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Eine politische Jeanne d’Arc
ОглавлениеDas 19. Jahrhundert als Zeitalter des Nationalismus brachte dann auch eine historisch neue „Nationalisierung“ Jeanne d’Arcs. Zunächst von den liberalen und romantischen Historikern Frankreichs zur Verkörperung des peuple stilisiert, das mit ihr beginnt, die Freiheit zu erringen, die in der Revolution münden sollte, wurde die Jungfrau bald zum Zankapfel zwischen dem „linken“ und dem „rechten“ Frankreich. Während für die Linke (oft bis heute) Jeanne eine populäre Heldin war, die „von ihrem König verraten und von der Kirche verbrannt“ worden war, sah die Rechte in ihr die Hand Gottes wirken, die dieser erhoben hatte, um zu zeigen, wie heilig ihm die französische Monarchie ist. Als der monarchische Gedanke mit den 1870er-Jahren definitiv verblasste, war der Weg auch frei für die Kirche, die Tatsache anzuerkennen, dass Jeanne d’Arc tatsächlich zu Unrecht verurteilt und hingerichtet worden war. Und 1867 erreichten die französischen Bischöfe unter Führung des Bischofs von Orléans, Félix Dupanloup, dass der Vatikan den Heiligsprechungsprozess in Gang setzte. Jeanne d’Arc, so die Begründung, sei unbedingt für ihren Glauben eingetreten und hätte deshalb ein regelrechtes Martyrium erleiden müssen. Der Prozess gestaltete sich langwierig, wurde mehrfach unterbrochen, zuletzt in der Zeit des Ersten Weltkrieges, aber anschließend rasch zu Ende geführt. Am 16. Mai 1920 ist die Jungfrau vom Vatikan heiliggesprochen worden. Und nur eine Woche später, am 24. Mai, richtete Frankreich auf Vorschlag von Maurice Barrès ihr zu Ehren einen Nationalfeiertag ein. Diese doppelte Aktion war wie die Besiegelung einer neuen Einigkeit zwischen katholischer Kirche und der Republik, die nunmehr auch bereit war, die konservativen Katholiken als integralen Bestandteil zu akzeptieren.
Die „Erhebung zu den Altären“ und der Nationalfeiertag machten indessen aus der Pucelle eine Art sowohl universelle als auch nationale Instanz. Das hatte zur Konsequenz, dass sich Jeanne d’Arc für den extremen Nationalismus der 1920er- und 1930er-Jahre und auch für die Agitation der Linken sehr viel weniger stark instrumentalisieren ließ, als dies im 19. Jahrhundert der Fall gewesen war.
Interessant ist, dass nach dem Ersten Weltkrieg, als Jeanne d’Arc also nur noch sekundär Gegenstand des politischen Streits war, sie erstmals seit Schiller wieder als Figur der Weltliteratur Geltung fand. George Bernard Shaws ebenso sympathisch-einfühlende wie bitter-ironische Joan of Arc aus dem Jahr 1923 ist heute noch ein lesenswertes Stück dichterischer Reflexion über die Macht des freien Denkens und die Vernichtung individueller Größe durch die Bürokratie des verordneten Heils. War Jeanne bei Shaw die „erste Protestantin“, so hat Bertolt Brecht es in seinen verschiedenen Adaptierungen des Jeanne-Stoffes zur sozialkritischen Parabel (Die heilige Johanna der Schlachthöfe, Die Gesichter der Simone Marchand, Der Prozess der Jeanne d’Arc zu Rouen) besonders auf das Problem von Herrschaft und Glauben, von individuellem Protest und gesellschaftlichen Zwängen abgesehen. Die Tatsache, dass letzteres Werk über weite Strecken wörtlich aus den Akten des Verdammungsprozesses von 1431 zitiert, mag als Zeugnis dafür dienen, wie lebendig Jeanne bis heute durch ihre Prozessaussagen wirkt.