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Die leichtindustrielle Phase der Industrialisierung

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Die Industrialisierung ging nicht nur von England aus, sondern während der ersten Jahrzehnte seiner Industrialisierung war die englische Wirtschaft in weiten Teilen auf der Welt konkurrenzlos. 1851 konnte Großbritannien auf der ersten Weltausstellung, die natürlich in London stattfand, seine Überlegenheit eindrucksvoll demonstrieren und mit Fug und Recht als die „Werkstatt der Welt“ bezeichnet werden. Auf die naheliegende Frage, warum die Industrielle Revolution gerade von diesem Land ausging, kann keine einzelne Ursache angegeben werden. Ausschlaggebend dürfte das Zusammenwirken mehrerer positiver Faktoren bei gleichzeitiger Neutralisierung negativer Einflüsse gewesen sein.

Vorteile Großbritanniens

Die naheliegendsten Voraussetzungen, die den Vorsprung Großbritanniens ermöglichten, waren seine Geographie und seine natürlichen Ressourcen. Die Insellage im Atlantik war ausgesprochen günstig: für die neuen Atlantikrouten, besonders nach Amerika, hatte das Land eine fast optimale Lage, und neue Industrien ließen sich entweder in Küstennähe oder an schiffbaren Flüssen verkehrsgünstig ansiedeln. Rohstoffe wie Kupfer, Zinn, Blei, Eisen und vor allem Kohle waren reichlich vorhanden und häufig günstig gelegen. Die anfangs niedrigen Fördermengen konnten durch geringfügige technische Verbesserungen ohne größere Schwierigkeiten gesteigert werden. Weitere Vorteile Großbritanniens waren die fruchtbaren Böden und das gemäßigte Klima. Schließlich war die ortsgebundene Wasserkraft leicht zu erreichen, so dass der Nutzung der Wasserkraft nicht die exorbitant hohen Transportkosten in den Mittel- und Hochgebirgsregionen Kontinentaleuropas entgegenstanden.

So wichtig die naturräumlichen Bedingungen und die Verfügbarkeit von „strategisch“ wichtigen Ressourcen auch waren, sie waren nicht einmalig. In anderen Teilen Europas gab es bessere Eisenerze und fruchtbarere Böden, in manchen Gebirgsgegenden Flüsse mit stärkerem Gefälle; manche Staaten verfügten über bessere Erziehungsund Bildungsanstalten, die eine schnellere Senkung der Analphabetenquote erlaubten. In anderen Staaten gab es bereits viel früher reiche Kaufleute und Bankiers, oder sie waren wohlhabender. Wenn gerade dieser Weg, gerade in England und gerade um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Welt zu verändern begann, waren dafür auch gesellschaftliche und historisch bedingte Umstände verantwortlich.

Die Enclosures

In diesem Zusammenhang ist zunächst an die frühe Auflösung der Feudalordnung zu denken. Früher als in anderen europäischen Staaten wurden in Großbritannien die herrschafts-, besitz-, eigentums- und nutzungsrechtlichen Ansprüche der Feudalherren in kapitalistische Eigentumsrechte an landwirtschaftlichem Grund und Boden umgewandelt. Die Enclosures, das heißt die Privatisierung bisher durch die Dorfgemeinschaft kollektiv genutzten Bodens (Commons), bildeten eine wichtige institutionelle Voraussetzung für die deutliche Steigerung der Agrarproduktion in Großbritannien, ohne die die rasch wachsende Bevölkerung nicht ausreichend hätte ernährt werden können. Zum Zweiten bildeten die Enclosures aber auch die Voraussetzung für eine deutliche Steigerung der Arbeits- und Bodenproduktivität, so dass ein immer kleinerer Teil der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt werden musste. Manche Historiker sprechen deshalb von einer „Agrarrevolution“, die zeitlich fast parallel zur „Industriellen Revolution“ verlief.

