Читать книгу Handbuch des Deutschen in West- und Mitteleuropa - Группа авторов - Страница 46
Оглавление3 Geschichtliche Gegebenheiten
3.1 Vor 1919
Das, was man heute Belgien nennt, entstand nach den Religionskriegen 1648, als die damaligen protestantischen Niederlande ihre Unabhängigkeit errangen und den flämischen und südlichen Teil weiteren Besetzern überließen. Damals gehörte der Norden der deutschsprachigen Territorien der heutigen DG hauptsächlich zu Limburg und der südliche Teil zu Luxemburg (Hecking 1875/21977: 38). Die Regionen, die einmal Belgien werden sollten, standen nacheinander unter spanischer, österreichischer, französischer und schließlich bis 1830 unter niederländischer Herrschaft, wobei ein nicht unwichtiger Teil, das Fürstbistum Lüttich, bis 1789 dem Heiligen Römischen Reich angehörte. Ohne auf die vielen Herrschaftswechel der Gebiete einzugehen, sei ein Datum der jüngsten Geschichte mit besonderer Wichtigkeit herausgegriffen: Nach der Niederlage Napoleons wurden 1815 auf dem Wiener Kongress diese Territorien, Eupen-Malmedy-Sankt Vith genannt, die zum französischen Departement „Ourthe“ gehörten, Preußen zugeschlagen, das französischsprachige Malmedy einbegriffen (Maxence 1951: 15). Als Belgien sich 1830 von den Niederlanden loslöste und ein selbständiger Staat wurde, gehörte die deutschsprachige Minderheit also nicht dazu – wohl aber das heutige Großherzogtum Luxemburg, das Areler Land und die sogenannten altbelgischen Gemeinden um die Dörfer Beho und Bocholz.
Der unabhängige belgische Staat zählte zirka 250.000 germanophone Einwohner (Bergmanns 1986: 12), darunter bildeten die luxemburgischen Dialekte die größte Gruppe. Im Jahr 1838 kam es zur endgültigen Einigung über die territoriale Teilung zwischen Belgien und den Niederlanden.
Es war das Jahr, als das Großherzogtum Luxemburg als selbständiger Staat geschaffen wurde: Belgien trat einige Gebiete wie Südlimburg an die Niederlande ab und behielt nur einige germanophone Gemeinden im Areler Land (Witte 2005: 100–108), die Letzeburgisch sprachen, sowie die sogenannten altbelgischen Gemeinden. So ging natürlich auch die Bedeutung der deutschen Sprache stark zurück, denn die Gebiete der heutigen Deutschsprachigen Gemeinschaft mit Malmedy lagen in Preußen.
3.2 Vom Versailler Vertrag bis zum Zweiten Weltkrieg
Die Bevölkerung der heutigen DG erlebte den Ersten Weltkrieg also auf deutscher Seite. Die Denkmäler in den Dörfern, die an die Gefallenen erinnern, zeigen heute auf belgischem Boden die Namen der Soldaten, die für Deutschland gekämpft haben und gefallen sind.
Das Datum 1919 ist dennoch entscheidend, denn durch den Versailler Vertrag wurden die Gebiete Eupen-Malmedy-St.Vith Teil des belgischen Staatsgebiets. Durch die Volksbefragung von 1922 wurde dies bestätigt. Heute sind sich fast alle einig, dass es damals eine Scheinbefragung war. Wer nämlich nicht mit der Zugehörigkeit zum belgischen Staat einverstanden war, musste sich namentlich in eine Liste eintragen, was natürlich äußerst riskant war, da jeder mit Vergeltungsmaßnahmen rechnete. Kaum jemand hat also gegen die belgische Integration protestiert (Lejeune 2005: 27). Somit hatte Belgien eine neue deutschsprachige Minderheit von damals zirka 50.000 Personen.
Der von Belgien eingesetzte Generalkommissar Baltia verfügte 1920, dass alle deutschen Bestimmungen, die den alleinigen Gebrauch der deutschen Sprache vorschreiben, aufgehoben werden. Seitdem waren Deutsch und Französisch Amtssprachen in Neubelgien (Henkes 2012: 8). Die auf Französisch formulierten Gesetze wurden durch einen Übersetzungsdienst ins Deutsche übersetzt.
So wie bis 1919 eine „Germanisierung“ der Bevölkerung von Malmedy stattgefunden hatte, erleben die Neubelgier jetzt eine Romanisierung. Deutsch wurde zweitrangig, da die maßgebende Gesetzgebung auf Französisch abgefasst war. Wer also in dieser Zeit gesellschaftlich weiterkommen wollte, musste die französische Sprache erlernen. Es gab einen Druck, seine Denkweise zu ändern; gleichzeitig wurde der deutschen Sprache Rechnung getragen.
