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Einleitung

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Walter Demel

Eine Epoche der „Revolutionen“

Das „lange 19. Jahrhundert“, um das es in diesem Band gehen soll, reichte grob von ca. 1750/1770 bis 1880/1914. Sein Beginn ist relativ unstrittig, obwohl etwa seine ersten geistesgeschichtlichen Anfänge schon in der beginnenden Aufklärung der 1680er Jahre gesehen werden können. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts begann nämlich eine Epoche globaler revolutionärer Umbrüche auf vielen Gebieten: Demographie, Wirtschaft, Technik, Kultur, Politik. Natürlich bedeutete auf jedem dieser Gebiete „Revolution“ konkret etwas anderes: Die „Agrarrevolution“ bestand in der sprunghaften Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktivität durch den Einsatz neuer Pflugformen, Dünger, Fruchtwechselwirtschaft etc.; eine politische Revolution bedeutete regelmäßig einen Wechsel der Staatsform, aber vielfach auch eine Transformation der herrschenden Eliten. Da derartige Revolutionen sich jedoch bis heute fortsetzen beziehungsweise immer noch global ausbreiten, ist die Zäsur von 1880/1914 nicht so leicht zu rechtfertigen. Immerhin mag ein Technikhistoriker an die neuen Basisinnovationen – Auto, Flugzeug, Rundfunk, Kino – denken, die sich nach 1914 durchsetzten, ein Politikhistoriker an den Einschnitt, den die Zeit um 1900 für Amerika darstellte, und an die Ära der europäischen Pentarchie, die mit dem Ersten Weltkrieg endete. Als dessen Ergebnis wurden 1919 weite Teile Europas, Afrikas und Asiens politisch neu geordnet – was von Irland bis China und Korea zu Unruhen führte. In Afrika und Asien setzte die (zweite) Dekolonisation jedoch erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein.

Die Ambivalenz der „Moderne“

Zumindest aber wird man sagen dürfen, dass im „langen 19. Jahrhundert“ die (westliche) Moderne entstand. Für diese Zeit konstatierte Christopher A. Bayly nämlich „das Entstehen globaler Uniformität in Fragen des Staates, der Religion, der politischen Ideologien und im Wirtschaftsleben“ – und sogar von „Körperpraktiken“ und der Zeitmessung! Das schloss eine zunehmende interne, funktionale Komplexität moderner Gesellschaften keineswegs aus, war aber das Ergebnis eines Prozesses des „Nacheiferns“. Denn Modernität heißt eben zunächst einmal, sich – wie Europa beziehungsweise der „Westen“ – für modern zu halten beziehungsweise (wie z.B. die russischen „Westler“) diesen Zustand im eigenen Land anzustreben. Inhaltlich lässt sich Modernität mit Schlagworten wie Individualisierung, Fortschrittsoptimismus, Rationalisierung, Säkularisierung, Verdichtung und Beschleunigung der Kommunikation umreißen. Daraus resultierte – trotz wachsender Nationalisierung – auch eine verstärkte Internationalisierung, vor allem nach 1850: Weltausstellungen, Internationale Frauenkonferenzen, Rotes Kreuz, Sozialistische Internationalen, Olympische Spiele, um nur einige nichtstaatliche Einrichtungen zu nennen. Partizipation und Emanzipation, aber auch Nationalismus, Rassismus und Disziplinierung kennzeichnen ebenfalls die Moderne. Dies macht deutlich, dass Moderne ein widersprüchliches, dialektisches, von Antinomien geprägtes Phänomen ist, gehörte zu ihr doch auch, sozusagen systemimmanent, die Sehnsucht nach einer überschaubaren Welt, die antimodernistische Kritik, ja der Anarchismus. Von daher kann man den Ersten Weltkrieg als einen Höhepunkt der Krise der Moderne betrachten.

