Читать книгу Wohnwunschermittlung bei Menschen mit Komplexer Behinderung - Группа авторов - Страница 7
Vorwort der Herausgeberinnen
ОглавлениеNach Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention müssen Menschen mit Behinderung die gleichen Möglichkeiten wie alle Menschen haben, um in der Gemeinschaft zu leben und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Dies soll u. a. durch die Gewährleistung der gleichberechtigten Möglichkeit der Wahl und der selbstbestimmten Entscheidung, wo, wie und mit wem sie leben wollen, erreicht werden. Dieses mit der UN-BRK formulierte Recht findet sich auch im Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (BTHG), das 2016 in Deutschland verabschiedet wurde.
Doch obgleich sich in den letzten Jahrzehnten in der Begleitung von Menschen mit Beeinträchtigungen ein Wandel hin zu mehr Selbstbestimmung, Teilhabe, Sozialraumorientierung und inklusivem Wohnen vollzogen hat, belegen neuere Untersuchungen, dass Menschen mit einem hohen Unterstützungsbedarf hiervon wenig profitieren. Sie leben nach wie vor überwiegend in gemeinschaftlichen Wohnformen, selten in kleinen Wohngruppen und kaum allein in der eigenen Wohnung. Wahlmöglichkeiten für diesen Personenkreis im Sinne eines Wohnens außerhalb spezialisierter Einrichtungen sind durch die bisher vorwiegend entlang der Höhe des Hilfebedarfs – und nicht an den individuellen Wünschen und Bedarfen der Betroffenen – ausdifferenzierten Wohnangebote deutlich eingeschränkt.2
Für Menschen mit Komplexer Behinderung und umfassendem Assistenzbedarf stellt sich diese Situation noch verschärfter dar, weil sie eigene Wohnwünsche oft nicht verbalsprachlich artikulieren (können) und deren Erfassung für andere Personen daher erschwert ist. Zwar zeigt sich in Studien zur Lebenssituation von Menschen mit Behinderung, dass Wünsche zur Veränderung im Sinne eines Wohnortwechsels bestehen3, jedoch wird auch deutlich, dass die sichere Erforschung des Wunsches hohe Anforderungen an die Qualität der Instrumente stellt.4 Die hierzu erforderlichen aufwendigeren Forschungsmethoden führen vielfach zudem zu einem Ausschluss dieser Personengruppen aus Studien, so dass ihre Sichtweisen und Bedarfe wenig erforscht und damit auch in der Wissenschaft wenig in den Blick genommen werden.
Diesem hier skizzierten Themenfeld der »Wohnwünsche von Menschen mit Komplexer Behinderung« und den bestehenden Herausforderungen widmet sich das vorliegende Buch »Wohnwunschermittlung bei Menschen mit Komplexer Behinderung. Wahlmöglichkeiten sichern«. Dessen Veröffentlichung markiert das Ende eines langjährigen kooperativen Arbeitsprozesses und soll gleichzeitig als Impulsgeber für weitere gemeinsame Prozesse von Wissenschaft und Praxis dienen.
Den ersten Anstoß, sich mit dem Thema »Wohnen für Menschen mit Behinderung und hohem Unterstützungsbedarf« auseinanderzusetzen, setzte die Förderreihe »Pflege inklusiv« der Stiftung Wohlfahrtspflege. In einem gemeinsamen Gespräch zwischen Bethel.regional und der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe ging es zunächst um die Frage, inwiefern ein neues innovatives Wohnangebot für Menschen mit Behinderung und Pflegebedarf entwickelt und evaluiert werden kann. In der weiteren gemeinsamen Auseinandersetzung wurde jedoch schnell deutlich, dass es bereits viele innovative Wohnangebote gibt, aber Menschen mit Komplexer Behinderung hiervon weniger zu profitieren scheinen. Dies führte zu der zentralen Frage, wie Menschen mit Komplexer Behinderung wohnen möchten und inwiefern die Umsetzung dieser Wünsche ermöglicht werden kann. Schließlich entwickelte sich daraus die Themenstellung des Kooperationsprojekts »Wahlmöglichkeiten sichern – Wohnen für Menschen mit Komplexer Behinderung und pflegerischem Unterstützungsbedarf«.
Seit dem ersten Gespräch sind inzwischen sechs Jahre vergangen, in denen eine gemeinsame Antragsstellung bei der Stiftung Wohlfahrtspflege auf den Weg gebracht wurde, die Umsetzung des Projektes erfolgte und die Auswertung der Ergebnisse nun mit diesem Buch vorgestellt werden. Es waren herausfordernde, vor allem aber spannende Jahre, die uns einen tieferen Einblick in die Wohn- und Lebenswelt von Menschen mit Komplexer Behinderung ermöglicht haben.
