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2.4 Partizipative Ausgestaltung
ОглавлениеDas Projekt war als partizipatives Forschungs- und Entwicklungsprojekt angelegt. Während der Entwicklung und Umsetzung des Projektvorhabens lag daher in allen Projektphasen ein besonderer Fokus auf der partizipativen Ausgestaltung. Diese bezog sich zum einen auf die enge Zusammenarbeit zwischen Praxis und Wissenschaft: Sie wurde über eine Projektstruktur sichergestellt, die eine differenzierte Reflexion aller Projektschritte in regelmäßigen Projektsitzungen der beiden Projektpartner Bethel.regional und EvH Rheinland-Westfalen-Lippe beinhaltete. Sowohl Planung und Entwicklung der Projektschritte als auch die Auswertung von Erhebungsdaten sowie die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen wurden miteinander beraten und abgestimmt.
Wesentliches Anliegen war darüber hinaus die Zusammenarbeit und Einbeziehung von Menschen mit Beeinträchtigungen als Expert*innen in eigener Sache. Ziel war es, die Forschung nicht über, sondern gemeinsam mit Menschen mit Beeinträchtigungen durchzuführen und den Leitfaden zu Methoden, Ansätzen und Instrumenten gemeinsam zu entwickeln. Durch den partizipativen Forschungsansatz wurden diese Personen als Partner*innen im Forschungsprozess beteiligt und ihre individuelle und kollektive Selbstbefähigung und Ermächtigung (Empowerment) unterstützt (von Unger 2014).
Die konsequente und umfassende Beteiligung von Menschen mit Beeinträchtigungen stellte eine besondere Herausforderung dar, da es im Projekt als Zielgruppe um Personen ging, die sich vielfach verbalsprachlich nicht oder nur sehr eingeschränkt äußern können. Um das Ziel einer bestmöglichen Beteiligung zu erreichen, wurden verschiedene Ansätze genutzt:
1. Es wurden zwei Selbstvertretungsgruppen – People First in Bielefeld und die Krefelder Behinderten-Selbsthilfe (Krebse) in Krefeld – angefragt, das Projekt kritisch zu begleiten. People First war zu Beginn des Projektes dabei und hat bei der Übersetzung der Informationen zum Projekt in Leichte Sprache mitgewirkt. Im weiteren Verlauf des Projektes lag der Fokus auf dem Austausch mit den Krebsen in Form von Expert*innenworkshops, die alle sechs Wochen, zum Ende des Projektes auch alle vier Wochen, durchgeführt wurden.
2. In der Durchführung wurden zur Sicherung der Beteiligung die Wunsch- und Willensbekundungen der einbezogenen Personen sowie ihre Ausdrucksmöglichkeiten für Zustimmung und Ablehnung von Beginn an erhoben und die Zeichen dafür im Prozess konsequent beachtet.
3. Frau Prof. Dr. Gudrun Dobslaw (FH Bielefeld) hat als externe Wissenschaftlerin die partizipative Gestaltung der Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse mit den Selbstvertretungsgruppen und den Projektbeteiligten auf Basis von Videoaufzeichnungen ausgewählter Eingangs- und Abstimmungssequenzen aus den Beratungssitzungen kritisch überprüft. Dies wurde in gemeinsamen Sitzungen mit dem Projektteam reflektiert, so dass die daraus gewonnenen Erkenntnisse in die weitere Ausgestaltung einbezogenen werden konnten.
4. Die partizipative Gestaltung der Entwicklungs- und Entscheidungsprozesse wurde zudem in den Projektsitzungen und in halbjährlichen Sitzungen mit dem Bochumer Zentrum für Disability Studies (BODYS) – einer Forschungseinrichtung der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe für menschenrechtsorientierte, partizipative und intersektionale Forschung und Lehre, in dem das Projekt angesiedelt war – kritisch reflektiert.
5. Zu einigen Fragestellungen wurden ad-hoc-Fokusgruppen mit beteiligten Klient*innen sowie deren Bezugsmitarbeitenden durchgeführt, um gemeinsam wesentliche Elemente eines Prozesses der Wohnwunschermittlung zu identifizieren und Rückschlüsse für weitere Prozesse zu ziehen.