Im Areler Land war indessen der Gebrauch der deutschen Sprache auf dem Rückzug. In den 1930er Jahren drückte die Bevölkerung sich dort lieber auf Französisch aus, obwohl das Moselfränkische nebenbei noch lebendig blieb (Mitteilung meines Vaters, der dort aufgewachsen ist). Die Hauptursachen scheinen in den Kriegsgeschehen des Ersten Weltkriegs zu liegen, denn die Zivilbevölkerung hatte in diesen Dörfern stark gelitten (Hinrichtung von 125 Zivilisten in dem nahe gelegenen Rossignol am 22. August 1914).
Nach 1933 entstanden dagegen im sogenannten Neubelgien wie in anderen Ländern Bewegungen, wo der Ruf „Heim ins Reich“ zu hören war. Ein Teil der Bevölkerung verfolgte mit großem Interesse den Aufstieg der Nationalsozialisten und übernahm, in der „Heimattreuen Front“, die nationalistischen und ideologischen Vorstellungen der NSDAP. Heute wird dieses Thema immer mehr aufgearbeitet, dennoch ist zahlenmäßig nicht klar, inwieweit die ostbelgische Bevölkerung sich eine Integration ins Hitler-Deutschland wünschte.
3.3 Der Zweite Weltkrieg
Als Hitler Belgien nach wenigen Tagen erobert hatte, erließ er am 18. Mai 1940: „Die Kreise Eupen-Malmedy werden annektiert“. Dies bedeutete für die jungen Männer der Region, als auch die Staatszugehörigkeiten entsprechend angepasst wurden, dass sie in die Wehrmacht eingezogen wurden und für Deutschland zu kämpfen hatten. So änderten manche in kurzem Zeitraum gezwungenermaßen die Uniform, nachdem sie vorher in die belgische Armee eingezogen worden waren. Sie kamen in neuer Uniform mit den deutschen Truppen an allen Fronten zum Einsatz. Später im Verlaufe des Krieges sind die meisten „Zwangseingezogenen“ an die Ost-Front versetzt worden, wo eine große Anzahl der ostbelgischen Männer fiel. Andere meldeten sich freiwillig bei der Schutzstaffel (SS) oder der Sturmabteilung (SA), was natürlich nach Kriegsende ganz anders als die Rolle der Zwangseingezogenen eingestuft wurde, da in gewissen Fällen die Todesstrafe gegen ehemalige SS-Mitglieder ausgesprochen wurde.
Wie die Zivilbevölkerung 1944 die Ardennenoffensive erlebte, möchte ich hier an einem Bericht aus dem Dorf Büllingen illustrieren:
Ende Januar 1945 wusste man, dass der Amerikaner bald wieder ins Dorf einziehen würde. Die Deutschen schienen aber nicht so leicht das Feld zu räumen. Frau Johann Mertens-Schmitz berichtet: ‚Die Deutschen wollten uns mit zurücknehmen. Wir wehrten uns sehr dagegen. Einem Deutschen, der mich hierzu aufforderte, sagte ich: ‚Dann können sie mich auch gleich hier an der Kirchhofsmauer erschießen. Es ist doch überall Krieg.‘ Ein SS-Soldat war oben im Haus in einem Schlafzimmer mit seinem MG in Stellung gegangen. Es war der 29. Januar. Während einer kurzen Feuerpause hörten wir ihn rufen ‚Los Amis, nun kommt doch!‘ Nach einiger Zeit hatten sich die Amerikaner an das Haus herangearbeitet und es vollends umzingelt. Sie forderten alle Insassen auf herauszukommen. Der MG-Schütze war inzwischen zu uns in den Keller geflüchtet. Nach längerem Bitten und Flehen ergab er sich und stellte sich den Amerikanern. Auch wir Zivilisten wurden aufgefordert, das Haus zu verlassen und mussten mit den Gefangenen draußen im Schnee stehen. Da in der Nacht das Dorf mit Phosphorgranaten beschossen worden war, sahen wir, als wir draußen im morgendlichen Halbdunkel standen, überall Brände schwelen. Sogar der Schnee schien zu brennen. Es war ein furchtbarer Anblick. Anschließend wurden wir zum Verhör in das Haus Legros gebracht. (Geschichtsverein „Zwischen Venn und Schneifel“ 1969: 107)
Die deutsche Annexion und die anschließende Niederlage haben nachhaltige Spuren in der ostbelgischen Bevölkerung hinterlassen. Zum zweiten Male gehörte die ostbelgische Bevölkerung zu den Verlierern.
