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Die Erinnerung an das Paradies

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Die Geschichte ist für die Stadt eine wesentliche Dimension der Erinnerung, im Fall des Landes eröffnet sie dagegen keinen direkten Zugang zum kollektiven Gedächtnis oder allenfalls in Gestalt der Erinnerung an das Beherrschtwerden. Dies gilt besonders für Italien, wo die Bezeichnungen contado für den ländlichen Raum und contadini für die Bauern direkt auf die „gräflichen“, sprich herrschaftlichen Befugnisse verweisen, die die Stadtregenten auch auf das umliegende Land ausübten. Dieser von den Herrschenden bestimmten Erinnerung widersetzt sich eine ganz andere, zeit- und kontextlose, eher geistig-moralische als wirtschaftliche oder politische Unterscheidung, die allseits geteilt wurde. Das Gedächtnis, das innerhalb dieses Konstrukts einen zentralen Platz einnimmt, verweist nicht auf eine historische Chronologie, sondern auf die religiöse Geschichte von Sünde und Erlösung.

Die Aussagen über den moralisch herausragenden Charakter von Feldarbeit und Landleben – im Gegensatz zur Verdorbenheit der Stadtgesellschaft – bilden eine unendliche und ununterbrochene Reihe von Hesiod zu Lew Tolstoi über Jean de La Fontaine und Jean-Jacques Rousseau. Doch selbst ein so weit verbreitetes literarisches Klischee vermag es nicht, der komplexeren Realität eines Elements gemeinsamer Erinnerung Rechnung zu tragen. Um das Jahr 1000 ändert das Klischee seinen Sinn, seine alte Bedeutung als Kritik an der Eitelkeit individuellen Lebens verblasst. Im neuen Rahmen des Dreiständeschemas ist der Bauer – neben den Angehörigen des Ritterstands und der Geistlichkeit – der Vertreter eines Gesellschaftsmodells, in dem seine moralischen Qualitäten anerkannt werden, die alte Gleichsetzung des paysan („Bauer“) mit seinem Etymon paganus („Heide“) aufgehoben ist und dem Landbewohner eine besondere Würde zuerkannt wird. Ein Zeichen dafür ist die Gleichsetzung des pflügenden Bauern mit dem ersten Menschen, dem Paradiesgärtner Adam. Diese geht auf Augustinus zurück, insbesondere auf seinen Kommentar der Schöpfungsgeschichte, der Genesis, der vermutlich für die Predigten in ländlichen Gemeinden verwendet wurde. Die ikonografische Darstellung Adams als Gärtner oder Pflüger dürfte jedenfalls eine bildliche Spur derartiger Praktiken sein. In der Hymne auf die Schöpfung, als die man die Glasfenster der Kathedrale von Chartres betrachten darf, haben die Pflüger des Nachbarorts Nogent es jedenfalls so weit gebracht, dass in einem großen Fenster des Kirchenschiffs ein Bauer mit seinem Pflug thront.

In diesen Zusammenhang gehört auch die Darstellung des Bauern als friedlicher, unbewaffneter und zugunsten aller Stände der Natur dienender Mensch, die zur gleichen Zeit, ab dem 11. Jahrhundert, von den Bewegungen des „Gottesfriedens“ (Pax Christi) und der „Waffenruhe Gottes“ (Treuga Dei) verbreitet wurde. Zahllos sind die volkssprachlichen, also für Bauern verständlichen Verserzählungen, in denen diese ideale Verkörperung des gerechten Menschen und damit der christlichen Ordnung auftritt. Eine der ältesten Versnovellen, der oberdeutsche Text Meier Helmbrecht, der wohl aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammt, lässt einen Bauern, der seinen Sohn davon abbringen will, in die Stadt und an den Hof zu gehen, wo sein Seelenheil in Gefahr wäre, wie folgt sprechen:

Allein, mein Sohn, erst hör‘ mich an,

Bevor du rüstest deine Fahrt:

Es lernt sich schwer des Hofes Art

Für den, der seinen Lebenslauf

Nicht dort geführt von Jugend auf.

Ich rate dir, bei’m Pflug zu bleiben,

So will ich dir den Stier antreiben.

Mit mir zusammen baue du

Das Feld, und gehst du einst zur Ruh,

So segnet jeder Gute dich,

Und du stirbst ehrlich, so wie ich.

Wie ich mit Wahrheit sagen kann,

Bin ich ein unbescholt’ner Mann;

Ich bringe treulich alle Jahr,

Wie sich’s gebührt den Zehnten dar,

Und lebte alle meine Zeit

Friedfertig in Zufriedenheit.6

Ein Jahrhundert später begegnen wir in einem englischen Versroman, der in drei Versionen vorliegt und dem ein landesweiter Erfolg beschieden war, einem anderen Landmann, dem Pflüger Piers Plowman. Diesem fällt die ebenso spirituelle wie ganz konkrete Aufgabe zu, eine von Verderbnis und Verzweiflung bedrohte Gesellschaft zu retten. In einer der Reden, mit denen er sich an die englische Gesellschaft wendet, wird das Dreiständeschema anhand des Mannes hinter dem Pflug erneuert und sein Leben wie seine Arbeit werden als Pilgerreise zur Wahrheit Gottes dargestellt:

„Ich werde mich wie ein Pilger kleiden“, sagte Piers,

Und all die begleiten, die in der Wahrheit leben wollen.“

Er zog seine Kleidung an, die für jede Arbeit taugte,

Seine Beinkleider, seine Arbeitshandschuhe, wie es der gesunde Menschenverstand ihm eingab,

Statt einen Korb zu tragen, hängte er sich eine Tasche um den Hals,

In die er zuvor ein Scheffel Weizen geschüttet hatte.

„Wenn ich alles ausgesät haben werde, mache ich mich

Auf die Pilgerreise, wie die anderen Pilger, damit mir vergeben werde.

Der Schaber zum Reinigen des Pflugs und zum besseren Ziehen von Furchen,

Wird mir als Stock dienen, um die Wurzeln beiseite zu schieben,

Und alle, die mir helfen zu pflügen und zu säen,

Werden, dank Unserem Herrn, mit mir ernten können,

So viel sie wollen, auch wenn es manchem Griesgram nicht gefällt.

Und für alle guten Hand-Arbeiter, die in der Wahrheit leben,

Werde ich genügend Nahrung finden, damit sie im Glauben leben.“7

Machen wir es uns nicht zu leicht mit der anscheinend naiven Morallehre dieser Texte. Es geht hier um mehr als das bloße Nachbeten der Gebote der Gewaltlosigkeit, wie sie in der Heiligen Schrift und der Liturgie enthalten sind, um mehr als das bloße Lob des sozialen Konformismus. Zwischen dem 11. und dem 14. Jahrhundert entsteht mit dem Gesellschaftsmodell der drei Stände ein zugleich geistig-moralisches, anthropologisches und politisches Bild vom Stand der arbeitenden Bevölkerung. Eine in der europäischen Geschichte beispiellose Zeit landwirtschaftlichen Wachstums erklärt die Herausbildung einer Weltsicht, in der ihre Arbeit, die als freie, nicht erzwungene oder abgepresste dargestellt wird, das Pendant zur Tätigkeit der Ritter, die mit geregelter und beschützender, also gesellschaftlich nützlicher Gewaltausübung verbunden ist, und zum Beten der Geistlichen und ihren Sakramenten bildet. Ein derartiger Pakt verlangt beiden Seiten etwas ab und so findet die Nichtbeachtung ihrer Verpflichtungen durch die beiden anderen Stände beziehungsweise durch die Städter ihre Antwort in den Aufständen der Bauern.

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