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Geleitwort

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Das zusammen mit Bethel.regional durchgeführte Forschungsprojekt »Wahlmöglichkeiten sichern!« war eines der ersten Projekte des Bochumer Zentrums für Disability Studies (BODYS). BODYS wurde im Juni 2015 als Forschungseinrichtung der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe gegründet. BODYS versteht Disability Studies als theoretische Grundlage für die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Deren Implikationen für Theorie und Praxis der Behindertenpolitik und -arbeit sowie für die Gesellschaft insgesamt sind zentraler Forschungsgegenstand. BODYS möchte den Rahmen für menschenrechtsorientierte, partizipative und intersektionale Forschung und Lehre bieten.

Das Forschungsprojekt »Wahlmöglichkeiten sichern!« publiziert seine Ergebnisse just in dem Jahr, in dem BODYS auch seine neue Strategie aufgelegt hat, und verleiht deren Vision und Mission unmittelbar Gestalt: »Eine Welt, in der behinderte Menschen selbstbestimmte Entscheidungen in allen Lebenslagen treffen können« – dazu möchte BODYS »mit bahnbrechender partizipativer Forschung und Bildung […] beitragen, [um] soziale Gerechtigkeit für behinderte Menschen herzustellen und Menschenrechte für behinderte Menschen in Deutschland und weltweit zu verwirklichen«1 (Mission). Die vorliegende Publikation belegt, dass derartige Forschung weder illusionär noch ideologisch ist.

Bisher werden Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen herkömmlich von Forschungsprojekten aufgrund mangelnder Erhebungsinstrumente und weiterer Barrieren ausgeschlossen. Die Datenlage zu ihrer Lebenssituation ist folglich mehr als dürftig. Auch partizipative Forschungsansätze sind im Hinblick auf diese Personengruppe kaum entwickelt. Hier leistete das Projekt »Wahlmöglichkeiten sichern!« echte Pionierarbeit und konnte zeigen, dass partizipative Forschung bei diesem Personenkreis keineswegs an ihre Grenzen kommt – wenn Barrierefreiheit umfassend und innovativ von Anfang an mitgedacht wird.

Mit der UN-BRK und ihrem Paradigmenwechsel vom medizinischen zum menschenrechtlichen Modell von Behinderung wurden neue Konzepte in Theorie und Praxis erforderlich. Menschenrechtsbasierte partizipative Forschung zu Fragen des selbstbestimmten Lebens von Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen gehört zu den größten Herausforderungen, denen sich das Forschungsprojekt »Wahlmöglichkeiten sichern!« gestellt hat. Neuere Forschung belegt, dass behinderte Menschen mit komplexen Unterstützungsbedarfen zunehmend von Inklusionsentwicklungen abgekoppelt werden und sich ihre Lebens- und Betreuungsqualität parallel verschlechtern. Die Orientierung an den Menschenrechten, insbesondere Art. 19 UNBRK (Recht auf selbstbestimmtes Leben), an den Prinzipien partizipativer Forschung und an dem Menschenrechtsmodell von Behinderung führte zu ertragreichen Erkenntnissen für Theorie und Praxis. Sie könnten dazu beitragen, dem Zurücklassen dieser behinderten Personen, d. h. ihrem Ausschluss aus Inklusions- und Teilhabeprozessen, entgegenzuwirken.

Das Universalitätsversprechen der Menschenrechte kann nur eingelöst werden, wenn wir neue Formen der unterstützten Entscheidungsfindung und Assistenz in der fachlichen Behindertenarbeit entwickeln. Die Abwendung vom medizinischen Modell von Behinderung erfordert zudem die Überwindung einer Versorgungsmentalität, die eindimensional darauf ausgerichtet ist, Unterstützungsbedarfe sicherzustellen. Erst dann wird der Blick frei für die Erkenntnis der sozialen Konstruktion von Behinderung in diesen besonderen Settings. Aus den Disability Studies wissen wir, dass Erkenntnisse über die soziale Konstruktion von Behinderung nicht nur Wissen über das Phänomen Behinderung, sondern insbesondere Rückschlüsse auf die Konstruktion von Normalität generieren. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn auch in diesem Forschungsprojekt Erkenntnisse über menschliche Entscheidungen als Prozesse gewonnen wurden. Die Vorstellung von der menschlichen Willensbildung als ein rationaler einmaliger Akt wird auch für die Mehrheitsgesellschaft zunehmend infrage gestellt. Neurowissenschaft, Philosophie oder Entscheidungsforschung warten seit geraumer Zeit mit Erkenntnissen auf, die die Vorstellung von der freien rationalen Willensbildung als bewussten autonomen Akt zunehmend ins Wanken geraten lassen.

Diese Erkenntnis ist auch in die UN-BRK und in das Bundesteilhabegesetz (BTHG) eingegangen. Art. 12 UN-BRK geht von der Prämisse der (rechtlichen) Entscheidungsfreiheit für alle behinderten Menschen aus, das Konzept der unterstützten Entscheidungsfindung ist eines der wichtigsten Innovationen in diesem Zusammenhang. Das BTHG ist darauf mit der Personenzentrierung der Eingliederungshilfeleistung und der Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts der Leistungsberechtigten die legislative Antwort. Die vorliegende Publikation liefert nun für den Kreis der behinderten Personen mit komplexen Unterstützungsbedarfen wichtige Forschungsergebnisse für die Praxis. Wir hoffen, dass sich viele Leistungserbringer*innen der Eingliederungshilfe davon inspirieren lassen.

Theresia Degener und Kathrin RömischBochum, im Dezember 2021

1 BODYS (Hrsg.) (2021) BODYS-Strategie 2021-2024. Übersicht. Stand Juni 2021, S. 2 (https://www.bodys-wissen.de/files/bodys_wissen/Downloads/BODYS-Strategie%20%C3%9Cbersicht_final.pdf, Zugriff am: 15.09.2021)

Wohnwunschermittlung bei Menschen mit Komplexer Behinderung

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