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Veränderungen und große Zusammenhänge

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Zwischen 1750 und 1914 wuchs die Weltbevölkerung von 720 auf 1825 Millionen Menschen. Die Weltbevölkerung wurde aber nicht nur zahlreicher, sondern auch europäischer und amerikanischer, während die Anteile des großen Asien und Afrikas zurückgingen. In derselben Zeit kam es in den westlichen Ländern zu zwei fundamentalen demographischen Vorgängen: zum Entkommen aus der „malthusianischen Falle“ und zum demographischen Übergang. Beide haben mit diesem zunehmenden Gewicht des Westens zu tun und blieben nicht auf die westlich-nordatlantische Welt beschränkt.

Ausbruch aus der „malthusianischen Falle“

Mit dem Begriff der „malthusianischen Falle“ wird ein Grundproblem praktisch aller Gesellschaften der Vormoderne bezeichnet: Tendenziell blieb wirtschaftlicher Fortschritt, auch wenn er möglich war, nutzlos, denn dort, wo mehr Produkte – vor allem Lebensmittel – hergestellt wurden, konnten auch mehr Menschen überleben. In der Vormoderne führte Bevölkerungswachstum stets zu einem Verfall der Löhne und Anstieg der Lebensmittelpreise, und hohe Preise hatten Hungerkrisen und erhöhte Sterblichkeit zur Folge. Im linken Teil von Grafik 1 kann man diesen Zusammenhang für England klar sehen: Auf der horizontalen Achse ist der Reallohn seit dem 14. Jahrhundert eingetragen, auf der linken vertikalen die Bevölkerungsgröße. Die einzelnen mit einer durchgezogenen Linie verbundenen Punkte bestehen jeweils aus den für bestimmte Zeitpunkte oder Zeiträume ermittelten gleichzeitigen Werten von Reallohn und Bevölkerungsgröße. In England galt bis ins 17. Jahrhundert: Je größer die Bevölkerung, desto geringer der Reallohn. Danach (rechter Teil der Grafik) begann der Reallohn trotz etwa gleichbleibender Bevölkerung anzusteigen, und ab etwa 1800 kletterten sogar beide – Bevölkerung und Reallöhne – gleichzeitig. Ein ähnliches Umkippen des Fundamentalzusammenhanges von Bevölkerung und Reallohn ist auch in anderen Ländern, etwa in Deutschland, beobachtet worden, nur dass dieser Prozess dort später einsetzt.


Verteilung der Weltbevölkerung um 1750 (nach: Dupâquier/Bardet 1998, Nordamerika korrigiert nach Ubelaker 1988).


Verteilung der Weltbevölkerung um 1914 (nach: Dupâquier/Bardet 1998 und nach Maddison 2001).


Grafik 1: Reallohn und Bevölkerung in England (Reallöhne von Londoner Bauarbeitern nach Allen 2001 [Gramm Silber pro Tag, dividiert durch in Gramm Silber bemessene Kosten eines Warenkorbs lebensnotwendiger Güter in Straßburg um 1745–1754]; Bevölkerung nach Clark 2007a).

