Читать книгу Wohnwunschermittlung bei Menschen mit Komplexer Behinderung - Группа авторов - Страница 21
2.6.1 Recht auf Unversehrtheit und Prinzip des Nutzens
ОглавлениеBesondere Aufmerksamkeit in der Forschung und der ethischen Reflexion von Forschungsvorhaben gelten den sogenannten »vulnerablen Personengruppen«. Diese werden dadurch definiert, dass sie »aufgrund ihrer besonderen Lebenssituation durch die Teilnahme an einem Forschungsvorhaben in besonderen Maße belastet oder gefährdet werden könnten« (Schnell & Heinritz 2006, S. 43). Menschen mit Komplexer Behinderung sind in diesem Sinn als vulnerable Gruppe zu betrachten, da sie in vielen Bereichen des Lebens auf Unterstützung angewiesen sind, um ihre Rechte durchzusetzen und nicht immer Situationen und deren Auswirkungen umfassend einschätzen können. Es ist daher in besonderer Weise notwendig, ethisch relevante positive oder negative Folgen ihrer Teilnahme an der Untersuchung im Vorfeld einzuschätzen, im Verlauf achtsam und kritisch zu reflektieren und den möglichen Nutzen vor dem Hintergrund des Rechts auf Unversehrtheit abzuwägen.
In die Erhebung sollten Personen einbezogen werden, bei denen die Ermittlung ihrer Wohnwünsche aus unterschiedlichen Gründen eine besondere Herausforderung darstellte. Damit war zugleich eine Verbesserung angestrebt, da durch die sich anschließende Umsetzung der identifizierten Wünsche das durch den Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention zugesicherte Wunsch- und Wahlrecht ermöglicht werden sollte. Dennoch wäre es denkbar gewesen, dass durch die Anfrage und die damit einhergehende Konfrontation mit dem Thema der Wohnveränderung Unsicherheiten, Ängste und andere Belastungen hätten entstehen können. Auch hätten durch Erzählungen Gefühle reaktiviert werden können, die unter Umständen zu einer erneuten Belastung geführt hätten. Zudem hätte die Teilnahme am Projekt mit den damit einhergehenden Beobachtungen und Interventionen eine zeitliche und persönliche Belastung darstellen und zu einer Überforderung führen können. Der Schutz vor den aufgezeigten möglichen Risiken musste daher gegenüber dem Nutzen der Erhebung abgewogen werden.
Aufgrund der aufgezeigten Vulnerabilität der Personengruppe und den damit einhergehenden erhöhten forschungsethischen und -methodischen Anforderungen werden Personen mit Komplexer Behinderung vielfach nicht (hinreichend) in Erhebungen einbezogen. Dies führt jedoch gleichzeitig zu einer Beschränkung ihres Rechts auf Partizipation (vgl. Art. 4 UN-BRK) sowie in Folge zu der fehlenden Möglichkeit, Angebote stärker auf ihre Bedürfnisse auszurichten. Das Ziel des Projektes bestand darin, zunächst bereits vorliegende Erfahrungen in die Entwicklung von konsentierten Verfahren und Methoden zur Erhebung und Realisierung von Wohnwünschen für Menschen mit Komplexer Behinderung einzubeziehen. Hiervon konnten die Studienteilnehmer*innen zum einen indirekt profitieren, indem sie Wertschätzung ihrer Sichtweise und Erfahrung erlebten, und zum anderen ggf. auch direkt, wenn eine Wohnveränderung auf Basis der Erkenntnisse zukünftig gut begleitet wird. Für den spezifischen Kontext gab es keine Hinweise aus Studien zu speziellen Risiken, die mit der Teilnahme am Projekt verbunden waren, so dass diese für das Projekt nur indirekt ableitbar waren. Hierzu wurden zu Beginn des Projektes potentielle Risiken herausgearbeitet sowie präventive Maßnahmen vorüberlegt und vereinbart. Hierzu gehörten
1. die sensible Wahrnehmung und Reflexion von Ängsten und Belastungen (Anzeichen dafür wurden in jedem Prozess zu Beginn erfragt), im Zweifelsfall wurde der Prozess unterbrochen (z. B. bei Anzeichen von Müdigkeit), bei kritischen Situationen hätte es die Möglichkeit gegeben, auf Angebote des Krisenteams oder von Psycholog*innen zurückzugreifen. Des Weiteren wurde
2. das Projekt von in der Begleitung mit Menschen mit Komplexer Behinderung erfahrenen Mitarbeitenden durchgeführt und
3. das Recht auf Selbstbestimmung und Freiwilligkeit beachtet und im Forschungsprozess fortlaufend reflektiert ( Kap. 2.6.2).
In der Studie wurden die von den Organisationen eingesetzten oder befragten Fachkräfte, die Prozesse von Wohnveränderungen begleiteten, als Expert*innen eingeschätzt. Als Expert*innen gehören sie nicht der Gruppe der vulnerablen Personen an, da sie »in der Regel nicht dadurch verletzbar [sind], dass sie aufgefordert werden, über ihre Arbeit zu informieren« (Schnell & Heinritz 2006, S. 27). Somit wurden keine Probleme bei den Interviews mit den Mitarbeitenden der Organisationen erwartet, was sich auch bestätigt hat.