Die Entstehung des „Westens“

„Westen“ ist ein ähnlich unscharfer Begriff. Als dominante Denkfigur existent seit den 1890er Jahren, artikuliert er die „Idee eines übergreifenden transatlantischen Zivilisationsmodells“, eine Selbstverortung der „zivilisierten Welt“ (Jürgen Osterhammel). Er gehört damit zu den stets problematischen, weil regelmäßig nicht rein geographischen, sondern (unterschiedlich aufgeladenen) ideologischen Bezeichnungen. Als Kernregionen des „Westens“ könnte man Großbritannien, Frankreich, zunehmend auch Mitteleuropa und Teile der USA ansehen. Denn globalpolitisch gesehen umfasst der Begriff „Moderne“ neben der europäischen Pentarchie schließlich auch die USA, sozioökonomisch betrachtet die im Laufe des 19. Jahrhunderts industrialisierten Staaten (wozu Russland bzw. die Habsburgermonarchie indes nur bedingt, dafür aber um 1900 bis zu einem gewissen Grad auch schon Japan zu zählen wären). Unter religiös-kultureller Perspektive dagegen wären darunter etwa diejenigen Weltregionen, die durch das lateinische Christentum und die Aufklärung geprägt waren, zu subsumieren, mithin die Länder der Westhälfte Europas samt ihren Siedlungskolonien, aber in nur sehr begrenztem Umfang etwa die Balkanhalbinsel oder das Russische Reich. Dass dieser „Westen“ aber modern – und deshalb bis zu einem gewissen Grad nachahmenswert – sei, glaubten am Ende auch sehr viele Angehörige der Eliten praktisch aller nichtwestlichen Länder der Welt. Dahinter stand ihre Erfahrung, dass Europa und die USA bis 1900 ungemein an politischer und wirtschaftlicher Macht, an Höhe des Lebensstandards, aber auch an kulturellem Einfluss gewonnen hatten – ein Vorsprung, den diese Kreise nun durch eine (partielle!) „Verwestlichung“ ihrer Länder wieder aufholen wollten. Für den Globalhistoriker aber bedeutet dies, dass für den hier behandelten Zeitraum eine eurozentrische Sicht – relativ gesehen – eher am Platz erscheint als in den anderen Bänden der »WBG Weltgeschichte«.

Machtverschiebungen und Bevölkerungsentwicklung

Die angesprochene Verschiebung an Macht und Einfluss zugunsten Europas beziehungsweise des Westens machte sich auch demographisch gesehen – freilich nur in abgeschwächter Form – bemerkbar. Um 1800 besaßen Frankreich (als das bevölkerungsreichste der „lateinischen“ Länder) und das Osmanische Reich (als bedeutendstes islamisches Staatsgebilde) grob je 30 Millionen Einwohner, das russische Imperium kaum viel mehr, die USA nur gut 5 Millionen. China zählte dagegen 300 bis 360 Millionen Bewohner – mehr als anderthalbmal so viel wie ganz Europa! Das 19. Jahrhundert war eine Epoche erheblichen Wachstums – trotz mehrerer weltweiter Pandemien wie der Cholera von 1831. Bis 1910 hatten sich die Bevölkerungsverhältnisse dergestalt verändert, dass Frankreich über rund 40 Millionen Einwohner verfügte – eine Zahl, die das Osmanische Reich schon 1874 erreicht hatte, die sich jedoch in seinem Falle bis 1914 infolge zahlreicher Territorialverluste auf dem Balkan und in Nordafrika mehr als halbierte. Das russische Imperium wies allein in seinem europäischen Teil (inklusive „Kongresspolens“) damals über 130 Millionen Einwohner auf, die USA fast 100, Lateinamerika vielleicht 70, China gut 440 Millionen. Der Anteil Chinas und Indiens an der Weltbevölkerung ging im 19. Jahrhundert damit von 35 beziehungsweise 21 Prozent auf 28 beziehungsweise 17 Prozent zurück, wogegen derjenige Europas von 20 auf 24 Prozent anwuchs, während der afrikanische auf 8 Prozent leicht absank. Bevölkerungsmäßig dominierte Europa also immer noch in keiner Weise, und doch muss man für das Ende dieses Zeitraums geradezu von einer europäischen Weltherrschaft sprechen. War Großbritannien (samt seinen nordamerikanischen Kolonien und Irland) um 1750 ein Staat mit gut 15 Millionen Einwohnern gewesen, lebten um 1920 im British Empire etwa 458 Millionen Menschen (von denen nur gut 20 Millionen von englischen Kolonisten abstammten) – ein Viertel der Weltbevölkerung! Daneben beherrschten unter anderem auch noch Franzosen, Portugiesen, Deutsche, Niederländer und Belgier Millionen von Menschen in aller Welt – mehr noch, sie ließen sie für sich kämpfen: Nordafrikaner starben in den Laufgräben bei Verdun, Inder in Mesopotamien im Krieg gegen die Osmanen.

