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GÁBOR KLANICZAY Die Pest und der Wolf

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Der vermutlich aus Afrika gekommene Schwarze Tod breitete sich ab 1348 nach und nach in ganz Europa aus und tötete nahezu die Hälfte der Bevölkerung. Er wurde als die Manifestation eines göttlichen Zorns wahrgenommen. Der Wolf ist die andere Verkörperung einer zerstörerischen Natur, die Panik erzeugt. Aber er bietet dem Menschen die Möglichkeit, zu kämpfen.

Triumph des Todes (1597) von Jan Brueghel d. Ä. 1597: Ausschnitt mit Tod und König, Tod und Kardinal (Kopie nach dem Triumph des Todes, um 1560/62, von Pieter Bruegel d. Ä.).

Hat die Menschheit – abgesehen von den zwei Weltkriegen des 20. Jahrhunderts und vielleicht den Auswirkungen der Pocken und Masern auf die indigenen Völker in Amerika am Beginn der Neuzeit – eine größere kollektive Erfahrung des Massensterbens gemacht als der Schwarze Tod von 1348 bis 1353? Nach Schätzungen hat die Beulenpest zwischen 30 und 60 Prozent der Bevölkerung des mittelalterlichen Europas und des östlichen Mittelmeers hinweggerafft. Der florentinische Chronist Matteo Villani, ein Zeitgenosse der Katastrophe, verglich sie mit der Sintflut und griff das damals häufigste Bild seiner tieferen Ursache auf: eine göttliche Strafe aufgrund der Sünden der Menschen. Die Drohungen der Propheten des Alten Testaments klangen nach. Villani schrieb: „Ich habe beschlossen, mit den vielfachen und verheerenden Ereignissen zu beginnen, die wir derzeit in dieser Erneuerung der Zeit und der Welt erleben, indem ich in jedem Jahr die neuen Ereignisse anführe, die würdig erscheinen festgehalten zu werden …“ Die Erinnerung an die Pest wird auch von Giovanni Boccaccio weitergetragen, dessen Dekameron ein direktes Zeugnis davon liefert, auf welche Weise „in die schöne Stadt Florenz, die vor allen andern in Italien so schön ist, das tödliche Pestübel gelangte“. Er beschreibt, wie sich die Krankheit in der Stadt ausbreitete, „wie das Feuer trockene oder brennbare Stoffe ergreift“, von Haus zu Haus, und wie es Familien zerstörte: „Aber mit solchem Schrecken hatte dieses Elend die Brust der Männer wie der Frauen erfüllt, daß ein Bruder den andern im Stich ließ, der Oheim seinen Neffen, die Schwester den Bruder und oft die Frau den Mann, ja, was das schrecklichste ist und kaum glaublich scheint: Vater und Mutter weigerten sich, ihre Kinder zu besuchen und zu pflegen, als wären es nicht die ihrigen.“1 Diejenigen, die nicht flohen, gaben sich allerlei Ausschweifungen hin, andere wieder vermieden möglichst die Kranken und nur die wenigsten standen den Kranken bei und zeigten wahres Mitleid. Die als Motto gewählte Pest bildet nicht nur den Hintergrund des Dekameron: Sie ist eher der Auslöser dieser Erzählung der zehn Tage, ein „Schlüssel für den Sinn“.

Der Bericht von Boccaccio beruht auf persönlichen Beobachtungen, wurde aber, wie die philologische Forschung nachgewiesen hat, sicherlich auch von seinen historischen Lektüren beeinflusst. Sein unmittelbares Vorbild könnte die Beschreibung sein, die Paul Diacre von der Justinianischen Pest des 6. und 7. Jahrhunderts geliefert hat: „Die Söhne flohen und lassen die Leichen ihrer Väter ohne Grab zurück. Die Eltern vergaßen ihre tief eingefleischte Frömmigkeit und verließen in der Fieberglut ihre Kinder.“2 Über diese interessanten philologischen Entsprechungen hinaus muss man einen anderen Aspekt festhalten: Die historische Erinnerung ist in einen von der Erfahrung gespeisten Text wie eine Art geheime Struktur integriert.

Die Pest kam 1347 über Kaffa, eine Provinz im Südosten Äthiopiens (Interpretationsvariante: oder über Caffa, eine genuesische Kolonie im Schwarzmeerraum), Konstantinopel, Kairo und Messina, befiel Anfang 1348 die Häfen und das Hinterland in Italien, bevor sie sich rasch in Frankreich, Spanien, England, Deutschland und über das Baltikum in Skandinavien ausbreitete, bis sie 1352 Nowgorod und Moskau erreichte. Die Erinnerung an sie wurde auch dadurch weitergetragen, dass sie vier Jahrhunderte lang bis um 1730 mit unvorhersehbarer Intensität und Regelmäßigkeit von Neuem auftrat. Jean-Noël Biraben hat für Frankreich in einem Zeitraum von 189 Jahren 16 größere Epidemien und acht kleinere identifiziert, das heißt alle acht Jahre eine. Eine zweite Serie zwischen 1536 und 1670 war durch neun größere und drei kleinere Wellen gekennzeichnet, also einen Abstand von elf Jahren. Die Erinnerung an die wiederkehrenden Pestseuchen wurde auch von berühmten Intellektuellen wie Francesco Petrarca, Marsilio Ficinus, Niccolò Machiavelli, Martin Luther oder Daniel Defoe verewigt. Doch keine dieser Wellen erreichte die Intensität des Schwarzen Todes, der dadurch zu einem bedrohlichen Erinnerungsort wurde.

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