Mit diesem Buch möchten wir nun nicht nur die Ergebnisse vorstellen, sondern zugleich einen Einblick in die Anlage und Umsetzung des Projektes in seiner Vielschichtigkeit und Komplexität ermöglichen. Dabei führen wir mit diesem Buch die im Projekt umgesetzte enge Verschränkung von Praxis und Theorie mit der Erfahrung und Überzeugung fort, dass diese Verschränkung eine wechselseitige Bereicherung ermöglicht.
Da die Bearbeitung des Projektes und die Veröffentlichung dieses Buches nie ohne die Mitwirkung sehr vieler Personen möglich gewesen wäre, ist es uns an dieser Stelle wichtig, vielen Menschen Dank zu sagen. Bedanken möchten wir uns zunächst bei unserem Projektteam, das auch über die Projektzeit hinaus mit viel Engagement an dem Thema gearbeitet und dadurch auch dieses Buch ermöglicht hat: In der Ev. Hochschule RWL sind das Carina Bössing, Annika Kühl, Katrin Schrooten, Eva Weishaupt und Prof. Dr. Dieter Heitmann. In Bethel.regional haben Detlef Thiel-Rohwetter, Christiane Wilking und Peter Franke mitgearbeitet.
In der Anlage des Projekts wie auch in der Durchführung hat uns der Grundgedanke einer engen Verknüpfung von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und Arbeitsfeld geleitet. Die Zusammenarbeit zwischen den Kolleg*innen5 aus Wissenschaft und Praxis war eine sehr gelungene und hat manche Stolpersteine, die bei Kooperationsprojekten zwangsläufig entstehen, mit gegenseitiger Wertschätzung, Kreativität und Humor aus dem Weg geräumt. Danke an euch – ihr wart ein tolles Team!
Das Projekt »Wahlmöglichkeiten sichern!« wäre nicht realisierbar gewesen ohne die Bereitschaft der Menschen, mit denen wir Wohnwünsche erhoben und die es uns dabei erlaubt haben, Einblicke in ihre Lebenswelt und ihre Wünsche zu erhalten. Ihnen sowie ihren Angehörigen und den unterstützenden Fachkräften in Bethel.regional gilt unser besonderer Dank!
Im Projektverlauf haben wir viele wertvolle Hinweise von unterschiedlichen Personen(-gruppen) erhalten, die uns ihre Zeit und ihre Expertise zur Verfügung gestellt haben.6 Besonders erwähnen möchten wir hier die Selbsthilfegruppe »Krebse«, mit denen wir uns über drei Jahre regelmäßig zu einem intensiven und konstruktiven Austausch über partizipative Forschung getroffen haben, unsere Kooperationspartner IGL und Prof. Dr. Gudrun Dobslaw sowie BODYS für die beratende und begleitende Unterstützung. Unser Dank gilt auch all denjenigen, die sich mit einem eigenen Beitrag an dieser Publikation beteiligt haben und sich nicht von unseren Rückfragen oder Hinweisen zur Überarbeitung in ihrem Engagement haben bremsen lassen. Und schließlich bedanken wir uns bei der Stiftung Wohlfahrtspflege für die Finanzierung des Projekts und beim Kohlhammer Verlag für die gute und kooperative Zusammenarbeit!
Zur Anlage dieses Buches: Das Buch ist in fünf Teile gegliedert und beschreibt den Prozess der Umsetzung sowie den Erkenntnisgewinn. In Teil I führen Karin Tiesmeyer, Friederike Koch und Peter Franke in die Anlage des Projekts »Wahlmöglichkeiten sichern!« ein: Welche Fragestellungen wurden bearbeitet, wer war beteiligt und wie war die Vorgehensweise im Projekt? Auch zu Fragen von Partizipation und ethischen Überlegungen wird Stellung genommen. Ergänzt wird dieser Teil durch die Darstellung einer Interviewstudie zu Erfahrungen mit Wohnveränderungen, beschrieben von Eva Weishaupt, Carina Bössing und Karin Tiesmeyer.