„Demographische Revolution“

Vor diesem Hintergrund beginnt das erste Kapitel, überschrieben mit „Bevölkerung, Wirtschaft und Technik“, mit einer Betrachtung der „demographischen Revolution“, in der es zunächst einmal um die schlichte Präsenz der Menschen auf den verschiedenen Kontinenten geht. Wenn sich, global betrachtet, das demographische Gewicht Europas vermehrte, so deshalb, weil Europa aus der „malthusianischen Falle“ ausbrach, die bislang ein Bevölkerungswachstum zwar nicht verhindert, aber doch deutlich abgebremst hatte. Verschiedene Gründe für dieses – letztlich nicht völlig geklärte – Phänomen kommen dabei zur Sprache: Innovationen, die Ausweitung der Produktmärkte, relativ hohe Reallöhne und das Vorhandensein wichtiger natürlicher Ressourcen. Andererseits verlor Europa, aber etwa auch Indien oder China, Millionen an Menschen, die auf der Suche nach Arbeit nach Nord- und in Teile Lateinamerikas auswanderten, nach Südafrika oder Australien (zu den Migrationen vgl. auch Band VI, S. 177–221). Die Zwangsmigration von Sklaven nahm dagegen tendenziell eher ab, der Sklavenhandel über den Atlantik kam nach 1850 praktisch zum Erliegen. Europa selbst profitierte jedenfalls nicht von einer nennenswerten Zuwanderung. Sein demographisches Wachstum blieb mithin auf die natürliche Vermehrung beschränkt. Diese war mit einer (tendenziell weltweiten) Zunahme der Lebenserwartung verbunden, wobei freilich einer sinkenden Sterblichkeit ein Rückgang der Geburten gegenüberstand. Der Rückgang der Sterblichkeit ist auf Veränderungen im Krankheitsumfeld, eine verbesserte Ernährung, die Verhinderung von Ansteckungen zurückzuführen – schließlich selbst in den zunächst höchst ungesunden expandierenden Großstädten. Für den Geburtenrückgang aber waren Wandlungen im Familiensystem verantwortlich, verschiedene Formen der Geburtenbeschränkung, ein Anstieg des Heiratsalters. Da Fruchtbarkeit wesentlich auch ein soziales Phänomen darstellt, verwundert es nicht, dass Geburtenabstände im Kulturvergleich variieren. Zunächst für West- und Mitteleuropa, später für weitere Weltregionen, kommt hierbei die Veränderung der Arbeitswelt durch die Industrialisierung ins Spiel, freilich nicht nur als Ursache für das Bevölkerungswachstum sich industrialisierender Staaten, sondern zum Teil auch als deren Ergebnis.

Die Industrialisierung

Technik wurde nunmehr im Westen zunehmend zu einem Produkt angewandter Wissenschaft. Neue technische Erfindungen bildeten zweifellos eine Voraussetzung für eine Industrialisierung – aber nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung. Denn eine entsprechende Nachfrage nach technischen Produkten sowie deren ökonomisch sinnvolle Verwendbarkeit mussten hinzukommen, außerdem – auf der Produzentenseite – nicht nur kulturelle, sondern auch politische beziehungsweise finanzielle Rahmenbedingungen. Dabei stellt sich, wie der einschlägige Beitrag erläutert, der modernen Forschung die von England ausgehende Industrialisierung eher als ein schrittweiser, zunächst sektoral und regional begrenzter Prozess dar, weniger als eine „Industrielle Revolution“ auf nationalstaatlicher Ebene. Für den Beginn der ersten, leichtindustriellen, das heißt vor allem von der Textilproduktion gekennzeichneten Phase der Industrialisierung bedurfte es einer liberalkapitalistischen, nicht mehr feudalistischen Rechts- und Wirtschaftsordnung, einer rationellen, relativ produktiven Landwirtschaft, etablierter kommerzieller Strukturen und ausgebauter Verkehrswege zu Lande und zu Wasser. Die zweite, schwerindustrielle, Phase stand vielfach im Zusammenhang mit der „Verkehrsrevolution“, der Einführung von Dampfschiffen und Eisenbahnen, der Verbilligung der Frachttarife für Massengüter wie Getreide, Kohle und Erze, aber auch mit der Entstehung eines Weltwährungssystems und der Entwicklung neuer Verfahren der Eisen- und Stahlerzeugung. Ihr Ergebnis hing allerdings von der Zugänglichkeit natürlicher Ressourcen ab, desgleichen von der – teils eher privat-, teils mehr staatswirtschaftlichen – Organisation der Unternehmen. Ein kurzer Blick auf die erst um 1890 beginnende dritte Phase der „neuen Industrien“ (Elektrotechnik, Chemie) rundet den Beitrag ab, dessen kommerzielle Aspekte durch die Behandlung von „Globalisierung und Weltwirtschaft“ ab 1850 in Band VI ergänzt werden.