Den als malthusianische positive checks fungierenden Hungerkrisen konnten Bevölkerungen durch den preventive check entgehen, wenn sie gar nicht erst so stark anwuchsen und stattdessen weniger Kinder zur Welt kamen. Das konnte dann zu einem dauerhaft höheren Pro-Kopf-Einkommen führen – jedoch nur in begrenztem Maße, denn bis zum Aussterben konnte man diese Strategie nicht gut treiben. Anders als ein verändertes Heirats- und Geburtenverhalten konnte technologischer Fortschritt das Einkommensniveau jedoch nicht dauerhaft anheben; er führte unweigerlich zu mehr Überlebenden und damit wieder zu demselben Pro-Kopf-Einkommen für eine gewachsene Bevölkerung. Dieser theoretisch und empirisch bis in die Frühe Neuzeit gut belegbare Zusammenhang brach zwischen 1700 und 1800 zunächst in England auf. Männer und Frauen heirateten jünger und blieben seltener ledig, die Bevölkerungszahl nahm zu, aber die Preise stiegen nicht mit an, und die Durchschnittseinkommen wuchsen mit einiger Verzögerung, anstatt zusammenzubrechen. Hierin besteht die demographische Seite dessen, was auch in der neuesten Forschung zur globalen Wirtschaftsgeschichte (etwa bei Robert Allen und Jan Luiten van Zanden) als Industrielle Revolution bezeichnet wird. Sie bedeutete einen fundamentalen Bruch in der Wirtschaftsgeschichte: Aller ökonomischer Fortschritt in den Jahrhunderten zuvor war immer wieder von zusätzlichen Menschen mehr oder weniger aufgezehrt worden, nur die Handelsgewinne und Innovationen seit dem 17. und 18. Jahrhundert nicht. Dafür, von einer bloßen „Industrialisierung“ zu sprechen, gibt es gewiss gute Argumente – die Weltgeschichte kennt viele regionale Industrialisierungen und „Proto-Industrialisierungen“ von epochal eingeschränkter Bedeutung (s. dazu auch das folgende Kapitel). Der grundlegende Bruch im Systemzusammenhang von Wirtschaft und Bevölkerung, der zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert einsetzte, rechtfertigt es aber auch, eben von einer revolutionären Veränderung zu sprechen – nicht, weil damit erstmals Marktwirtschaft entstanden wäre oder weil die europäischen Gesellschaften bis zum 18. Jahrhundert keine Arbeitsmärkte gekannt hätten oder weil sich mit der Industriellen Revolution der Profitgedanke durchgesetzt hätte oder weil das mit ihr einsetzende Wachstum die Wirtschaft plötzlich und rasch nach oben gezogen hätte – das ist alles nicht der Fall. Die Industrielle Revolution besteht darin, dass man für die in Grafik 1 abgebildeten Epochen zwei völlig unterschiedliche Trendlinien zeichnen kann: eine vorindustrielle, die von links oben nach rechts unten führt, und eine industrielle von links unten nach rechts oben.

Gründe für den Umbruch: 1. Innovationen

Es ist umstritten und bis heute nicht wirklich geklärt, weshalb das möglich wurde. Mehrere Aspekte sind wichtig: Zum einen veränderte sich die Art der Innovationen. Vor der Industriellen Revolution waren sie sporadisch, mit ihr entstand der Beruf des Ingenieurs. Ab dem 18. Jahrhundert wurden Erfindungen systematisch betrieben und finanziert, manche (nicht alle) von ihnen lohnten sich auch für die Erfinder selbst, weil das Patentwesen sich etablierte. Innovationen gingen nun auch jeweils in die benötigte Richtung. Die beiden folgenden Abbildungen machen das deutlich. Die linke zeigt einen britischen, die rechte einen chinesischen Töpferofen. Im britischen Ofen entweicht die Hitze nach oben, man unterhält nur ein Feuer, das von einer Person geschürt werden kann. Im chinesischen Ofen, der um ein Vielfaches aufwendiger zu bauen ist, wird die Hitze durch ein System aus mehreren Kammern hangaufwärts geleitet, und es müssen mehrere Feuer unterhalten werden. Die Beobachtung, dass in China energiesparende, in Europa dagegen arbeitssparende Innovationen entwickelt wurden, lässt sich auf die europäische Industrialisierung übertragen. In England, wo Kohle billig und Arbeit teuer war, ersetzte die Dampfmaschine körperliche Arbeit durch Energie; in der deutschen Landwirtschaft, wo Stickstoff knapp und Arbeitskraft reichlich vorhanden war, fing man an, das Rindvieh im Stall zu halten, ihm Futter zu bringen und seinen Dung sorgfältig zu sammeln und zu verteilen – harte, zu großen Teilen von Frauen geleistete körperliche Arbeit. Ökonomische Gesetzmäßigkeiten wie die „malthusianische Falle“ gelten stets ceteris paribus und bedeuten keine eisernen, unüberwindlichen Hindernisse, sondern setzen sich nur mit einer gewissen Zeitverzögerung durch. Die „malthusianische Falle“ war eng genug, so dass es in der Wirtschaft vor dem großen Systemwechsel auf längere Sicht nichts nützte, wenn eine einzelne Innovation die Technologie voranbrachte. Ganz andere Konsequenzen hatte aber der systematische Strom an Innovationen, der ab dem 18. Jahrhundert einsetzte.