Privatisierung von Commons

Obwohl die ersten Anfänge der Privatisierung von Commons bereits auf das Spätmittelalter zurückgehen, nahm die Bewegung erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts entscheidend Fahrt auf, weil die Überführung des Bodens in Privateigentum bisher nur auf Grundlage einer freiwilligen Übereinkunft der Betroffenen möglich gewesen war. Als der Prozess jedoch wegen des zunehmenden Widerstandes der Kleinbauern ins Stocken geriet, wurden die Enclosures durch Parlamentsakte, das heißt durch gesetzlichen Zwang, fortgesetzt. Da das britische Parlament im 18. Jahrhundert noch maßgeblich durch die großen Grundeigentümer (Landlords) dominiert wurde, konnte die Individualisierung der Eigentumsrechte an der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche, die in der Regel auch mit einer Flurbereinigung verbunden war, bis gegen Ende des ersten Viertels des 19. Jahrhunderts abgeschlossen werden.

Folgen der Enclosures

Indem die Enclosures die individuelle Aneignung der Mehrerträge durch eine rationelle Produktion und Investitionen in Entwässerung und andere den Boden verbessernde Maßnahmen ermöglichten, löste diese Eigentumsrevolution einen deutlichen Produktivitätsschub aus. Auf der anderen Seite verschärften die Enclosures aber auch die sozialen Gegensätze auf dem Land. Während die ländlichen Unterschichten ihre Subsistenz durch die Nutzungsrechte an den Commons einigermaßen hatten sichern können, führte die Privatisierung des Bodens zu einer Konzentration des Landbesitzes in den Händen der Landlords, die diesen wiederum in großen und damit leistungsfähigen Einheiten an wohlhabende Bauern verpachteten. Dadurch verschwand nicht nur der kleinbäuerliche Besitz, sondern auch die mittelbäuerlichen, von einer Familie bewirtschafteten Höfe (Freeholder) wurden immer weiter zurückgedrängt, weil sie gegen die großen Farmen der Pachtbauern nicht konkurrenzfähig waren.

Wegen der Größe der von ihnen zu bearbeiteten Flächen waren die Pachtbauern wiederum auf Landarbeiter angewiesen, die sie aus dem großen Heer der landlosen Unterschichten rekrutieren konnten. Allerdings beschäftigten diese nun nicht mehr für die Subsistenz, sondern für einen anonymen Markt produzierenden Pachtbauern nur so viele Landarbeiter, wie sie saisonweise tatsächlich benötigten. Die Unterbeschäftigung auf dem Land, die die europäische Landwirtschaft seit Jahrhunderten gekennzeichnet hatte, verschwand damit in Großbritannien, wodurch, begünstigt durch das schnelle Bevölkerungswachstum, Arbeitslosigkeit und Massenarmut ausgelöst wurden, die bereits von den Zeitgenossen als „Pauperismus“ bezeichnet wurden. Denn die zu dieser Zeit entstehenden Fabriken waren noch nicht annähernd in der Lage, die ländliche Überschussbevölkerung aufzunehmen.

Investitionen

Die wachsende soziale Ungleichheit auf dem Land durch die Konzentration des Eigentums an Grund und Boden war aber auch die Voraussetzung für den im europäischen Vergleich sehr hohen Kapitaleinsatz. Investitionen wurden nämlich nicht nur zur Umwandlung von Brachen in landwirtschaftlich nutzbare Böden oder zum Umbrechen von Wiesen in Ackerflächen getätigt, sondern auch der Viehbesatz pro Hektar war in dieser durch Pachtbetriebe geprägten Landwirtschaft viel höher als etwa in der durch eine bäuerliche Besitzstruktur geprägten französischen Landwirtschaft. Dadurch waren auch die Zugkraft je Hektar sowie der Anfall an Dung höher, was wiederum der Bodenproduktivität auch in der Pflanzenproduktion zugute kam.