Aspekte des kulturellen Wandels

Trotzdem wird ein aufmerksamer Leser der »WBG Weltgeschichte« nicht nur manche Namen und Fakten, sondern gerade auf dem großen Feld der – im weitesten Sinne – „Sozial- und Kulturgeschichte“ sogar größere Bereiche der Ergebnisse moderner Geschichtsforschung schmerzlich vermissen. Viele Darstellungen existieren zum Beispiel zur Geschichte gesellschaftlicher Eliten (etwa des Adels), welche sich durchaus globalhistorisch gesehen vergleichen lassen, aber auch zur Geschichte der Musik, der Literatur, der Wissenschaften, neuerdings beispielsweise selbst der Ernährungsgewohnheiten, der Kleidung, des Geruchs oder des Geschmacks. Von alldem wird der Leser im Gesamtwerk nicht viel oder gar nichts finden – und das gilt speziell auch für den fünften Band. Auch von der Entwicklung der katholischen Kirche oder des Hinduismus im 19. Jahrhundert ist im vorliegenden Band nur ganz knapp die Rede, von den Diskursen der chinesischen Philosophie oder den Fortschritten der modernen Architektur überhaupt nicht. Aber nie wird das Unternehmen einer „Weltgeschichte“ es allen seinen Lesern ganz recht machen können – selbst der Einzelne wird stets Lücken finden, Sachverhalte, die seiner Ansicht nach in eine „Weltgeschichte“ hineingehören würden, während er auf andere, die dargestellt werden, glaubt verzichten zu können. Wir mussten, besonders angesichts des doch für ein so großes Projekt höchst bescheidenen Umfangs von gut 3000 Seiten, zum Teil paradigmatisch arbeiten, eine Auswahl unter den möglichen Themen treffen und – jeder Autor für sich – nach bestem Wissen und Gewissen Schwerpunkte setzen.

Die europäische Aufklärung

So bildet den Einstieg in das Großkapitel „Kultureller Wandel“ die Behandlung eines Themas, das als die geistige Grundlage sowohl der ökonomisch-technischen als auch der politisch-ideellen Entwicklung des Westens gelten kann: der „europäischen Aufklärung“. Ausgehend von einer Erläuterung der unterschiedlichen Phasen, des Selbstverständnisses und der Schlüsselbegriffe der Aufklärung werden in diesem Beitrag zunächst der „Aufklärungsraum“, dessen durch das transnationale Netzwerk der République des Lettres verbundene Zentren und Peripherien (bis hin zu der „äußersten Peripherie“, dem amerikanischen Doppelkontinent) sowie der Kulturtransfer von den Zentren hin zu diesen Peripherien untersucht. Danach werden die Medien der Verbreitung von Aufklärungsideen vorgestellt – Dialoge, Enzyklopädien, Romane, bürgerliche Dramen, verschiedenste Formen von Periodika – und in diesem Kontext nähere Erläuterungen zu einem Bestseller der Aufklärungsliteratur gegeben, der sich nicht zufällig der Geschichte der außereuropäischen Welt widmet. Obgleich die Aufklärung originär ein Elitenphänomen war, wandten sich viele ihrer Vertreter der „Volksaufklärung“ zu und trieben diesen Prozess voran, indem sie ihren medialen Ausdruck den Kenntnissen und Bedürfnissen einfacherer, zum Teil illiterater Schichten anpassten. Ihr Erfolg zeigt sich im Wirken einzelner Autodidakten – die gleichwohl immer Außenseiter gegenüber den „gebildeten Ständen“ blieben. Abschließend spürt der Verfasser den weltweiten Wirkungen der Aufklärung nach, ihrem universellen Erbe samt ihren Ambivalenzen und Grenzen.