Töpferofen in England (nach: Allen 2009).

2. Ausweitung der Produktmärkte

Neben den Innovationen liegt in der geographischen Ausweitung der Produktmärkte ein zweiter Aspekt, der die ab dem 18. Jahrhundert massiv verbesserte Aufnahmefähigkeit der westlichen Volkswirtschaften für zusätzliche Menschen erklären kann. Wenn man nur lokal nachgefragte Güter produziert, wie das etwa das traditionelle Landhandwerk tat, dann wird der Platz für den zweiten, dritten oder vierten Schmied im Dorf sehr rasch eng. Bereits seit dem 16. Jahrhundert bildeten sich aber besonders für Textilien überregionale, bald auch internationale und die Kontinente überspannende Märkte. Schon im 17. Jahrhundert gelang es den Ländern der Nordseeregion, vor allem den Niederlanden und England, eine zentrale Position im Welthandel zu erobern. Dass England (nach kleinen Anfängen um 1700) im späten 18. Jahrhundert dazu überging, Baumwollstoffe nicht nur weiterzuverkaufen, sondern in großen Mengen selbst herzustellen und nach Afrika und auf den europäischen Kontinent zu exportieren, drückte für die Textilproduzenten zwar weltweit die Preise, aber dies nur langsam – die meisten davon lebten in Indien. Im 19. Jahrhundert fielen durch den Eisenbahnbau die Transportkosten auch für Getreide. Entsprechend stark waren die Anreize, die landwirtschaftliche Produktion auch dann zu steigern, wenn dies einen erhöhten Arbeitseinsatz verlangte. Die Ausweitung von Märkten dämpfte und verlangsamte also den Einkommensverfall, den das Bevölkerungswachstum tendenziell mit sich brachte.


Töpferofen in China (nach: Allen 2009).

3. Relativ hohe Reallöhne

Drittens wird zunehmend betont, dass der Entwicklungspfad Englands hin zu arbeitssparenden Innovationen und hoher Arbeitsproduktivität deshalb möglich wurde, weil Arbeit dort schon lange relativ teuer war. Das hat wiederum damit zu tun, dass auch lange vorher die Bevölkerung dort nicht so rasch wuchs, wie es möglich gewesen wäre. Die Pest, aus Asien kommend und dort zum Teil noch heute endemisch, hatte im 14. und 15. Jahrhundert die Bevölkerung in vielen Ländern Europas dezimiert, auch in England und den Niederlanden. Der Rückgang der Bevölkerung ließ die Lebensmittelpreise fallen und die Reallöhne steigen; ihr Wiederanstieg vor allem im 16. Jahrhundert drückte die Reallöhne dann wieder – mit Ausnahme Englands und der Niederlande. Beide standen im Zentrum großer Handelsimperien, ihre Handelsgewinne trieben also die Löhne hoch; in beiden bot das hohe Lohnniveau besonders jungen Frauen Chancen auf dem Arbeitsmarkt, was Anlass bot, die Heirat zu verschieben, so dass die Bevölkerung langsamer wuchs. An dieser Stelle sehen manche das Entstehen der sehr speziellen Selbständigkeitskultur, die in Europa westlich von St. Petersburg und Triest die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und Generationen prägte: Man heiratete aus eigenem Entschluss, schob vor dem Familienleben eine Phase des Arbeitens für andere ein, heiratete auch möglichst nicht Hals über Kopf, und wenn man heiratete, war man für den Unterhalt der neugegründeten Familie auch selbst verantwortlich.