6. Zur Präsentation und Diskussion der Projektergebnisse wurden schließlich alle beteiligten Personengruppen zu einer inklusiven Fachtagung im November 2019 eingeladen: die Klient*innen, Angehörige, Mitarbeitende und Führungskräfte aus der Eingliederungshilfe, Vertreter*innen von Sozialleistungsträgern, Mitarbeitende aus kommunalen Beratungsstellen sowie Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Disziplinen. Die Projektergebnisse wurden über verschiedene Formate vorgestellt: klassische Vorträge, Dialoge mit Bildern der Leichten Sprache, Thementische zur gemeinsamen Bearbeitung verschiedener eingesetzter Methoden und Materialien etc. Wenn auch in Bezug auf die wissenschaftlichen Vorträge nicht davon auszugehen war, dass alle Anwesenden allen Inhalten folgen konnten, so sprach doch die fröhliche und zugewandte Atmosphäre für sich: Alle Projektbeteiligten waren dabei und die Bezugspunkte für alle vorgestellten Inhalte bildeten die Personen, deren Wohnwünsche im Projekt erhoben worden waren.
Eine filmische Dokumentation der Abschlusstagung ist auf der Projekthomepage: www.wahlmöglichkeiten-sichern.de/projektabschluss zu sehen.
Neben der konsequenten Beteiligung von Menschen mit Beeinträchtigungen wurde während der gesamten Projektlaufzeit der fachliche Austausch und Transfer mit verschiedenen Professionen und Personengruppen sichergestellt. Projekt-(Zwischen-)Ergebnisse wurden daher in verschiedenen Formaten diskutiert, um einerseits Rückmeldungen einzuholen und andererseits einzelne Ergebnisse und daraus resultierende Schlussfolgerungen einer (Teil-)Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen:
1. In zwei ganztägigen Expert*innenworkshops mit Projektbeteiligten und Expert*innen unterschiedlicher Fachdisziplinen aus Hochschulen und Praxisfeldern wurden die Projektergebnisse vorgestellt und diskutiert. Im ersten Workshop im Juni 2017 wurden die bis dahin im Projekt recherchierten Instrumente zur Erhebung von Wohnwünschen (vgl. Bössing et al. 2020) in Bezug auf ihre Anwendung mit Menschen mit Komplexer Behinderung geprüft. Folgende Ansätze wurden diskutiert:
a) Persönliche Zukunftsplanung
b) »Teilhabekiste«
c) IHP-3 (LVR)
d) Persönliche Lebensstilplanung
e) Unterstützungskreise
f) Sozialraum- und Netzwerkorientierung
g) Peer Counseling
Zusammenfassend wurde festgehalten, dass die zur Verfügung stehenden Methoden zur Wohnwunscherhebung bislang noch nicht hinreichend auf die Situation von Menschen mit Komplexer Behinderung hin angepasst waren. Für die Gestaltung der Prozesse wurde dem Projektteam daher empfohlen, die Ansätze – im Sinne einer echten Personenzentrierung – individuell auf die Person hin auszurichten. Elemente aus der Persönlichen Zukunftsplanung wie auch aus der individuellen Lebensstilplanung wurden dazu als geeignete Grundlagen identifiziert.
Unterstützungskreise, Sozial- und Netzwerkorientierung bzw. -analyse sowie die Einbindung von »Peer-Erfahrung« wurden – ebenfalls jeweils angepasst an die individuelle Situation – als weitere wichtige Aspekte konsentiert. Insbesondere die angemessene und systematische Einbindung von »Peer-Erfahrungen« war bisher noch nicht hinreichend untersucht, so dass diesem Aspekt in der Erprobung und Evaluation besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte.
Im zweiten Workshop im Juni 2018 wurden folgende Projektzwischenergebnisse vorgestellt und diskutiert:
a) die Ergebnisse einer Interviewstudie mit Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf sowie Fachkräften, deren Fokus auf den Erfahrungen mit bisherigen Wohnveränderungen lag
b) das methodische Vorgehen sowie die Erkenntnisse aus den ersten Prozessen der Wohnwunscherhebung
Die Diskussion brachte wertvolle Hinweise für die Wohnwunscherhebung mit Menschen mit Komplexer Behinderung, die sich drei Kategorien zuordnen ließen:
a) Hinweise für die praktische Umsetzung des Projekts
b) Hinweise an die Organisation/Bethel.regional
c) Hinweise an die Forschung
Über die Methode der Live-Visualisierung entstand ein anschauliches Protokoll der wesentlichen Erkenntnisse des Workshops.
2. Das ebenfalls von der Stiftung Wohlfahrtspflege geförderte Projekt »Wohnen selbstbestimmt« (www.wohnen-selbstbestimmt.de) hatte zum Ziel, Empfehlungen für Politik und Gesellschaft zu formulieren, um für alle Menschen unabhängig vom Grad der Behinderung das in der UN-BRK verbriefte Recht auf die freie Wahl des Wohnorts zu gewährleisten. Ein Austausch zwischen beiden Projekten wurde über die jeweiligen Projektleitungen sichergestellt. Darüber hinaus beteiligten sich Mitarbeitende des Projekts »Wahlmöglichkeiten sichern!« im Mai 2018 an einer Expert*innen-Gruppe aus Politik, Wissenschaft, Praxis, Bau- und Finanzwesen zu den Grundlagen für die Finanzierung von Unterstützungskonzepten in selbstbestimmten Wohnformen.
