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|54|Einführung
ОглавлениеMit der erfolgreichen Entdeckungsreise von 1492/93, die Christoph Kolumbus in die Karibik führte, begann das Zeitalter der spanischen Expansion auf dem amerikanischen Kontinent. Die spanische Krone konnte sich für ihre Landnahme in der Neuen Welt seit 1493 auf eine päpstliche Schenkungsurkunde berufen, die ihr die bisherigen und künftigen Eroberungen westlich einer durch den Atlantik verlaufenden Demarkationslinie als Besitz überantwortete und sie zugleich mit der Christianisierung der eroberten Gebiete beauftragte. Die Verbreitung des Christentums war freilich nur ein Punkt auf der Agenda der Spanier; die letztlich entscheidende Dynamik ging von den profanen Perspektiven aus: Erwerb neuer Herrschaften und Besitzungen; Kriegsbeute in Gestalt von Gold und Silber; ökonomische Ausbeutung der eroberten Territorien. Opfer der spanischen Expansion in Amerika war die indigene Bevölkerung. Die Eroberer achteten das Leben der Indios (Indianer) oft gering, Grausamkeiten und Gewalttaten begleiteten Conquista und Kolonisation; und unter den neuen Herren lebten die Indios oft in schlimmen Knechtschaftsverhältnissen. Zu der Dezimierung der indigenen Bevölkerung durch die exzessive Arbeitsausbeutung kamen die verheerenden Auswirkungen der Krankheiten hinzu, die die Spanier aus Europa mitbrachten. Es war eigentlich Aufgabe der Krone, die Lage der neuen indianischen Untertanen mit legislativen und administrativen Maßnahmen zu bessern, doch fielen hier die Rücksicht auf die ökonomischen Interessen der Kolonisten und das Interesse an hohen Erträgen aus den neuen Territorien für die Krone selbst stark zuungunsten der Indios ins Gewicht.
Die in den neuen Überseegebieten entstehende Kirche stand unter dem vom Papst verliehenen Patronat – und damit unter dem Einfluss – des spanischen Königs und war in gewisser Weise Teil des spanischen kolonialen Projekts. Dies hinderte kritische Kirchenleute, die in den Kolonien wirkten und die elende Lage der indigenen Bevölkerung erkannten, allerdings nicht, das Unrecht der spanischen Kolonialpraxis von christlicher Warte aus anzuprangern und den Schutz der Indios zu ihrer Sache zu machen. Es waren als Missionare entsandte Dominikanerpatres, die 1511, bald nach ihrer Ankunft in Santo Domingo (auf der karibischen Antilleninsel Hispaniola), mit einem ersten öffentlichen Protest den Kampf um die menschenwürdige Behandlung der Indios aufnahmen. Vorgetragen wurde der Protest in einer Predigt, die der Dominikaner Antonio de Montesinos (auch: Antón Montesino; |55|geb. um 1480 in Spanien; gest. am 27. Juni 1540 in Venezuela) am 21. Dezember 1511, dem vierten Adventssonntag, in der Hauptkirche von Santo Domingo hielt. Ein zeitgenössisches Manuskript von Montesinos’ Predigt hat sich nicht erhalten. Überliefert ist ihr Tenor – ob es sich um den genauen Wortlaut der Predigt handelt, lässt sich nicht sagen – aber in der von Montesinos’ späterem Ordensbruder Bartolomé de Las Casas (1486–1566) verfassten, zwischen 1527 und 1561 entstandenen „Geschichte Westindiens“ (gedruckt erst 1875). Las Casas berichtet auch über die Vor- und die Wirkungsgeschichte der Predigt von 1511.
Der Protest des Priesters und Ordensmannes Montesinos richtete sich insbesondere gegen die Auswirkungen des von der Krone in den neuen Überseegebieten eingeführten Encomienda-Systems (Kommenden-Systems): Die spanischen Kommendenbesitzer erhielten Indios zugeteilt (repartimiento), für deren Lebensfristung, Entlohnung und religiöse Unterweisung sie zu sorgen hatten; dafür bekamen sie das Recht, die Indios zwangsweise für sich arbeiten zu lassen. Faktisch lieferte dies System die Indios der ungehemmten Ausbeutung durch die Kolonisten aus.
