Читать книгу Europa - Группа авторов - Страница 43

Der bilaterale und multilaterale Shakespeare

Оглавление

In First Sitting von Charles Kelsall sind die bilateralen und multilateralen Beziehungen zwischen dem britischen Autor und dem restlichen Europa bereits angesprochen. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelte zum Beispiel Deutschland einen komplexen nationalistischen Kult um den Mann von Stratford, der in der Überzeugung gipfelte, man müsse Shakespeare als deutschen Autor anerkennen („Unser Shakespeare“, Frank Günther, 2014). Man kann dieser Tradition Goethes Gedenkrede Zum Schäkespears Tag (1771) zuordnen – ebenso wie sein gemeinsames Projekt mit Schiller, die Histories zum Modell für eine Geschichte der deutschen Nation zu nehmen. Deshalb gab die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft bei ihrer Gründung 1864 (dreihundertster Geburtstag Shakespeares) an, ihre Hauptaufgabe sei es, besonders die Histories zu bewahren. Adolf Hitler selbst sprach in seinen Tischgesprächen in diesem Sinn von Shakespeare und der Gattung des deutschen historischen Dramas.

Der Nationalismus des 19. Jahrhunderts förderte auch eine Art deutschnationale Identifikation mit der Gestalt Hamlets. Der Dichter Ferdinand Freiligrath etwa zog 1844 eine Parallele zwischen einem politisch machtlosen Deutschland und dem von Zweifeln befallenen dänischen Prinzen. Dieses Urteil führt geradewegs zur Strategie des Kaisers Wilhelm II., der beim Kriegsausbruch 1914 über seinen Propagandadienst Postkarten mit folgender Botschaft veröffentlichen ließ: „Um sein oder nicht sein handelt es sich.“ Zur selben Zeit zitierte merkwürdigerweise auch Frankreich, um sich zu verteidigen, Hamlet und machte so ein bilaterales Problem zwischen England und Deutschland zu einem multilateralen Problem. Bereits am 11. August 1914 – knapp eine Woche nach der Kriegserklärung – veröffentlichte die rechtsgerichtete Zeitung La Croix einen kurzen Artikel zur Vereinnahmung des berühmten „Sein oder Nichtsein“ durch die Deutschen: Offenbar hielt es der deutsche Kaiser, als er gegen „eine Welt von Feinden“ in den Krieg zog, für angebracht, Hamlet zu zitieren. Aber hätte er nicht besser Folgendes schreiben sollen: „Es ist etwas faul in Deutschland, der Deutsche hat sich der Schande und der Barbarei ausgeliefert“? Diese Reaktion blieb nicht die einzige. Als die deutsche Armee signifikante Verluste hinnehmen musste, erinnerten die französischen Zeitungen den Kaiser an sein Shakespeare-Zitat. Nun wurde der Kaiser als Hamlet vorgestellt, der sich wie folgt an einen Schädel mit preußischer Pickelhaube wandte: „Sein oder nicht mehr sein …“ Die Karikatur wurde zuerst am 20. August 1915 auf der ersten Seite von L’Écho de Paris publiziert und dann für ein breiteres Publikum und für längere Zeit von der populären Zweimonatszeitschrift Messidor verbreitet.

Das Kollektivgedächtnis Shakespeares wurde anlässlich seines 300. Todestages 1916 direkt durch den Krieg zwischen Frankreich und Deutschland beeinflusst. Am 30. April 1916 wurde in Paris vor der Statue des Dichters am Boulevard Haussmann Nr. 134 eine Gedenkzeremonie abgehalten. Der Präsident der Société du Souvenir littéraire (Gesellschaft des literarischen Gedenkens), Camille Le Senne, bezeichnete Shakespeare als ein „Bindeglied“ zwischen England und Frankreich. Seiner Meinung nach konnte die von den „Barbaren“ bedrohte Zivilisation nicht genug „tatkräftige Vorbilder“ haben. Aber in diesen Zeiten des Krieges war nicht alles vorhersehbar und gegen Ende der Zeremonie geschah etwas Unerwartetes: „In diesem Augenblick kamen mehrere russische, italienische, serbische Soldaten den Boulevard Haussmann herab und schlossen sich den Bewunderern des großen Dichters an.“ Die Presse sah in dieser gemeinsamen Kundgebung ein Symbol für die Allianz aller zivilisierten Völker, die den Sieg der Zivilisation über die Barbarei erhofften.

Anderswo in Europa waren die Gedenkveranstaltungen in diesem Jahr weniger von Antagonismen geprägt. Die auf der Insel Man internierten deutschen Kriegsgefangenen spielten Shakespeare für ihre englischen Bewacher, während die zivilen britischen Gefangenen im Lager von Ruhleben (Berlin) die Erlaubnis erhielten, ein einwöchiges Festival zu Ehren des Barden zu organisieren. Es scheint allerdings, dass in diesen zwei Fällen Propagandazwecke möglicherweise die Berichterstattung, auf die wir uns stützen müssen, beeinflusst haben.

Europa

Подняться наверх