Wissensrevolution

Zweifellos lieferte die Aufklärung den Anstoß zu einer „Wissensrevolution“. Unter diesem Stichwort wird in einem eigenen Beitrag zunächst die Erweiterung des empirischen Feldes in ihren verschiedenen Dimensionen – nach außen (ferne Länder, Kosmos), innen (mittels Biologie oder Statistik) sowie in die Vergangenheit (durch die Geschichtswissenschaft) – untersucht. Das machte mehr und mehr neue, eben wissenschaftliche, das heißt quantifizierende beziehungsweise kritisch reflektierende Methoden erforderlich. Dann wendet sich der Autor den Institutionen, die Wissen generierten, sammelten und weitergaben (wie Akademien, Universitäten, Bibliotheken), den Bedingungen, unter denen der einzelne Forscher arbeitete (Urheberrecht), ferner der systematischen und enzyklopädischen Ordnung des Wissens und dessen Distribution, den Orten, Wegen und Medien, aber auch den Hindernissen der Verbreitung von Wissen und Bildung zu. Am Schluss fragt er nach dem Ergebnis, dem (durchaus ambivalenten) Fortschritt, und wirft die Frage auf, warum es vor dem Ersten Weltkrieg nicht auch außerhalb des Westens zu einer eigenen „Wissensrevolution“ gekommen sei und man sich daher dort vielfach genötigt sah, auf das im Westen produzierte Wissen zurückzugreifen.

Christliche Missionen und religiöse Globalisierung

Der Westen verbreitete aber nicht nur sein neues Wissen, sondern auch seine alten Glaubensüberzeugungen. „Christliche Missionen und religiöse Globalisierung“ prägten daher das 19. Jahrhundert. Erstmals drangen nun auch protestantische Missionare in großer Zahl in „nichtwestliche“ Gebiete vor und gründeten unter anderem Missionsschulen, auf denen ein Großteil der späteren indigenen Eliten Afrikas und Asiens ihre Ausbildung erfuhr. Diese Eliten übernahmen aber nicht einfach „das“ Christentum, sie schufen vielmehr neue Varianten dieser Religion, die freilich – zum Teil sogar transkontinental – vernetzt blieben. Auf die Entstehung eines Weltchristentums reagierten indes andere Religionen mit inneren Reformbewegungen beziehungsweise mit weiterer Expansion und eigenen globalen Bestrebungen.

Weltdeutungen und Ideologien

Dabei griff in Europa selbst der Prozess der Säkularisierung und Individualisierung immer weiter um sich. Das wird an den Weltdeutungen und Ideologien sichtbar, die sich hier herausbildeten. Der einschlägige Beitrag stellt dabei eine Betrachtung von Hegels Werk an den Anfang – als den Ausgangspunkt, von dem aus sich die wichtigsten der philosophischen Strömungen der westlichen Moderne auffächerten. Hegel distanzierte sich von Kants kritischer Philosophie, die ein Wissen über die Dinge an sich ausgeschlossen hatte. Hegels absoluter Idealismus wollte vielmehr dessen System vollenden, dabei Versuche, den generellen Vorrang der Religion vor der Philosophie wiederzugewinnen, zurückweisen, aber doch mit seiner dialektischen Methode die Gegensätze versöhnen. Das Scheitern dieser Synthese führte zum Zerfall der Hegelschule in verschiedene Richtungen. Manche Autoren verschärften Hegels Ansätze einer Religionskritik, andere bauten auf dessen Potential soziopolitischer Kritik auf und forderten Liberalisierungen, ja eine Säkularisation des Staates. Schließlich entwickelten manche die These, dass nicht die Philosophie, sondern die Naturwissenschaften die Führungsrolle bei der Deutung der Welt übernehmen müssten. Damit entstand der Szientismus in seinen beiden Hauptvarianten, dem Positivismus und dem Materialismus, Letzterer zum Beispiel in seiner Sonderform des Marxismus. Andererseits wendeten sich Existenzialismus und Irrationalismus gegen Hegels Betonung der Allgemeinheit der Vernunft. Diese verschiedenen Linien werden nun im Einzelnen verfolgt. Am Ende steht ein Ausblick auf die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, auf Formen des Pragmatismus und des Relativismus, schließlich auf die Abkehr von der Bewusstseins- und die Hinwendung zur Sprachphilosophie. Alle diese unterschiedlichen Ansätze blieben natürlich nicht auf den westlichen Diskursraum beschränkt. Als Beispiele für ihre weltweite Wirkung seien hier beispielhaft nur die Rezeption des Positivismus durch die liberalen Oligarchien in Lateinamerika oder, ab den 1890er Jahren, jene des Sozialismus/Marxismus durch junge chinesische Intellektuelle genannt.