3. Anlass für den Fachaustausch im Herbst 2018 mit der Beratungsstelle Unterstützte Kommunikation im Geschäftsbereich Behindertenhilfe der Ev. Stiftung Hephata waren deren Erfahrungen a) mit Methoden der Unterstützten Kommunikation b) mit dem Instrument der »Teilhabekiste« c) mit der »Persönlichen Zukunftsplanung«, die dort bereits seit 2014 flächendeckend zur Bedarfsermittlung genutzt wurde. Deutlich wurde, dass viele der Projekterkenntnisse durch die Praxiserfahrungen in Hephata gestützt wurden, z. B.:
a) Die einzelnen Bedarfsermittlungs-Prozesse waren nach Inhalt und Dauer sehr individuell.
b) Methoden aus dem Bereich der Unterstützten Kommunikation konnten auch in den Prozessen der Persönlichen Zukunftsplanung gut eingesetzt werden.
c) Für die Erhebungen erwies sich ein Pool an Methoden, der individuell auf die Person angepasst wird, als sinnvoll.
Insgesamt wurde von vielen positiven Entwicklungen bei Menschen mit Komplexer Behinderung und einem deutlichen Rückgang herausfordernden Verhaltens berichtet, was im Wesentlichen darauf zurückgeführt wurde, dass jegliche Willens- und Wunschäußerung der planenden Person wertfrei ernstgenommen und wertgeschätzt wurde. Die Person wurde als Gegenüber, als soziale Person mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen in den Mittelpunkt gestellt.
4. Mitte Juli 2019 wurde ein Fachaustauch mit zwei ausgewiesenen Moderator*innen für Zukunftsplanung aus Hamburg initiiert. Im Schwerpunkt ging es darum, die Erfahrungen mit Unterstützungskreisen aus dem Projekt zu reflektieren. Folgende Fragen wurden auf Grundlage von Praxisbeispielen reflektiert und beraten:
a) welche Bedingungen das personenzentrierte Arbeiten mit Menschen mit Komplexer Behinderung ermöglichen,
b) inwiefern es gelingt, über diese Prozesse dem tatsächlichen Willen der Person nahezukommen,
c) wie bei der Umsetzung Wünsche und nicht (potentielle) Barrieren in den Vordergrund gerückt werden können und
d) wie die Umsetzung der Ideen aus dem Unterstützungskreis sichergestellt werden kann.
Eine Grundsatzfrage war dabei auch, inwieweit von der »reinen Lehre« der Methode abgewichen werden kann, um individuelle, auf die Zielgruppe unseres Projekts zugeschnittene Zugangswege zu entwickeln.
5. Zu einem Arbeitstreffen für Multiplikator*innen für Unterstützte Kommunikation waren Projektmitarbeitende im September 2019 eingeladen. An diesem Netzwerktreffen nahmen Mitarbeitende aus Angeboten der Eingliederungshilfe aus ganz Norddeutschland teil. Hier wurden zunächst die Ergebnisse der zu Projektbeginn erstellten Literaturrecherche ( Kap. 9) dargestellt und diskutiert, im Anschluss daran folgten erste Eindrücke und Zwischenergebnisse aus den Wohnwunscherhebungs-Prozessen. Der Fokus des Fachaustauschs lag auf den Methoden der Unterstützten Kommunikation und deren Einsatzmöglichkeiten für die Wunschermittlung bei Menschen mit Komplexen Behinderungen.
6. In der letzten Projektphase wurde ein intensiver Dialog mit Vertreter*innen der in NRW zuständigen Sozialleistungsträger, dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) und dem Landesverband Rheinland (LVR) gesucht. Ziel der Gespräche war es, die Personengruppe der Menschen mit Komplexer Behinderung und deren besondere Bedarfe stärker in das Blickfeld zu rücken. Insbesondere vor dem Hintergrund der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) wurde die Frage diskutiert, ob und wie die Wohn- und Lebenswünsche von Menschen, die nicht sprachlich kommunizieren, über die von den Sozialleistungsträgern eingesetzten Bedarfsermittlungsinstrumente erfasst werden können.
Beide Sozialleistungsträger zeigten sich sehr interessiert an den Projektergebnissen. So nahmen mehrere Mitarbeiter*innen des Inklusionsamts Soziale Teilhabe des LWL an unserer Abschlusstagung teil und der LVR lud die Projektleitungen zu einem Fachtag »Paradigmenwechsel« ein.