Landlords als Multiplikatoren

Die Konzentration des landwirtschaftlichen Besitzes hatte aber auch noch einen weiteren Vorteil. Moderne Anbaumethoden und Züchtungserfolge sowie neue Erkenntnisse der Pflanzenphysiologie usw. konnten sich sehr viel schneller verbreiten, weil die Landlords sich im Winter überwiegend nach London zurückzogen. Man kannte sich, verkehrte in denselben Kreisen und debattierte nicht selten über landwirtschaftliche Fragen. Damit fungierten die Landlords als Multiplikatoren, weil sie ihre neuen Kenntnisse im nächsten Frühjahr an ihre Pächter weitergaben. So war Großbritannien am Ende des 18. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur das führende Land der industriellen Technik in der Welt, sondern auch die britische Landwirtschaft war ihren Konkurrenten deutlich voraus. Bis in die 1840er Jahre hinein war das Land deshalb nicht auf den Import von Getreide angewiesen, der während der Napoleonischen Kriege ohnehin kaum möglich war. Auch danach wurden bis in die 1830er Jahre kaum mehr als 10 Prozent des Getreide-(Weizen-)Bedarfs eingeführt. Dafür waren aber nicht allein Produktivität und Kapitalintensität der britischen Landwirtschaft verantwortlich, sondern auch der bis 1846 geltende Zollschutz (Corn Laws), der dank des parlamentarischen Einflusses der Landlords zeitweise sogar durch Importverbote ergänzt wurde. Erst nach Aufhebung der Corn Laws wurde Großbritannien zu einem Land mit einer hohen Nettoeinfuhr von Getreide, zunächst vornehmlich aus dem Ostseeraum und später auch aus Nordamerika.

Rechtssystem

Der Auflösung der Feudalordnung verdankte England auch die frühe Entwicklung eines Bürgertums und die Durchsetzung des bürgerlichen Leistungsethos sowie den im europäischen Vergleich ebenfalls frühen Abbau städtischer Privilegien und Zunftzwänge. Das aus dem Kampf zwischen Krone und Adel hervorgegangene Rechtssystem stärkte Privateigentum und Individuum gegenüber der Obrigkeit. Konkret bedeutete das, dass etwa Zunfttraditionen zwar aufrechterhalten werden konnten, diese aber fast ausschließlich dazu dienten, handwerkliche Fähigkeiten zu erhalten. Freie unternehmerische Initiativen konnten sie nicht mehr behindern.

Industrial Enlightenment

Die auf einem funktionierenden Rechtssystem ruhende öffentliche Verwaltung war zudem stark genug, um die innere Ordnung zu garantieren, und ließ vergleichsweise wenig Raum für das Versickern der Steuereinnahmen des Staates in privaten Taschen, was für das Frankreich des Ancien Régime so charakteristisch war. Die Steuerbelastung war deshalb trotz der kolonialen Expansion und der zahlreichen Kriege, die Großbritannien im 18. und frühen 19. Jahrhundert jenseits seiner Grenzen führte, nur mäßig, was wiederum der Kapitalbildung im Inland zugute kam. Schließlich führte die besondere Form der Reformation zu einer Vielfalt von Religionsgemeinschaften und dadurch zur Toleranz auch in anderen Bereichen, einschließlich der freien Forschung in Naturwissenschaft und Technik. Historiker sprechen in diesem Zusammenhang neuerdings von Industrial Enlightenment.