Autonomie der Kunst

Auch im künstlerischen Bereich machte sich die fortschreitende Säkularisierung bemerkbar. Ursprünglich war Kunst in allen Kulturen vorrangig religiöse Kunst. Das änderte sich nun, wie der Beitrag „Autonomie der Kunst“ zeigt. Er skizziert – ausgehend von den verschiedenen Zwecken, denen Kunstschaffen dienen konnte – am Beispiel der Malerei die Entwicklung des europäischen Kunstverständnisses und der Stellung der Künstler von der Vormoderne bis um 1900. Erst mit der Erfindung des Subjekts wurde die Kunst „modern“ und löste sich großenteils aus dem Wechselzusammenhang mit der Religion. Der Künstler geriet nun in das Dilemma zwischen dem eigenen Anspruch der Verwirklichung seines „Genies“ und der Abhängigkeit von Auftraggebern beziehungsweise dem (zunehmend „nationalisierten“) Kunstmarkt – eine Situation, die indes eine Vielfalt von unterschiedlichen künstlerischen Lösungen ermöglichte: Realismus, Impressionismus, Exotismus usw. Auch der künstlerische Ausdruck zeigte somit letztlich Auffächerungs- und Globalisierungstendenzen.

Veränderungen der politischen Welt

Bieten die Beiträge im Kapitel „Kultureller Wandel“ Perspektiven aus ganz unterschiedlichen Richtungen (Geistes-, Kirchen-, Kunstgeschichte), so sind die Artikel im Kapitel „Veränderungen der politischen Welt“ eher komplementär angelegt. Denn politische Revolutionen – verstanden als gewaltsame, von breiteren Kreisen einer Bevölkerung getragene, zumindest vorübergehend erfolgreiche Bewegungen – konnten schwerpunktmäßig in zwei verschiedene Richtungen wirken. Entweder zielten sie – wie die nordamerikanische Revolution oder die Revolutionen in Spanisch-Amerika – auf staatliche Unabhängigkeit, waren also Teil der sogenannten ersten Dekolonisation. Oder aber sie beinhalteten einen Umsturz der inneren soziopolitischen Ordnung, wie die Revolutionen in Frankreich 1789, in Russland 1905/1906 oder in China 1911/1912. Aber staatliche Unabhängigkeit und innere Ordnung waren natürlich verknüpft: Das Ende des Qing-Reichs ermöglichte Tibet und – als Vasall Russlands – formal auch der Mongolei die Erlangung ihrer Souveränität. Der Erfolg der Unabhängigkeitsbewegungen in Lateinamerika wäre ohne die durch Napoleon ausgelösten inneren Wirren in Spanien und Portugal kaum zu erklären. Dabei verdrängte aber auch eine „heimische“, kreolische, Elite die Repräsentanten der Kolonialmacht aus den Spitzenpositionen, wie überhaupt der Aufstieg neuer Eliten, zum Beispiel der „Jungtürken“, für den Erfolg mancher revolutionärer Bewegungen grundlegend war. In Europa veranlasste der (zeitweilige) Erfolg einer revolutionären Bewegung andererseits nach 1815 nicht selten reaktionäre auswärtige Mächte zur Intervention. In Asien und Afrika, teilweise auch in Lateinamerika, lieferten innere Unruhen in einem Land den imperialistischen Mächten oft genug einen Vorwand, zum Schutz ihrer Bürger oder ihrer ökonomischen Interessen militärisch einzugreifen, was zu indirekter, im subsaharischen Afrika, in Süd- und Südostasien regelmäßig zu direkter Kolonialherrschaft führte.