Teil II enthält sechs wissenschaftliche Beiträge zu verschiedenen mit dem Personenkreis der Menschen mit Komplexer Behinderung verknüpften Themen, die den theoretischen Hintergrund des Projektes bilden: Tobias Bernasconi und Ursula Böing setzen sich mit dem Begriff »Komplexe Behinderung« auseinander. Timo Dins, Stefanie Smeets und Caren Keeley diskutieren Bedürfnisse und Bedarfe von Menschen mit Komplexer Behinderung und stellen Ergebnisse des Forschungsprojekts »Teil ¬ sein & Teil ¬ haben®« vor. Imke Niediek beschreibt methodische Zugänge zur Kommunikation mit Menschen mit Komplexer Behinderung jenseits von Verbalsprache. Eine Diskussion des Begriffs »Partizipation« aus verschiedenen Blickwinkeln im Kontext der Sozialen Arbeit und ihrer Bezugswissenschaften findet sich im Beitrag von Gudrun Dobslaw. Sigrid Graumann setzt sich mit der Bedeutung von Anerkennung als soziale Person im Zusammenhang mit Wünschen und Bedürfnissen auseinander. Schließlich beschreiben Katrin Schrooten und Karin Tiesmeyer sowohl rechtliche Grundlagen als auch vielfältige Dimensionen des Wohnens für Menschen mit Komplexer Behinderung.
Teil III veranschaulicht den konkreten Prozess der Wohnwunschermittlung im Praxisfeld. Friederike Koch, Detlef Thiel-Rohwetter und Christiane Wilking stellen sowohl die methodischen Ansätze als auch exemplarisch zwei Fallstudien differenziert vor. Die angewandten Methoden werden ebenso beschrieben wie erste Erkenntnisse für den Prozess der Wohnwunschermittlung mit Menschen mit Komplexer Behinderung.
In Teil IV wird die Projektevaluation von Karin Tiesmeyer, Carina Bössing, Gudrun Dobslaw und Dieter Heitmann dargelegt. Dabei wird zunächst das methodische Vorgehen mit Blick auf die Projektevaluation beschrieben. Teil der Evaluation war auch die Frage, inwieweit die partizipative Forschung hinsichtlich der gemeinsamen Arbeit von Menschen mit Komplexer Behinderung gelingt. Schließlich werden die Projektergebnisse aus wissenschaftlicher Sicht in einer übergreifenden Auswertung dargelegt, in der die Wohnwunschäußerung als gemeinsamer Herstellungsprozess beschrieben wird.
Teil V beschäftigt sich mit den Herausforderungen, die sich aus der Umsetzung der Projekterkenntnisse ergeben. Mark Weigand analysiert dazu am Beispiel von Nordrhein-Westfalen die Chancen und Herausforderungen, die aus der Umsetzung des BTHG resultieren. In einem weiteren Kapitel kommen Projektbeteiligte mit ihren Statements zum Projekt zu Wort. Die Herausgeberinnen schließen den Band mit einem resümierenden Beitrag zu den übergreifenden Handlungserfordernissen.
Mit dieser Publikation verbinden wir das Anliegen, Einblicke in die (Wohn-)Wünsche von Menschen mit Komplexer Behinderung zu geben, deren Gestaltungsspielraum weitaus stärker noch als bei anderen Personen von dem Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung und Abhängigkeit bestimmt ist. Wahlmöglichkeiten in der individuellen Lebensführung und erst recht in der Wahl der Wohnform sind für Menschen mit Komplexer Behinderung nach wie vor abhängig von den jeweils geltenden sozialrechtlichen Rahmenbedingungen und weniger von ihren individuellen Wünschen.
Wir hoffen, dass wir mit diesem Band interessante Erkenntnisse zu Wohnwünschen von Menschen mit Komplexer Behinderung zusammengestellt haben, die für Wissenschaft wie für Praxis anregende Impulse geben.
Bielefeld, im Dezember 2021
Prof. Dr. Karin TiesmeyerEvangelische HochschuleRheinland-Westfalen-Lippe | Dr. Friederike Kochv. Bodelschwinghsche Stiftungen BethelBethel.regional |
2 Franz D, Beck I (2015) Evaluation des Ambulantisierungsprogramms in Hamburg. Hamburg: Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (AGFW) Hamburg e. V., S. 164 f.
3 Schäfers M (2008) Lebensqualität aus Nutzersicht. Wie Menschen mit geistiger Behinderung ihre Lebenssituation beurteilen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 329
4 Schäfers M (2008) Lebensqualität aus Nutzersicht. Wie Menschen mit geistiger Behinderung ihre Lebenssituation beurteilen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 158 ff.
5 In diesem Herausgeberband wird hinsichtlich der Pluralformen der »Gender-Stern« oder die neutrale Form genutzt, um alle Geschlechter anzusprechen. Wenn bei bestimmten Begriffen, die sich auf Personengruppen beziehen, nur die männliche Form gewählt wurde, so ist dies nicht geschlechtsspezifisch gemeint, sondern geschah ausschließlich aus Gründen der besseren Lesbarkeit.
6 Die Kooperationspartner sowie die Netzwerke, die das Projekt unterstützt haben, werden in Kap. 2 vorgestellt.