Rivalen Großbritanniens

Als der im 18. Jahrhundert bedeutendsten Seemacht gelang es Großbritannien, nicht nur Kolonien zu erwerben, sondern auch einen blühenden Handel mit anderen Ländern zu treiben. Seine stärksten Rivalen waren die Niederlande und Frankreich. Erstere konnten schließlich wegen ihrer geringen Einwohnerzahl und ihrer schwächer entwickelten Industrie mit Großbritannien nicht Schritt halten, während Frankreich letztlich den Versuch vorzog, die kontinentale anstelle der maritimen Vorherrschaft zu erringen. So gelang es bereits 1763, die konkurrierenden Mächte fast vollständig aus Indien und Nordamerika zu verdrängen. Selbst in der Karibik und in Südamerika, wo der Einfluss Spaniens und Portugals trotz ihres Abstiegs als Seemächte noch beträchtlich war, konnte Großbritannien trotz eines vergleichsweise kleinen eigenen Kolonialbesitzes zu einer dominierenden Macht aufsteigen. Nachdem sich die südamerikanischen Staaten im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts von ihren Kolonialherren befreit hatten, mutierten sie als Teil eines informal empire zu einem – modern gesprochen – „Hinterhof“ der britischen Weltherrschaft, der zwar nicht unmittelbar politisch, aber sehr wohl wirtschaftlich weitgehend vom „Mutterland“ abhängig war und blieb, bis im 20. Jahrhundert die USA auch dieses Erbe des zerfallenden Weltreiches übernahmen.

Textilgewerbe

Der größte Gewerbesektor im Großbritannien des 18. Jahrhunderts war das Textilgewerbe. Die Kommerzialisierung und die gesellschaftliche Arbeitsteilung waren zu diesem Zeitpunkt bereits so weit fortgeschritten, dass ein sehr großer Teil der Bevölkerung, insbesondere natürlich in den Städten, auf die Produktion ihrer Bekleidung im eigenen Haushalt verzichtete. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Textilproduktion einer der ersten Gewerbezweige gewesen ist, die durch technische Erfindungen und neue Organisationsformen von Grund auf verändert wurden. Ursprünglich hatte das Textilgewerbe aus weit verstreuten gemischten Betrieben bestanden. Aufwendige Arbeiten wie Spinnen, Weben und Wirken wurden in Heimarbeit verrichtet; weniger aufwendige wie die Vorbereitung der Fasern für den Spinnvorgang wurden um die Mitte des Jahrhunderts in großen Werkstätten zentral ausgeführt. In der Garnspinnerei wurden hauptsächlich Mädchen und Frauen in Teilzeitarbeit eingesetzt, die daneben den eigenen Haushalt und ihr bäuerliches Anwesen versorgten. Weben und Strumpfwirken dagegen waren überwiegend Männerarbeit. Ursprünglich hatten Weber und Wirker zu den in Zünften organisierten Stadthandwerkern gehört. Im 18. Jahrhundert waren sie aber schon lange frei und wohnten meist auf dem Lande. Um ihre Familien ernähren zu können, bewirtschafteten sie neben ihrem Gewerbe häufig noch ein kleines Stück Land.

Marktstrukturen

Ebenso uneinheitlich wie die technischen Produktionsprozesse waren im Textilgewerbe die Marktstrukturen. Es gab Großbetriebe, vornehmlich im Südwesten, die entfernte Märkte in London und in Übersee belieferten, und es gab vornehmlich im Norden den Weber, der als kleiner unabhängiger Unternehmer die Rohwolle selber einkaufte, durch Familienangehörige oder Nachbarn zu Garn verspinnen ließ und das fertig gewebte Tuch Großhändlern zum Kauf anbot. In Schottland und Irland erzeugtes Leinen sowie die in Lancashire und den Midlands hergestellten Baumwoll- und Wirkwaren lagen hinsichtlich der Strukturen ihres Marktes zwischen diesen beiden Extremen.