Zwischenstaatliche Beziehungen

So widmet sich der Beitrag „Zwischenstaatliche Verflechtungen und politische Revolutionen“ zunächst den Ursachen politischer Machtverschiebungen zugunsten Europas beziehungsweise des „Westens“ und der Verbreitung von deren Ideen hinsichtlich der Gestaltung „internationaler“ Beziehungen. Dann verfolgt er die – vorrangig revolutionsbedingten – Veränderungen innerhalb des europäischen Staatensystems, die durch dessen Einfluss verschärfte Krise der islamischen Welt sowie die Staatsbildungen im subsaharischen Afrika, in Süd- und Südostasien samt ihrem regelmäßig erfolglosen Bemühen, innere Stabilität herzustellen und sich dem zunehmenden imperialistischen Druck zu entziehen. Den meisten Gebieten des amerikanischen Doppelkontinents gelang es zwar frühzeitig, ihre kolonialen Herrschaften abzuschütteln und eigene Staaten zu bilden, doch blieben sie häufig dem Druck des Finanzimperialismus ebenso ausgeliefert wie Ostasien, das dem Einfluss der imperialistischen Mächte „geöffnet“ wurde. Während aber Japan dann infolge einer erstaunlichen Modernisierungsleistung rasch zur Regionalmacht aufstieg und selbst imperialistische Politik betrieb, löste sich das zunächst von Nepal über Burma und Vietnam bis Korea und das östliche Zentralasien reichende Tributsystem des chinesisch-mandschurischen Reiches auf, als dieses selbst eine Semikolonie der Großmächte wurde und schließlich teilweise zerfiel.

Die Globalisierung Europas

Kolonialismus und Imperialismus sind somit ein grundlegendes Kennzeichen des langen 19. Jahrhunderts. Der Beitrag „Die Globalisierung Europas“, der zahlreiche Ausführungen zu den Themen Handel, Migration und Mission mit umfasst, stellt diese Entwicklung als einen schon im 15. Jahrhundert einsetzenden Prozess der zunehmenden Verflechtung der Welt dar. Dieser Vorgang lässt sich nicht einseitig nur als eine auf „Modernisierung“ angelegte „Herausforderung“ durch die Expansion rivalisierender europäischer Mächte (schließlich auch der USA und Japans) deuten, sondern umfasst auch die flexiblen „Antworten“ der betroffenen kolonialen Gesellschaften. Untersucht wird zunächst der Übergang „vom Handel zur Herrschaft“, der Auf- beziehungsweise Ausbau der britischen, niederländischen und französischen Positionen in Süd- und Südostasien, aber auch die territoriale Ausdehnung Russlands auf Nord- und Zentralasien sowie den „Fernen Osten“. Dabei kommen ferner die Formen indirekter Herrschaft, die „Religionsprotektorate“ europäischer Mächte über christliche Untertanen islamischer Herrscher und über Missionare sowie die ökonomische Durchdringung formal weiterhin souveräner Reiche wie China zur Sprache. In eine ihnen weitgehend unbekannte Welt drangen die Europäer im Bereich der Südsee und des inneren Afrika ein, die sie praktisch unter sich aufteilten, wobei die verschiedenen Kolonialmächte der indigenen Bevölkerung in unterschiedlicher Weise, aber meist mit höchst problematischen Folgen, ihre eigenen administrativen, ökonomischen und religiösen Vorstellungen aufzudrängen suchten. Nicht vergessen werden schließlich die Rückwirkungen auf den Westen, welche dieser Prozess auf das westliche Bild „des Asiaten“, „des Südseebewohners“ oder „des Afrikaners“ hatte.