3.4 Vom Zweiten Weltkrieg bis 1963
Nach Kriegsende kamen die Bezirke Eupen-Malmedy nach Belgien zurück. Die örtlichen „deutschgesinnten“ Machthaber wurden ersetzt. So kamen Lehrer und Gendarmen aus dem Areler Land nach Eupen-Malmedy: Sie waren der Sprache mächtig und konnten nicht verdächtigt werden, Nationalsozialisten gewesen zu sein. Es gab eine Periode der Säuberung, wobei allerdings die Zwangssoldaten der Wehrmacht, die vorerst verhaftet wurden, sehr bald entlassen wurden. (Lejeune 2005: 187)
Die ostbelgische Bevölkerung passte sich wieder einmal an. Der belgische Staat war damals noch ein Zentralstaat mit neun Provinzen. Das Gebiet Eupen-Malmedy-St.Vith war Teil der Provinz Lüttich.
Langsam lebten sich jedoch Flamen und Wallonen auseinander, was 1962/1963 durch ein Sprachengesetz besiegelt wurde. Der Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten wurde gesetzlich geregelt, und so entstand de facto nebenbei auch ein deutsches Sprachgebiet. Es entstanden zum ersten Mal administrative Sprachgrenzen zwischen Flamen, Wallonen und Deutschsprachigen, wobei Brüssel als zweisprachig galt.
3.5 Die verschiedenen Staatsreformen in Belgien
Belgien geriet in eine Transformationsphase mit mehreren Gesetzesänderungen, um die Befugnisse, die vom Zentralstaat ausgeübt wurden, an andere Einheiten zu übertragen. Diese Entwicklung hat Belgien nach und nach in einen Föderalstaat umgewandelt. Gegenwärtig scheint diese Transformation keineswegs zu Ende zu sein.
Wir wollen kurz auf die Staatsreformen eingehen, die zu einer Veränderung des Status der Deutschsprachigen Gemeinschaft geführt haben.
Die Staatsreform von 1968–1973
Das Jahr 1968 ist ein Krisenjahr: Die alte Universität Löwen (1425 gegründet) wird geteilt, und der frankophone Teil muss die Stadt, die auf flämischem Territorium liegt, verlassen. So entstand Louvain-la-Neuve, eine auf dem Reißbrett geplante Stadt, in der sich der französischsprachige Teil der Universität seitdem niedergelassen hat. Gleichzeitig bekommen Flamen, Wallonen aber auch die Deutschsprachigen eine kulturelle Autonomie, und so wird die deutsche Kulturgemeinschaft geschaffen. Die erste Sitzung des neu geschaffenen Rats (Rat der deutschen Kulturgemeinschaft) findet am 23. Oktober 1973 statt.
Die Zweite Staatsreform von 1980–1983
Die Gemeinschaften bekommen autonome Dekretbefugnisse in kulturellen und personenbezogenen Angelegenheiten sowie in den zwischengemeinschaftlichen und internationalen Beziehungen; der Staat gibt diese Befugnisse unwiderruflich ab. Für die Deutschsprachigen bedeutet dies den effektiven Anfang einer nicht mehr vom belgischen Staat bestimmten Politik. Die politischen Parteien können jetzt vor Ort einen politischen Kurs ansteuern, der von „nationalen“ Interessen abgekoppelt ist.
Das Gesetz vom 31. Dezember 1983 ist in dieser Hinsicht entscheidend: Am 30. Januar 1984 wird der Rat der Deutschsprachigen Gemeinschaft geschaffen. Außerdem entsteht die erste Exekutive, nämlich eine Regierung mit insgesamt drei Ministern.
Die Dritte Staatsreform von 1988–1990
Für Ostbelgien stellt diese Staatsreform, bei der die Befugnisse in Sachen Unterrichtswesen übertragen werden, einen weiteren entscheidenden Schritt dar. Seit dieser Reform ist die Deutschsprachige Gemeinschaft autonom in der Regelung ihres Unterrichtswesens. Die Finanzierung verläuft allerdings so, dass der Zentralstaat der Gemeinschaft jedes Jahr eine Summe zur Verfügung stellt, die diese dann ausgeben kann, wie sie es autonom bestimmt. Dies führte zum Ausbau einer Verwaltung. Durch Dekrete regelt die Gemeinschaft die jeweiligen Aspekte wie die Rahmenpläne, die Lehrerausbildung usw., wie sie es demokratisch wünscht.
Es folgten weitere Staatsreformen, von denen die Deutschsprachige Gemeinschaft ebenfalls – aber in geringerem Maße – betroffen war. Diese Punkte werden, wenn nötig, in den folgenden Abschnitten erörtert.