Bei Montesinos’ Predigt handelte es sich, folgt man der Schilderung bei Las Casas, um einen genau geplanten, auf Wirkung angelegten Protest, der von dem gesamten Dominikanerkonvent von Santo Domingo ausging. Für den Vortrag wählten die Patres mit Vorbedacht Antonio de Montesinos aus, der als tüchtiger Prediger galt. Den Text der Predigt entwarf wohl Montesinos selbst; er wurde aufgezeichnet und von allen Patres unterschrieben, damit die Predigt nicht als Votum eines Einzelnen abgetan werden konnte. Die in Santo Domingo residierenden Amtsträger und Führungskräfte, darunter der Gouverneur Diego Colón, wurden persönlich zu der Predigt eingeladen. Auch der Zeitpunkt der Predigt war offenbar bewusst gewählt. Das in der Liturgie der Dominikaner für den vierten Adventssonntag vorgesehene Tagesevangelium bot einen passenden Anknüpfungspunkt. In Joh 1,23 beschreibt Johannes der Täufer seine Rolle und Mission mit den Worten: „Ich bin ‚die Stimme eines Rufenden in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn!‘, wie der Prophet Jesaja gesagt hat“. Daran konnte Montesinos anknüpfen und seine eigene Botschaft als „Stimme Christi in der Wüste dieser Insel (i.e. Hispaniola)“ verkünden.
In seiner Predigt prangerte Montesinos die Verbrechen an den Indios im Allgemeinen und insbesondere die exzessive Ausbeutung der Arbeitskraft der Indios und die ihnen aufgezwungenen elenden Lebensbedingungen an; aus bloßer Habgier würden die Geknechteten zu Tode gebracht. Der Dominikaner |56|beharrte darauf, dass man die Indios ohne Wenn und Aber als Menschen zu achten und gemäß dem Gebot der Nächstenliebe zu behandeln habe. Drastisch stellte er seinen Hörern vor Augen, dass die Peiniger der indianischen Bevölkerung in der Gefahr ewiger Verdammnis schwebten. Die königlichen Amtsträger in Santo Domingo fassten die Predigt mit ihrer Kritik an dem von der Krone autorisierten Encomienda-System als Angriff auf die spanische Krone selbst und als Infragestellung ihrer Herrschaft in den Überseegebieten auf und drängten Montesinos massiv zum Widerruf. Der Pater ließ sich aber nicht einschüchtern – im Gegenteil: In einer am 28. Dezember 1511 gehaltenen zweiten Predigt bekräftigte er seine Kritik und erklärte, man werde jenen, die sich in ihrem Verhalten gegenüber den Indios nicht besserten, die Absolution in der Beichte verweigern.
Montesinos’ Predigten lösten auch im Mutterland intensive Diskussionen um Form und Recht der spanischen Kolonialherrschaft und kolonialen Praxis aus; Montesinos selbst vertrat hier 1512 die Position seines Konvents vor König Ferdinand. Schließlich ergingen die „Leyes de Burgos“ (1512; mit den Zusätzen von Valladolid 1513) zum Schutz der Indios – Gesetze, die allerdings unzureichend blieben, weil sie das Encomienda-System als solches nicht aufhoben. Die von Montesinos’ Predigten ausgehenden Anstöße wirkten auch bei Bartolomé de Las Casas, dem heute wohl bekanntesten Anwalt der Indios aus dieser Zeit, fort, mit dem gemeinsam Montesinos 1516 erneut in Spanien für die Sache der Indios warb.
Als Zeugnis christlicher Prophetie gegen den Strom mächtiger säkularer Entwicklungen und Interessen, als mutige kirchliche Intervention, die für die Unterdrückten und Wehrlosen Partei nimmt, ihnen die Stimme der Kirche leiht und für sie Gerechtigkeit, eine menschenwürdige Behandlung und die Zuwendung der Christen einfordert, liest man Montesinos’ Predigt mit Hochachtung. Als erster großer, grundsätzlich angelegter öffentlicher Protest gegen die spanische Kolonialpraxis hat sie historischen Rang. Die Tragödie der indigenen Bevölkerung in der Karibik haben freilich weder Montesinos, der „Rufer in der Wüste“ von 1511, noch Las Casas aufhalten können. „Kaum mehr als ein halbes Jahrhundert nach Beginn der Eroberung ihrer Heimatländer durch Spanien waren die indianischen Völker der Karibik physisch weitgehend vernichtet“1.
Der folgende Textauszug aus Las Casas’ „Geschichte Westindiens“ umfasst die Vorgeschichte und die Abhaltung der Montesinos-Predigt vom 21. Dezember 1511. Entnommen ist der Textauszug der von Mariano Delgado herausgegebenen deutschsprachigen Auswahlausgabe der „Geschichte |57|Westindiens“ mit der Übersetzung aus dem Spanischen von Ulrich Kunzmann.
Thomas Brockmann