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Den Mechanismus der Welt denken
ОглавлениеEr will sich nämlich nicht mehr damit begnügen, Maschinen zu bauen. Er träumt von sich als dem Denker des großen Weltmechanismus. Und wie, um mit Daniel Arasse zu sprechen, den „Rhythmus der Welt“ denken, das heißt die universelle Kadenz, die den Rhythmus des Mikrokosmos und des Makrokosmos, die in einer selben analogen Struktur vereint sind, bestimmt, als ihn zu zeichnen? Leonardo zeichnet nicht, was er sieht, sondern das, was er von dem versteht, was er sieht. Denn verstehen und darstellen sind für ihn ein und dieselbe Denkoperation. Wenn man um jeden Preis den Erfinder Leonardo retten will, kann man folgende Erfindung im Gedächtnis behalten: Der florentinische Ingenieur hat eine globale Methode der Darstellung der Wirklichkeit entwickelt.
„Dank meiner Zeichnung“, schreibt Leonardo stolz, „kannst du jedes Detail und jede Gesamtansicht erkennen, als ob du die Komponenten selbst in der Hand hättest und nach allen Seiten wenden würdest“ – und was für seine anatomischen Sezierzeichnungen gilt, gilt auch für das sfumato, das den Hintergrund seiner Gemälde verschleiert, von Anna Selbdritt (1503–1519) zur Mona Lisa (1504–1514). Wenn Giorgio Vasari, der Erfinder dessen, was wir heute Kunstgeschichte nennen, über Leonardo schreibt, er „habe nicht nur einen Beruf ausgeübt, sondern alle diejenigen, an denen die Zeichnung beteiligt ist“, so klingt das nur scheinbar banal. Im politischen System der Renaissancehöfe erlaubt es die Kunst des Zeichnens als Ausführung des Ideals dem technischen Wissen eines Ingenieurs, in den Rang einer Wissenschaft zu gelangen.
Und deshalb findet man hier die Idee der Renaissance selbst in ihrer Einheit und Universalität wieder: Man weiß heute besser, wie eng die Fortschritte in den bildenden Künsten und in den wissenschaftlichen Experimenten miteinander verbunden waren. Mithilfe seiner Zeichenkunst glaubt Leonardo den Widerspruch zwischen Theorie und Praxis überwinden zu können, indem er eine rein anschauliche Methode des Experiments konzipiert. Nunmehr wird er als „Philosoph“ in der Gesellschaft der Mächtigen begrüßt – nicht mehr nur, um Maschinen zu konstruieren, sondern auch, um den großen Weltmechanismus zu begreifen, dessen rhythmische Analogie er aufzudecken sucht.
Musik, Malerei, Anatomie, Mathematik: Alles trifft in den Aktivitäten des „Universalmenschen“ zusammen, der sich auch im Theater des Ruhms mit seinem gewollt exzentrischen Benehmen Geltung verschafft. Indem er mit dieser souveränen Nonchalance, die um ihn herum großen Eindruck macht, spielt, arbeitet Leonardo an der Definition eines neuen Habitus des modernen Künstlers, dem in Europa eine lange Laufbahn beschieden sein sollte.
„Er führt ein wechselhaftes und sehr unregelmäßiges Leben, sodass er von einem Tag zum andern zu leben scheint“, notiert ein Zeitgenosse voller Bewunderung. Die Langsamkeit und offensichtliche Lässigkeit, mit denen Leonardo malte, waren für seine Auftraggeber umso ärgerlicher, als sie in Wirklichkeit nur die stolze Äußerung einer fundamentalen Freiheit waren: die der schöpferischen Muße, die mit den Anforderungen der Werkstattarbeit bricht. So beschreibt ihn Matteo Bandello, der Neffe des Priors von Santa Maria delle Grazie in Mailand. Als er Das letzte Abendmahl malt, pflegt Leonardo sein Image eines inspirierten Künstlers, weit entfernt vom braven Ideal der handwerklichen Meisterschaft. Er kann zwei Tage lang durchmalen, „ohne zu essen und zu trinken“, um dann seine Arbeit mehrere Tage lang liegen zu lassen und vor dem Fresko, „in dessen Betrachtung versunken“, zu stehen oder eiligst davonzulaufen, um am Guss des Reiterstandbilds von Francesco Sforza zu arbeiten.