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1. Veränderung als raison d’être helfender Berufe

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Im Zentrum helfender Berufe wie Medizin, Physiotherapie, Psychotherapie, Beratung und Coaching steht die professionelle Interaktion zwischen Expert*innen und Klient*innen, welche die Klient*innen dabei unterstützen soll, „ihre physische, psychische, intellektuelle und/ oder emotionale Verfassung zu verändern, zu stärken oder Probleme im Zusammenhang damit zu lösen“ (Graf und Spranz-Fogasy 2018b, s. auch Miller und Considine 2009). Veränderung ist der primäre Zweck helfender Berufe, er strukturiert die helfende Interaktion und macht sie von anderen Interaktionsformen unterscheidbar. Der kommunikative Prozess, der Veränderung entweder begleitet (etwa in der Medizin und Physiotherapie) oder ursächlich hervorbringen soll (wie in Therapie, Beratung oder Coaching), ist sprachwissenschaftlich auch bereits mehr oder weniger intensiv erforscht worden (neuere Überblicke etwa bei Pick (Hrsg.) 2017 und Graf und Spranz-Fogasy 2018b, s. auch Graf, Sator und Spranz-Fogasy (Hrsg.) 2014; Busch und Spranz-Fogasy 2015). So wurden etwa einzelne Praktiken (z.B. Bercelli, Rossano und Viaro 2008; Antaki 2008; MacMartin 2008; Spranz-Fogasy 2010; Weiste und Peräkylä 2013), übergeordnete Formate und Mechanismen des Gesprächs (Voutilainen, Peräkylä und Ruusuvuori 2011; Bercelli, Rossano und Viaro 2013; Scarvaglieri 2013; Spranz-Fogasy 2014; Graf 2019) wie auch Prinzipien, an denen sich die Interagierenden orientieren (Ferrara 1994; Pain 2009; Pawelczyk 2011) detailliert beschrieben. Dieses Wissen über die die Interaktion prägenden Strukturen wurde jedoch nur vereinzelt mit dem Zweck helfenden Handelns, dem Auslösen hilfreicher Veränderungsprozesse auf Seiten der Klient*innen, in Beziehung gesetzt (aber siehe Voutilainen, Peräkylä und Rusuuvuori 2011; Voutilainen, Rossano und Peräkylä 2018; Pawelczyk und Graf (Hrsg.) under review). Ein Überblick über die Empirie von Veränderungskommunikation sowie ein systematisierender Zugriff auf dieses Phänomens fehlen bis dato.

Der Ursprung der modernen Veränderungsforschung liegt in der quantitativ-operierenden, psychologischen Erforschung der Wirksamkeit von Psychotherapie, welche sich ihrerseits in Orientierung an Effektivitätsstudien in der Medizin (nach dem Modell des Randomized Controlled Trial, RCT) entwickelt hat. Dort eingesetzte Verfahren wurden in der weiteren Entwicklung z.B. auch in der psychologischen Coaching-Forschung verwendet, wo ebenfalls quantitative Outcome-Studien die Forschungslandschaft prägen.

Die Wirksamkeit von helfender Kommunikation zu erforschen ist ein höchst komplexes Unterfangen: Bei Therapie, Coaching und anderen Formaten helfender Kommunikation handelt es sich nicht um physikalische Gegenstände, die man objektiv vermessen kann, sondern jeweils um ein Konglomerat an sozial und diskursiv konstruierten Handlungspraktiken, die jeweils individuell an die Bedürfnisse von Agent*innen und Klient*innen angepasst werden und sich in einem institutionell überformten Kommunikationsprozess wandeln. Veränderung bzw. Wirksamkeit von Kommunikation in helfenden Berufen wird insbesondere hinsichtlich Wirkfaktoren untersucht. Im Generic Model of Psychotherapy von Orlinsky, Ronnestad und Willutzki (2004), das als transtheoretischer Rahmen relevante Ergebnisse in Bezug auf den Zusammenhang von therapeutischem Prozess und Wirksamkeit integriert, wird hinsichtlich der das Ergebnis beeinflussenden Wirkvariablen zwischen Input-, Prozess- und Kontextvariablen unterschieden. Inputvariablen umfassen, was Agent*in und Klient*in/Patient*in in den Prozess einbringen. Dies können z.B. Persönlichkeitseigenschaften sein, die Veränderungsbereitschaft der Klient*innen, oder die Ausbildung der Agent*innen. Kontextvariablen verweisen darauf, dass sich die Klient*innen neben der Beratung in einem Umfeld bewegen, das den Beratungsprozess positiv oder negativ beeinflussen kann (vgl. Künzli 2018). Prozessvariablen wiederum beziehen sich auf das Geschehen innerhalb der helfenden Dyade. Im Kontext der Prozessvariablen identifiziert die etablierte quantitative Therapie- und Coachingwirkfaktorenforschung die therapeutische Beziehung, die Aspekte der Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung und motivationalen Klärung sowie die Problembewältigung als zentrale mediators and mechanisms of change (Kazdin 2009), d.h. als Wirkfaktoren. Diese wurden mittels statistisch ausgewerteten prä- und post-Interviews bzw. Fragebögen ermittelt (vgl. Grawe, Bernauer und Donati 1994; Gassmann und Grawe 2006 für die Psychotherapie oder z.B. Behrendt 2006, 2012 für Coaching).