Der „Verfassungsstaat“

Mehr der sich wandelnden inneren Ordnung der „westlichen“ Staaten und der mehr oder minder nach deren Vorbild gestalteten politischen Strukturen – zum Beispiel der neuen lateinamerikanischen Staatsgebilde –, aber auch dem Versuch der soziopolitischen Neuordnung alter Länder und Reiche wendet sich der Beitrag über die Verfassungsentwicklung zu. Ausgehend von der Frage, was „moderne“ Verfassung bedeutet beziehungsweise welche Elemente sie charakterisieren, unterscheidet er verschiedene „Verfassungswellen“. Die ersten modernen Verfassungen von weiterwirkender Bedeutung finden sich in Nordamerika seit 1776 und in Frankreich seit 1789/1791. Mehr oder minder unter französischem Druck wurden Verfassungen ab 1795 in Anlehnung an das (jeweilige) französische Vorbild in den sogenannten Schwesterrepubliken beziehungsweise Satellitenstaaten eingeführt. Dagegen diente die Verfassung der USA samt der in ihr angelegten checks and balances nach 1814 vielen neuen Staaten in Lateinamerika als Vorbild, ohne ihnen freilich ein hohes Maß an innerer Stabilität zu vermitteln. Der Konstitutionalisierungsprozess in Europa empfing seine Anregungen dagegen zunächst von der Charte Ludwigs XVIII., die das monarchische Prinzip in den Mittelpunkt stellte. Eine neue Verfassungswelle wurde in Europa dann durch die Revolution von 1830 ausgelöst – mit der belgischen Verfassung von 1831 als nunmehrigem Schnittmuster. Während der Revolutionsjahre 1848/1849 wurden schließlich fast alle europäischen Staaten konstitutionalisiert, und wenn danach in manchen Ländern Neoabsolutismus beziehungsweise Bonapartismus zum Tragen kamen, wurden sie von der nächsten Verfassungswelle (1866/1878) ebenso hinweggespült wie das zweite mexikanische Kaisertum. Nicht zuletzt erfasste diese Welle auch die neuen südosteuropäischen Staaten, kurzzeitig sogar das Osmanische Reich. Das zeigt, dass die Verfassungsidee mittlerweile eine globale Dimension anzunehmen begann: Auch Japan, Russland und China erhielten – freilich zumindest tendenziell sehr autokratische – Verfassungen. Nicht zuletzt in den USA und im British Empire aber machte die Demokratie Fortschritte: Schwarze erhielten das Wahlrecht, Frauen forderten dasselbe, und den britischen Siedlungskolonien wurde das Recht zur Selbstverwaltung zugesprochen.

Nationalstaatsbildung und kartographische Fragen

Allgemeine Schulpflicht und allgemeine Wehrpflicht, die allerdings – ebenso wie vor 1918 regelmäßig auch das „allgemeine Wahlrecht“ – Frauen nicht berücksichtigte, zeigen, wie es dem modernen Staat zunehmend gelang, die Gesamtheit seiner Untertanen zu erfassen. Diese „Massenmobilisierung“ besaß jedoch auch eine emanzipatorische Seite: Der Verfassungsstaat band erheblich breitere Schichten in die politischen Entscheidungen mit ein, als es etwa ein autokratisches Regime vermochte. Die „Moderne“– wenngleich sie sich noch nicht überall und vollständig durchgesetzt hatte – war geboren und mit ihr eine Vielzahl an Nationalstaaten. Das schlägt sich nun bis heute in der Historiographie nieder, so dass zum Beispiel selbst die von der UNESCO herausgegebene »General History of Africa«/»Histoire générale de l’Afrique« praktisch aus lauter Nationalstaatsgeschichten besteht – auch für all jene Epochen, in denen diese Nationalstaaten noch nicht einmal ansatzweise existierten! Das erschwerte eine transnationele Perspektive. Ein entsprechendes Problem stellt sich – wie generell für die Vormoderne – hinsichtlich der kartographischen Darstellung von Ländern und Reichen. Erst 1914 kann man mehr oder minder überall auf der Erde von eindeutigen „Staatsgrenzen“ sprechen (vgl. S. 291f.). Die abgestuften Vasallitäts- beziehungsweise Tributbeziehungen aber, die zuvor in weiten Teilen der Welt üblich waren, lassen sich kaum adäquat wiedergeben. Insofern sollen die Grenzen auf den Weltkarten der Seiten 288f., 336f. und 400f. großenteils lediglich der ungefähren Lokalisierung von Herrschaftsbereichen dienen. Es ist zu hoffen, dass sie auf diese Weise dem Leser die Orientierung erleichtern und damit sein Gefallen an unserem Werk erhöhen.

wbg Weltgeschichte Bd. V

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