4. Natürliche Ressourcen

Einen vierten gewichtigen Beitrag zum raschen und von der Bevölkerung nicht absorbierten Wirtschaftswachstum des 19. Jahrhunderts leisteten die zusätzlichen Inputs aus der Natur, die der westlich-nordatlantischen Wirtschaft in dieser Zeit zugänglich wurden. Das galt zunächst für die „unterirdischen Wälder“ der Kohle in England, Belgien, Nordfrankreich, Preußen – Energiepreise waren in Europa, besonders in England, massiv niedriger als etwa in China, wo konsequenterweise – wie wir anhand der beiden Abbildungen gesehen haben – die Innovationen viel eher energie- und weniger arbeitssparend waren. Zusätzliche Inputs boten aber auch die weiten Landstriche, die vor allem an den nordamerikanischen Rändern der europäischen oder besser europäisch werdenden Welt unter Verdrängung der indianischen Ureinwohner besiedelt wurden. An diesem Punkt ist die Bevölkerungsgeschichte mit der des Wirtschaftswachstums über das Thema Migration verbunden.

Migrationen

Das 19. Jahrhundert war eine Zeit großer Wanderungsbewegungen besonders aus Europa nach Nordamerika (s. S. 82f.). Ältere Vorstellungen einer „Migrationstransition“ besagen, dass die Bevölkerung in vormodernen Gesellschaften grundsätzlich sesshaft war und dass erst die Modernisierung Europas Massenwanderungen und damit die Nutzung neuer Räume ermöglichte. Unser Bild schon des Mittelalters und erst recht der Frühen Neuzeit hat sich demgegenüber in den letzten Jahrzehnten sehr gewandelt. Europa und die Welt erscheinen in neuerer Sicht voller Bewegung von einem Ort und einem Kontinent zum anderen, und zwar immer schon: Erzählungen über Handwerker, Vaganten, Scholaren, Wikinger und „Zigeuner“, Nomaden, Buren und Zulus, Entdecker, Kreuzfahrer und Sklaven vermitteln den Eindruck, Migration habe immer schon und überall zur conditio humana gehört. Das ist auch richtig so, aber nur mit zwei Einschränkungen: Im 19. Jahrhundert waren die europäischen Migrationsraten tatsächlich deutlich höher als sonst, und ganz grundsätzlich war die europäische Gesellschaft stärker als andere von Arbeitsmärkten geprägt – von Märkten für „freie“ Arbeit, die mit ihrer eigentümlichen Verbindung von individuellem Vertragsschluss und persönlich verpflichtender Rechtsbeziehung eine über Jahrhunderte gewachsene und nicht selbstverständliche juristische Konstruktion darstellen. Ein Großteil der europäischen Überseewanderung kann als eine Ausweitung der europäischen Arbeitsmärkte verstanden werden. Eine alternative Möglichkeit, Land in der „Neuen Welt“ als ökonomischen Input zu nutzen, bestand darin, unfreie Arbeitskräfte dorthin zu bringen. Das betraf sowohl Sklaven aus Afrika als auch Kulis (Vertragsarbeiter, die aus ihren Verträgen zu entkommen keine Chance hatten) aus Asien. Je knapper Arbeitskräfte waren und je weiter das Land, desto eher wurde Zwang eingesetzt. Die halb aus afrikanischen Gesellschaften importierte, halb aus der europäisch-mediterranen Antike übernommene Institution der Sklaverei hatte allerdings im 19. Jahrhundert zwei Probleme, ein demographisches und ein politisches: Demographisch gelang es den Sklavenbesitzern in keiner der neuweltlichen Plantagengesellschaften mit Ausnahme der USA, die versklavte Bevölkerung ohne Sklavenhandel zu reproduzieren. Dieser aber wurde bereits 1807/1808 zumindest von amerikanischer und wichtiger noch von britischer Seite verboten – auch wenn es lange dauerte, bis dieses Verbot etwa in Bezug auf Brasilien, aber auch auf die afrikanischen Sklavenjägergesellschaften durchgesetzt wurde. Politisch hatte die Sklaverei besonders in den USA und im britischen Weltreich das Problem, dass die Sklaven sie nicht wollten und die freien Arbeiter sie fürchteten. Zugleich widersprach die Sklaverei christlichen, besonders protestantischen Werten der Gleichheit. Als Institution brach die westliche Sklaverei im Lauf eines knappen, von der haïtianischen Sklavenrevolution 1791 bis zur verspäteten Emanzipation in Brasilien 1888 reichenden Jahrhunderts zusammen – eine volkswirtschaftlich durchaus leistungsfähige Produktionsweise, zur Seite geräumt nicht von den Kräften des ökonomischen Fortschritts, wie viele Zeitgenossen meinten, sondern von Politik und Religion.