Allerdings sind die Fragen WIE bzw. WARUM diese Wirkfaktoren zu einer positiven Veränderung für die Klient*innen führen, bis dato nicht befriedigend geklärt bzw. von einem großen Teil der Forschung gar nicht gestellt worden. Zum einen ist es für die existierende psychologische Interaktionsforschung nur in Ansätzen möglich, der Komplexität menschlicher Kommunikation, die verbal, non-verbal und para-verbal abläuft, gerecht zu werden (vgl. Künzli 2018). Zum anderen ist ein Teil der Forschung primär am ‚Outcome‘ unterschiedlicher Verfahren interessiert und blendet den Prozess, der zu diesen Ergebnissen führt, als „Black Box“ (Elliott 2010: 124) aus (s. etwa Margraf 2009; kritisch Buchholz 2007). So formuliert Kazdin (2009: 418) für die Psychotherapie, „(a)fter decades of psychotherapy research and thousands of studies, there is no evidence-based explanation of how or why even the most well-studied interventions produce change.“ Ähnlich fordern de Haan, Bertie und Sills (2010: 110) qualitative Untersuchungen des Coachingprozesses:

In order to understand the impact and contribution of executive coaching and other organisational consulting interventions, it is not enough to just understand general effectiveness or outcome. One also has to inquire into and create an understanding of the underlying coaching processes themselves, from the perspectives of both clients and coaches.

Während die quantitativ operierende psychologische Outcome-Forschung den Blick also nahezu ausschließlich auf die Wirksamkeit verschiedener Therapieformen gerichtet hat, haben qualitativ operierende sprachwissenschaftliche Analysen helfender Interaktionen umgekehrt lange die Frage vernachlässigt, welchen Beitrag die beschriebenen kommunikativen Praktiken zur institutionell angestrebten Veränderung der Klient*innen leisten. Sie haben stattdessen ausschließlich das WIE, in dem diese Praktiken realisiert werden, im Blick gehabt (Elliott 2010: 129, Peräkylä 2013: ch. 4). Erst in jüngerer Zeit wird die Bedeutung einer linguistischen Veränderungsforschung verstärkt herausgearbeitet, sind vereinzelte Analysen sprachwissenschaftlicher Provenienz zu hilfreichen Veränderungen in helfenden Berufen vorgelegt worden (Muntigl und Horvath 2005; Graf 2011; Voutilainen, Peräkylä und Ruusuvuori 2011; Scarvaglieri 2013, 2015; Voutilainen, Rossano und Peräkylä 2018 sowie die Beiträge in Pawelczyk und Graf (Hrsg.) under review). Diese auf der sprachlich-interaktiven Mikro-Ebene angesiedelten Studien können der sich gegenwärtig entwickelnden Forschungsrichtung change process research, welche wiederum v.a. der Psychotherapie-Forschung entstammt, zugeordnet werden:

Change process research using qualitative approaches has advanced psychotherapy research by illuminating aspects of the psychotherapeutic process not visible from clinical trials and more quantitative methods alone. Quantitative approaches, while important in determining treatment efficacy, have not been able to explain “how” treatments work. (Watson und McMullen 2016: 507)

