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Von der Bestie des Gévaudan zum Rotkäppchen
ОглавлениеDer schreckliche Werwolf, der Hexer, der sich in regelmäßigen Abständen in einen wütenden Wolf verwandelt und die Menschen angreift, tauchte im Kontext dieses „Kriegs gegen die Wölfe“ auf. In dieser Zeit massiver Hexenprozesse nahm das Bild des in einen Wolf verwandelten Hexers alle negativen anthropomorphischen Merkmale dieses Tiers auf und die Untersuchungsberichte mancher spektakulärer Prozesse in Frankreich und in Deutschland entfalteten diese Gestalt, um aus ihr ein blutrünstiges Monster zu machen.
Indessen ging die Ausrottung der Wölfe weiter. Die Panik, die von mordenden Wölfen ausgelöst wurde, etwa die Furcht vor der Bestie von Gévaudan im Jahr 1764, einer riesigen, unglaublich aggressiven Kreatur, die vor allem Kinder tötete, führte zu aktiven Vergeltungsmaßnahmen. Die größte Veränderung brachte die Revolution, die die Bauern bewaffnete, indem sie ihnen das Jagdrecht gewährte und Prämien für jeden getöteten Wolf bot. Während des ganzen 19. Jahrhunderts wurden in Frankreich Zehntausende von Wölfen massakriert, die deshalb am Rande des Aussterbens waren.
Gleichzeitig wurde die Angst vor dem Wolf in den Sagen verewigt und in den Fabeln von Jean de La Fontaine und später den Märchen der Brüder Grimm popularisiert. Im modernen Europa kennen alle Kinder den schrecklichen Wolf des Rotkäppchens. Die Geschichte von Mowgli in Kiplings Dschungelbuch (1894) bildet nur teilweise ein Gegengewicht zu dieser erschreckenden Erinnerung.
Die Wölfe, die in der gesamten europäischen Geschichte Zehntausende menschliche Opfer verursacht haben, scheinen im menschlichen Gedächtnis lebendiger als die schrecklichen Pestseuchen zu sein, die für Hunderte Millionen Opfer in Europa und anderswo verantwortlich waren. Das lange Epos der Auseinandersetzung des Menschen mit diesen wichtigen Raubtieren ergibt natürlich Sinn, vor allem, weil es gut endet. Der mit anthropomorphen Eigenschaften ausgestattete Wolf erscheint allzu menschlich („Homo hominis lupus est“ – der Mensch ist ein Wolf für den Menschen, heißt es bei Thomas Hobbes, der ein Sprichwort aus der Antike aufgegriffen hat) und der anhaltende Antagonismus zwischen dem Menschen und ihm steht für den Gegensatz zwischen Natur und Kultur, Wildnis und Zivilisation. Die Erinnerung an diesen langen Kampf ist auch ein Sieg der Menschheit über die brutalen tierischen Triebe, ein Kampf, der eine psychologische Bedeutung besitzt und traumatische Erinnerungen für die Menschen mit sich bringt, die sich auch in den Glaubensvorstellungen im Zusammenhang mit den Werwölfen widerspiegeln, wie Sigmund Freud und Robert Eisler erkannt haben.
Angesichts dieser Erinnerungen, die einen Sinn besitzen, bieten der Schock des Schwarzen Todes und die Geschichten von Seuchen ganz allgemein weniger Mittel und Möglichkeiten, dieser Gefahr ein Ende zu setzen – die Erzählungen können nur von einem unvermeidlichen Verlust oder vom Überleben dank des Glücks handeln. Die menschlichen Bemühungen, um die Ursachen zu verstehen und die Heilmittel für diese Geißel zu finden, waren lange Zeit fruchtlos. Mit den modernen Entdeckungen und dem (mehr oder weniger) vollständigen Verschwinden der Pest hat man eher vorgezogen, zu vergessen als sich zu erinnern. Doch die Pest ist dennoch ein aktiver Erinnerungsort: Die Furcht, andere Geißeln auftauchen zu sehen, bleibt lebendig.