiographischen Erfahrung als politischer Flüchtling und Immigrantin schöpft. Und zu dieser Erfahrung gehört nicht zuletzt die Anders- und Fremdsprachigkeit, mit der sie in den verschiedenen kulturellen und sprachlichen Kontexten, in denen sich ihr Leben und ihre Bildung vollzogen haben, konfrontiert worden ist. Leitmotivisch kehrt in Interviews ihre komplizierte Beziehung zur (Mutter-)Sprache zurück; diese wird nicht nur auf die Tatsache zurückgeführt, dass sie so oft in ihrem Leben den sprachlich-kulturellen Kontext gewechselt habe, sondern ganz besonders auch darauf, dass sie, da sie mit dreizehn schon die Heimat verlassen habe, sich in keiner Sprache, auch nicht in der Muttersprache, zuhause oder sicher fühle und keine der von ihr benutzten Sprachen wirklich beherrsche.2
Das nicht-evidente Verhältnis zwischen Sprechen, Kommunizieren und Verstehen sowie die damit (d.h. mit Sprache(n), Fremdwörtern usw.) verknüpften und daraus resultierenden affektiven Aspekte bilden einen roten Faden in Edit Kaldors Theaterproduktionen. Mit ‚nicht-evident‘ ist freilich nicht nur das negative Moment der Kritik rational fundierter Kommunikations- oder aber ‚pfingstlicher‘ Verständigungsideale gemeint; Kaldors Theater lotet vor allem den Raum nicht unbedingt auf rigiden Erkenntnisidealen basierender Verständigungsmöglichkeiten zwischen sturer Skepsis und allzu hoch angesetzten Erwartungen aus. Sie hat sich gewissermaßen zu einer Expertin in den hermeneutischen Möglichkeiten eines Nicht-so-richtig-Verstehens entwickelt.
Ihre theatralischen Narrative übersteigen allerdings die sozial-politische Thematik der Emigration und inszenieren Kommunikations- und Verständigungsformen, -modi und -medien – Internet und soziale Medien sind öfters Motive in ihren Produktionen oder werden als reale Mittel (und nicht bloß als Requisiten) eingesetzt – um ethische und existentielle Fragestellungen und Erfahrungen wie Isolation, Unverständnis, Identitätskrisen, die Suche nach tragfähigen Lebens- und Beziehungsformen usw. anzuschneiden.3 Die Aufführungsformen, in denen solche Themen dargestellt werden, lassen sich am besten als theatralisierte künstlerische Forschungs- und Bildungsprozesse begreifen, in denen nicht nur interkulturelle, sondern auch intrakulturelle Fremdheits- oder Differenzerfahrungen erprobt werden und Evidentes durch Verunsicherungsstrategien ‚verfremdet‘ wird. Kaldor untersucht sehr gerne die komplexen Beziehungen zwischen Theater/Kunst und Wissen bzw. zwischen Wissen und Macht, sie führt Experimente vor und aus, die aber selten zu eindeutigen Erkenntnissen führen, sondern vielmehr die trügerischen Fallstricke und Aporien des Verstehen-Wollens des Anderen ‚exponieren‘.
Das bedeutet allerdings, dass das Publikum fast immer in ihre Inszenierungen eingebunden wird, freilich nicht bloß in der Rolle des ‚teilnehmenden Beobachters‘, der frei zwischen den Positionen des Teilnehmers und Beobachters schalten und letzten Endes den übergeordneten Standort des Erkenntnissubjekts zurückgewinnen kann. Kaldors Produktionen sind sehr oft darauf angelegt, die Zuschauer zu Komplizen einer scheinbar voyeuristischen Konfiguration zu machen, in der sie sich am Ende selber als Objekte, allenfalls als unwissende oder, durch die Konfrontation mit den (oft sehr materiellen, physischen) Grenzen des Erkennens bzw. Erfahrens, nur beschränkt oder bruchstückhaft wissende Subjekte wiederfinden. Am radikalsten geschah dies in Woe (2013), in dem vier Teenager das Publikum indirekt und schrittweise in das Tabu der Kindesmisshandlung, des Missbrauchs und der Vernachlässigung einführten. Die von der Traumaforschung schon ausgiebig erforschte (Un-)Erzählbarkeit des Traumas4 wurde hier zum Ausgangspunkt eines quasi-wissenschaftlichen und therapeutischen Experiments, das weniger auf die (unmögliche) Enthüllung des Traumas als vielmehr auf die (Un-)Möglichkeitsbedingungen und Grenzen des Nachempfindens von physischem und psychischem Leid eines Jugendlichen durch Erwachsene zielte; deren Einbildungskraft und Erinnerungsvermögen wurden durch experimentelle Übungen und psychotechnische Spiele auf solche Weise stimuliert, dass wenigstens eine Art mentale Regression zustande kam, die den Zuschauer idealiter bis an die Grenzen der eigenen Jugendzeit und der damaligen Existenz- und Welterfahrung führte, freilich auch mit den Möglichkeiten und Grenzen der Erzählbarkeit eigener großer oder kleiner Traumata konfrontierte.
Die Selbstverständlichkeit, mit der man sich gerne und besten Willens dem Anderen und Fremden zuwendet, um ihn (sie) an den eigenen vertrauten Lebensformen zu messen, wird in Kaldors Vorstellungen auf eine solche Weise pervertiert, dass man sich ‚selbst‘ bzw. das eigene Leben am Ende dermaßen als bizarre und prekäre Kontingenz empfindet, dass sich jeder klare Begriff des Eigenen und des Fremden, des Normalen und der Ausnahme als obsolet herausstellt. Wissenschaftliche und hermeneutische Überlegenheit verwandelt sich allmählich in Verlegenheit, die aber nicht unbedingt zu einer radikalen Skepsis hinsichtlich Verstehens- und Verständigungsmöglichkeiten zu führen braucht. Die Illusionen über ein repräsentierbares Wissen um eigene oder andere bzw. fremde Lebenserfahrungen und -formen sollen durch eine differenziertere Haltung ersetzt werden, die – so ließe sich Kaldors Anliegen (oder besser: ihr Glauben) mit Derrida umschreiben – sich in den Bruch wagt, der einem genuinen Sichannähern und Begegnen und einem Verstehen des Anderen wesentlich vorangeht: der Bruch des Bezugs, der auch der Bruch als Bezug ist.5 Dieser Bruch als Bezug lässt sich begrifflich kaum denken/sagen, er braucht vielleicht ein ästhetisches Dispositiv, eines wie das Theater von Kaldor, in dem Beziehungs- und Beobachtungsdramaturgien erprobt werden, die die übliche performative Beziehung zwischen Wissen und Macht bzw. Willen zum Verstehen unterbrechen und dadurch eine andere Beziehung wenigstens als Möglichkeit erahnen lassen. Diese andere Beziehung scheint eher auf Zulassen und Sich-ereignen-Lassen, d.h. auch auf Vertrauen, Gelegenheit und Chance abzuzielen als auf die Performanz eines gelungenen Verstehen-Wollens und Vorstellens des Anderen bzw. Fremden.