In einem Überblicksartikel hierzu diskutiert der Psychologe und Psychotherapeut Robert Elliott (2010) verschiedene Ansätze der Veränderungsforschung, die nach einer Verbindung von Outcome und Prozess streben. Neben den quantitativ verfahrenden Studien des „process-outcome-design“, dem Ansatz des „qualitative helpful factors design“ und dem von Elliott mit entwickelten „signifcant events approach“ geht er dabei auch auf Arbeiten nach dem von ihm sog. „microanalytic sequential process design“ ein. Darunter fasst Elliott „research on the turn-to-turn insession interaction between client and therapist“ (2010: 128). Elliott hebt die Seltenheit gerade dieser Art von Untersuchungen innerhalb der Veränderungsforschung hervor und nennt, neben der der Veränderungsforschung grundsätzlichen zukommenden Unsicherheit über kausale Zusammenhänge zwischen Prozess und Outcome (ebd.: 129, vgl. Kazdin 2009), als Hauptgrund dafür, dass diese Art der Forschung difficult and time consuming (ebd.) sei. Aus der Perspektive der Praxis ist jedoch gerade eine solche Integration von qualitativer, mikroanalytischer Prozessforschung und der Untersuchung von Wirkfaktoren in helfenden Berufen von hoher Bedeutung. So betonen etwa Weiste und Peräkylä (2015: 8), dass „from a clinical point of view, change in the client is indeed of utmost interest“ (vgl. auch Graf 2011 im Kontext von Coaching und ihre Unterscheidung in ‚Meta-Diskurs über Veränderung‘ vs. ‚Veränderungs-Diskurs‘).

Der vorliegende Band führt eben diese Integration von mikroanalytischer Prozessforschung mit der Identifikation von Wirkfaktoren im Sinne einer qualitativen Veränderungsforschung zusammen, indem er linguistische Studien versammelt, die Formen hilfreicher Veränderung in Psychotherapie, Coaching, Beratung und Physiotherapie empirisch im Sinne eines sequentiellen Prozess-Designs (siehe oben) nachzeichnen und sich dabei an gemeinsamen Fragen orientieren. Diese Fragen sind sowohl von grundlegender theoretischer Reichweite, etwa was überhaupt als Veränderung zu erfassen und entsprechend zu erforschen ist. Die Antwort auf diese Frage wiederum ist abhängig von der zugrundeliegenden Theorie von Veränderung. Der jeweils untersuchte Gegenstand konstituiert sich dabei in Abhängigkeit von der zugrundeliegenden Theorie von Veränderung bzw. den Prozessen, die dieser Theorie zufolge geeignet sind, hilfreiche Veränderungen auszulösen (zur Frage der Gegenstandskonstitution vgl. Deppermann 2003: 14–16). So fassen etwa linguistische Arbeiten zur Psychotherapie eher das sprachliche Verhalten als Ausdruck von Veränderung (z.B. Muntigl und Horvath 2005, Voutilainen, Peräkylä und Ruusuvuori 2011), wohingegen psychoanalytische oder therapietheoretische Ansätze stärker auf psychische Prozesse rekurrieren (Thomä und Kächele 2006: 290f. oder Krause et al. 2007: 677). Für die gegenwärtige Forschung wie für den vorliegenden Band bedeutet dies, dass die jeweils zugrundeliegende Theorie von Veränderung explizit gemacht werden muss, damit nachvollziehbar wird, auf welcher Grundlage die Daten als bedeutsam für Veränderung ausgewählt wurden. Darüber hinaus liegt ein zentraler Erkenntnisgewinn darin, eine Systematisierung der Ansätze zur Bestimmung und Erforschung von Veränderung in helfenden Berufen zu schaffen – der vorliegende Band strebt in einem abschließenden Beitrag einen solch systematisierten Zugriff auf den Phänomenbereich Veränderung in helfenden Berufen an.

In engem Bezug zur Frage der theoretisch bedingten Gegenstandskonstitution stehen methodologische Fragestellungen der Dokumentation und Beschreibung von Veränderung. Traditionell wird Veränderung in Medizin und Psychotherapie entweder anhand physischer Marker gemessen oder mittels Fragebögen in Vorher-Nachher-Studien erfragt (Gassmann und Grawe 2006; Elliott 2010; Lambert (Hrsg.) 2013). Das Ergebnis dieser Untersuchungen wird anschließend dem verwendeten therapeutisch-medizinischen Verfahren zugeschrieben, ohne dass deutlich wird, an welcher Stelle der Behandlung hilfreiche Veränderungsprozesse ausgelöst oder interaktiv unterstützt wurden. Diese Lücke versucht die im Entstehen begriffene qualitativ-linguistische Veränderungsforschung zu schließen, indem sie zunächst den interaktiven Prozess audio- und videographisch dokumentiert. So legt der Großteil der im Band versammelten Beiträge Aufnahmen und Transkripte der interaktiven Prozesse helfenden Handelns zugrunde. Im Unterschied zur Mehrzahl der vorliegenden sprach- und kommunikationswissenschaftlichen Analysen werden diese Prozessdaten jedoch nicht nur formal analysiert, sondern die erkannten, die Interaktion prägenden Muster werden auf ihre funktionale Zweckmäßigkeit, also ihre Bedeutung für das ‚Outcome‘ des Prozesses, hin befragt, wobei die Bedeutung einzelner interaktiver Sequenzen innerhalb des institutionellen Rahmens mit Mitteln der linguistischen Gesprächsanalyse detailliert rekonstruiert wird. Damit wird die ‚Black Box‘ (Elliott 2010) der helfenden Interaktion geöffnet, was Erkenntnisse von theoretischer Bedeutung zum Verhältnis von sprachlichen Formen und Funktionen erbringt, aber auch aus angewandter Perspektive von hoher Bedeutung ist, da konkrete Aussagen über bestimmte kommunikative Handlungen und ihren Zusammenhang zum angestrebten Zweck der Interaktion getroffen werden. Gleichzeitig kann es so zu einem kritischen Abgleich kommen zwischen idealisierten Vorstellungen über das eigene professionelle Handeln und der kommunikativen Realität im Sinne von Stokoes (2012) talk-in-theory versus talk-in-practice. Und schließlich kann die interaktionale Bedeutung von sogenannten seen, but unnoticed Phänomenen in Garfinkels (1967) Sinn mit Hilfe qualitativ-linguistischer Analysen aufgedeckt werden. All dies kann den Ausgangspunkt bilden für eine grundsätzliche kommunikative Sensibilisierung, wie für die Aneignung der herausgearbeiteten Erkenntnisse durch Praktiker*innen helfender Berufe.