Der „demographische Übergang“

Neben dem Entkommen aus der „malthusianischen Falle“ liegt der zweite Fundamentalvorgang, der im 19. Jahrhundert zunächst in Nordwesteuropa einsetzte, im „demographischen Übergang“: im Absinken der Sterbe- und Geburtenrate, wie es im 20. Jahrhundert als entwicklungspolitisches Vorbild und Modell für die ganze Welt festgeschrieben wurde. Mit dem „demographischen Übergang“ ist zunächst die Beschreibung dieses Vorganges gemeint, der als solcher unstrittig und rasch benannt ist: Dass unsere Kinder die ersten Tage und Monate überleben und dass wir ein Alter von über 80 Jahren erreichen, ist für uns hier und heute ungleich sicherer als für unsere Vorfahren um 1700; und eine solche Zunahme der Lebenserwartung ist ein weltweiter Vorgang. Zugleich bekommen wir im Durchschnitt nicht mehr vier bis sechs Kinder, wie es in Europa im 18. Jahrhundert normal war, sondern ein bis zwei (oder keines). Auch dieser Trend gilt weltweit. Mit dem „demographischen Übergang“ als Modell sind aber auch Annahmen über den typischen Verlauf dieser Vorgänge verbunden, wie sie in Grafik 2 skizziert werden. Anfänglich lagen Geburten- und Sterberaten danach auf ungefähr gleich hohem Niveau, danach fiel erst die Sterbe- und dann zeitverzögert die Geburtenrate. Dies führte zu einem Schub an Bevölkerungswachstum, bis beide Raten sich auf einem niedrigen Niveau wieder einpendelten. Diese Verlaufsvorstellung ist in mehrfacher Hinsicht falsch. Das gilt schon für den damit vorausgesetzten vortransitionären Normalzustand eines ungefähren Nicht-Wachstums der Bevölkerung. Die „malthusianische Falle“ besagt nämlich nicht, dass die Bevölkerung nicht wachsen kann, sondern nur, dass das Pro-Kopf-Einkommen auch bei technischem Fortschritt tendenziell konstant bleibt, weil die Bevölkerung auf verbesserte Technologien eben mit Wachstum reagiert. In vielen europäischen und außereuropäischen Regionen war bereits das 18., ja schon das 16. Jahrhundert eine Phase wachsender Bevölkerung. Insofern muss man auch nicht annehmen, dass das Bevölkerungswachstum aus einer Verspätung des Fruchtbarkeitsrückgangs gegenüber der Sterblichkeit resultiert. Grafik 3 zeigt die Verläufe der Bruttoreproduktionsrate (also der Töchter pro Frau) und der Lebenserwartungen für Frankreich, England, Costa Rica und ein philippinisches Dorf im langen 19. Jahrhundert. Dass zunächst die Sterberaten und dann erst die Geburten zurückgingen, ist in keiner Weise die Regel – das war so im Fall Schwedens, also des Landes, dessen Daten am längsten bekannt sind, aber in Frankreich waren das parallele Vorgänge, und in England stiegen die Geburten zunächst an. Costa Rica zeigt im 19. Jahrhundert heftige Schwankungen und das philippinische Dorf einen im Licht der Übergangsthese geradezu perversen Verlauf abnehmender Lebenserwartung und zunehmender Fruchtbarkeit. Als Verlaufsmodell mit allgemeiner Gültigkeit ist der „demographische Übergang“ offenbar untauglich.


