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TON HOENSELAARS Wie Shakespeare den Europäer erfunden hat

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Seit dem 17. Jahrhundert in England vergöttert, ist William Shakespeare in ganz Europa zu einer literarischen Referenz geworden. Sich auf das griechisch-römische Erbe beziehend, die europäische Landkarte von Italien über Russland bis Dänemark durchquerend, hat der Verfasser des Hamlet Europa ins Zentrum seines Universums gestellt.

Eine der größten Touristenattraktionen in Verona: der angebliche Balkon der Capuletti.

Im Lauf der letzten 400 Jahre und besonders seit dem Beginn der Romantik am Ende des 18. Jahrhunderts haben sich die meisten, wenn nicht alle Länder Europas im Bestreben, ihre kulturelle, ethnische und sprachliche Identität zu definieren, heimischen Autoren zugewandt, die die Nation verkörpern sollten. Dank einer kontinuierlichen Abfolge von Festakten und Gedenkfeiern wurden diese Schriftsteller auf ein Podest gestellt, wurden aufgrund ihrer Geburt und der ihnen zugeschriebenen kulturellen und sprachlichen Errungenschaften zu Botschaftern ihrer Nation. So hat England im Lauf der Jahrhunderte William Shakespeare als Nationaldichter anerkannt, Portugal Luís de Camões, Spanien Miguel de Cervantes, Italien Dante Alighieri, Deutschland zugleich Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich von Schiller, Russland Fjodor Dostojewski und Alexander Puschkin. Was Frankreich betrifft, so hat es besonders während der politischen Verwerfungen des 19. Jahrhunderts die respektiven Meriten von Pierre Corneille, Jean Racine und Molière gegeneinander abgewogen. Diese Handvoll mehr oder weniger kanonisierten Autoren sind aber nur die Spitze des Eisbergs. Ihr weltweiter Ruhm überstrahlt tendenziell den unzähliger anderer europäischer Dichter, deren Namen wohl nur die Bewohner ihres Wirkungsgebiets kennen: Alberto Salvadó (Andorra), Christo Botew und Iwan Wasow (Bulgarien), William Heinesen (Faröer-Inseln), Georges Métivier (Guernsey) und viele andere.

Mag auch die Kulturgeschichte Europas in allen Ländern traditionelle Festakte und Gedenkfeiern für die lokalen literarischen Größen aufweisen, so gebührt der Ehrenplatz unzweifelhaft Shakespeare. Die kultische Verehrung Shakespeares in England geht auf den Beginn des 17. Jahrhunderts zurück. Diese sehr frühe Tradition ist die Erklärung dafür, dass andere Nationen diesen „ausländischen“ Dramatiker und Dichter zum Vorbild genommen haben. Joep Leerssen und Ann Rigney zeigen, dass die Erinnerungskultur zugunsten anderer Autoren in ganz Europa mit Shakespeare angefangen und sich, von ihm ausgehend, entfaltet hat. So ist Schiller der „deutsche Shakespeare“ geworden und Theodore Rodenburg ist zum „holländischen Shakespeare“ ernannt worden. Shakespeare wurde schließlich zur „Referenz des kanonischen Status schlechthin“, zum Maßstab, an dem spätere Schriftsteller gemessen worden sind.

Diese Modellfunktion erklärt, warum zahlreiche Nationen erstaunlicherweise dazu gekommen sind, parallel zu ihren eigenen literarischen Größen Shakespeare zu huldigen. Der Ruf von Cervantes und der Shakespeares waren lange eng miteinander verknüpft. Aber Shakespeare ist auch als dritter klassischer deutscher Autor nach Goethe und Schiller gefeiert worden. Und die meisten europäischen Länder haben besondere Institutionen geschaffen, um Shakespeare zu ehren und zu studieren.

Überall in Europa bewahrt und überliefert die Referenz auf Shakespeares Werk die Erinnerung an die „originalen“ Dramen und Gedichte. Shakespeare hat das Gesicht Europas verändert. Ihm ist es zu verdanken, dass Verona die Erinnerung an Romeo und Julia und ihre Tragödie pflegt, die sich in Wirklichkeit in Süditalien abgespielt hat. Die Casa di Giulietta hat trotz ihres nicht sehr shakespeareschen Balkons, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinzugefügt worden ist, um Touristen anzulocken, einen gewissen Charme. In Helsingør in Dänemark kann der Fan am Grab Hamlets verweilen oder, bevor er eine Fischsuppe Ophelia zum Mittagessen verspeist, den Park besuchen, der sich rühmt, den Teich zu beherbergen, in dem die Unglückliche ertrank.

Auch wenn in vielen Ländern Shakespeare kein integraler Bestandteil der Tourismusindustrie geworden ist, findet man doch überall auf dem europäischen Kontinent Statuen, Büsten, Tafeln, Bilder, Straßen- und Gartennamen, die an ihn erinnern. Er schmückt die Fassade der Semperoper in Dresden und dominiert den Eingang zur Ehrengalerie des Reichsmuseums in Amsterdam. Shakespeares Dramen werden in Europa öfter gespielt als die eines jeden heimischen Dramatikers. Von einem Ende des Kontinents zum andern baut man Repliken der shakespeareschen Bühnen nach, um so genau wie möglich die ursprüngliche Aufführungspraxis zu rekonstruieren. Die Idee, am Südufer der Themse eine Londoner Replik des Globe-Theaters zu bauen, konnte gewiss jedem einfallen, aber um ein allgemeineres Phänomen scheint es sich bei den Rekonstruktionen dieses Theaters in Neuss am Rhein, in der Abteilung „England“ im Europapark in Rust (in Baden-Württemberg), im Park der Villa Borghese in Rom oder in der holländischen Ortschaft Diever zu handeln, wo örtliche Laienschauspieler seit 1946 jedes Jahr Shakespeare aufführen.

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