Aus empirischer Perspektive drängen sich des weiteren Fragen zu den Dimensionen von Veränderung auf, also hinsichtlich Indikatoren und Objekten von Veränderung sowie hinsichtlich interaktiver Praktiken, die Veränderung vorantreiben können bzw. in denen sich Veränderungen manifestieren. Die hier versammelten Beiträge machen, aufbauend auf dem gewählten theoretischen und methodischen Zugang, unterschiedliche Dimensionen von Veränderung sichtbar; auch hier soll im abschließenden Beitrag eine Systematisierung vorgelegt werden. Empirisch lässt sich hilfreiche Veränderung bezüglich der Formen des Wandels an unterschiedlichen Phänomenen festmachen. So zeigt sich Veränderung 1.) an der Oberfläche des kommunikativen Prozesses als verändertes Reden über sich selbst und die eigenen Erlebnisse bzw. als verändertes Reagieren auf das Verhalten des Gegenüber (Muntigl und Horvath 2005; Voutilainen, Peräkylä und Ruusuvuori 2011). Veränderung kann 2.) handlungstheoretisch als verändertes Handeln in vergleichbaren Situationen verstanden werden (Thomä und Kächele 2006; Scarvaglieri 2015, 2017) – ein Veränderungsbegriff, der über die aktuell repräsentierte Interaktion zwischen helfender und Hilfe suchender Person hinausgeht und auch das Verhalten im Alltag erfassen soll, so dass er vergleichsweise nahe an dem Verständnis der Praktiker*innen liegt. Aktionale wie rein sprachliche Veränderungen basieren schließlich 3.) auf veränderten psychischen Prozessen, etwa darauf, dass Ereignisse „from new angles“ (Gale 1999: ix; vgl. Scarvaglieri 2013: 281f.) gesehen werden. Zudem kommt es 4.) in Physiotherapie und Medizin zu körperlichen Veränderungen, die zum Teil unmittelbar in der Interaktion manifestiert sind und videographisch nachgewiesen werden können. Insgesamt fokussieren die Beiträge des Bands v.a. Veränderungsprozesse auf sprachlich-kommunikativer Ebene, ohne dabei aus den Augen zu verlieren, dass diese ihrerseits mit mentalen, ggf. somatischen oder physischen Prozessen verkoppelt sind und dass das eigentliche Ziel helfender Berufe in veränderten Verhaltensformen jenseits der aktuell repräsentierten Dyade besteht. Dabei kommt innerhalb der hier konzipierten Veränderungsforschung der Identifikation und Mikroanalyse kommunikativer Praktiken, in denen sich Veränderung interaktiv realisiert, zentrale Bedeutung zu. Diese Detailanalysen kommunikativer Verfahren und ihres Bezugs zum institutionellen Zweck stellen das Zentrum der einzelnen Beiträge wie des gesamten Bandes dar, sie bilden die Basis für eine theoretische Erfassung des Phänomenbereichs wie auch für eine wissenschaftlich informierte Weiterentwicklung der Praxis helfenden Handelns und öffnen in der Verbindung von Mikroanalyse und Makroperspektive nicht zuletzt auch der Gesprächs- und Konversationsanalyse neue methodologische Perspektiven.

Pragmatik der Veränderung

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