Grafik 2: Modell der demographischen Transition (nach: Livi-Bacci 1997).

Faktoren sinkender Sterblichkeit

Hinter diesen Problemen steckt die grundsätzlichere Frage, was denn eigentlich die treibende Kraft beim „demographischen Übergang“ ist. Dass im 19. Jahrhundert in Europa (aber z.B. nicht in China) die Sterblichkeit zurückging, ist dabei in allererster Linie eine Folge des Wirtschaftswachstums, das mit einiger Verzögerung zu einer besseren Ernährung der breiten Bevölkerung führte. Die Verzögerung war dabei nicht unerheblich: Es dauerte Jahrzehnte, bis das gestiegene Bruttosozialprodukt an den Reallöhnen, der Lebenserwartung oder der Körpergröße breiter Massen messbar wurde. Medizinischer Fortschritt spielte eine geringere Rolle – obwohl die frühe Einführung der Pockenschutzimpfung von Gewicht war. Krankenhäuser verbreiteten noch lange mehr Krankheiten, als sie Heilung ermöglichten – es war schon ein Fortschritt, wenn die Patienten wenigstens an derjenigen Krankheit starben, mit der sie eingeliefert wurden. Zwar war die Industrialisierung lange Zeit medizinisch gesehen zutiefst ungesund, und erhebliche Lohnaufschläge waren erforderlich, um Menschen überhaupt in die wachsenden Städte zu locken. Auf längere Sicht gelang es den Stadtverwaltungen jedoch, kommunal finanzierte Netze von Frischwasserversorgung und Entwässerung aufzubauen und so die Nachteile des engen Zusammenlebens auszugleichen.


Grafik 3: Bruttoreproduktionsraten und Lebenserwartungen in England, Frankreich, Costa Rica und einem philippinischen Dorf, 1750–1920 (Werte geglättet; e0 und GRR für Frankreich nach Wrigley/Schofield 1981 sowie www.mortality.org und www.gapdata.org; für England nach Wrigley/Schofield 1981; für Großbritannien nach Woods 1995; für Costa Rica nach Pérez-Brignoli 2010; für Nagcarlan eigene Berechnung nach Smith/Ng 1982).

Ursachen des Geburtenrückgangs

Nicht ganz so einfach ist die Frage zu beantworten, weshalb es zum Rückgang der Fruchtbarkeit kam – eine Frage, mit der heute auch die nach einer sinnvollen Strategie der Entwicklungspolitik angesichts des weltweiten Bevölkerungswachstums verbunden ist. Man kann grundsätzlich auf zwei Weisen darüber denken. In ihrer ursprünglichen, um 1945 angesichts der politischen Entdeckung der „Dritten Welt“ entwickelten Form besagte die Theorie der demographischen Transition, dass der Fruchtbarkeitsrückgang eine geradezu automatisch eintretende Folge von Wirtschaftswachstum und Abbau der Kindersterblichkeit ist. Als Politikempfehlung ergibt sich daraus, dass man eine Bevölkerungspolitik eigent lich nicht braucht: „Entwicklung ist die beste Verhütung.“ Eine andere Sicht besagt, dass der Geburtenrückgang eigentlich ein kultureller Vorgang ist, der auf der weltweiten Durchsetzung unseres heutigen Modelles von Paar- und Familienbeziehungen beruht, in dem Sexualität und Fortpflanzung voneinander gelöst und Familiengrößen grundsätzlich planbar sind. Danach bestünde Entwicklungspolitik zu einem guten Teil darin, dieses westliche kulturelle Modell weltweit zu verbreiten.

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