Schwerpunkt: Wollproduktion

Der Schwerpunkt der Wollproduktion lag im 18. Jahrhundert im Nordosten Englands, im West Riding. Obwohl es dank der billigen, wenn auch minderwertigen Wollprodukte gelang, andere auf den europäischen Märkten schon lange etablierte Konkurrenten – wie die Wollweber des Languedoc – auf den Exportmärkten zurückzudrängen, entwickelte sich das Baumwollgewerbe am schnellsten. Reine Baumwollstoffe, wie sie aus Asien bezogen wurden, wurden in Großbritannien allerdings zunächst nicht hergestellt. Die britischen Spinner und Weber besaßen nach einer verbreiteten Ansicht nicht die notwendigen Fähigkeiten für die Herstellung von Baumwollstoffen. Stattdessen fanden aber Mischgewebe aus Baumwolle und Leinen oder aus Baumwolle und Wolle im In- und Ausland wachsenden Absatz. Das Zentrum dieser Entwicklung war die Grafschaft Lancashire mit dem gewerblichen Zentrum Manchester, das nicht weit entfernt von dem im Atlantikhandel zunehmend an Bedeutung gewinnenden Hafen von Liverpool lag.

Spinning Jenny

In den 1760er Jahren stieß die Entwicklung des Baumwollgewerbes in Lancashire jedoch an eine Grenze: Die Arbeitskräftereserven waren vollständig ausgeschöpft. Das machte sich besonders beim Spinnen bemerkbar, weil jeder vollbeschäftigte Weber das Garnprodukt von vier bis sieben Spinnrädern verbrauchte. Es entstand ein klassischer Engpass in der Versorgung eines wachsenden und rentablen Marktes. So schrieb die britische »Society of Arts« 1761 einen Preis aus, wonach eine Maschine gesucht wurde, welche „sechs Fäden aus Wolle, Flachs, Hanf oder Baumwolle auf einmal spinnen und nur eine Person brauchen würde, um mit ihr zu arbeiten und sie zu bedienen“. Diese Vorgaben wurden von der Spinning Jenny des Handwebers James Hargreaves erfüllt. Sie ahmte das abgesetzte Spinnen mit dem normalen Handspinnrad nach. Der Unterschied bestand allerdings darin, dass eine Arbeiterin mit nur einer Handkurbel zunächst sechs Spindeln gleichzeitig antreiben konnte.

Waterframe und Mule

Die wichtigste Konkurrentin der Jenny war die nur wenig später entwickelte Waterframe-Spinnmaschine des Perückenmachers Richard Arkwright, die das kontinuierliche Spinnen mit dem Flügelspinnrad nachempfand und von Anfang an größer ausgelegt war, so dass der Wasserradantrieb für sie sogar namensgebend wurde. Der Vorteil dieser Maschine gegenüber der Jenny bestand darin, dass sie fast automatisch lief und nur noch ein Hilfsarbeiter die gefüllten Spindeln durch leere ersetzen und gerissene Fäden wieder ansetzen musste. Allerdings konnte die Waterframe nur sehr grobes Garn produzieren, das für viele Gewebearten ungeeignet war. Ende der 70er Jahre gelang es dann Samuel Crompton eine Maschine zu entwickeln, die automatisch wie die Waterframe feine Garne wie die Jenny spinnen konnte. Er gab ihr ebenfalls einen sprechenden Namen: Mule (Maulesel). Diese Maschine bildete dann die Grundlage für die Invasion Europas und weiter Teile der übrigen Welt durch britische, Maschinengesponnene Garne.


Eine Frau bedient die von James Hargreaves erfundene „Spinning Jenny“ (unbekannter Holzstich, 1880).

Die Verbilligung der Produktion war jedoch nicht der einzige Grund für die schnelle Verbreitung der Spinnmaschine in Lancashire. Auch die bisher dezentrale Produktion durch das Heimgewerbe musste wegen des Antriebs nun räumlich konzentriert werden. Die Technisierung war demnach auch ein gezielter Versuch des Unternehmers, die Kontrolle über eine wachsende Produktion zu behalten. Auch hier war Arkwright ein Pionier. Er entwickelte nicht nur noch weitere Maschinen für andere Arbeitsvorgänge, sondern unter seiner Leitung entstanden ab 1771 die ersten Baumwollfabriken.

Fabrikstandorte

Bis um die Wende zum 19. Jahrhundert spielte die Dampfmaschine als Antriebsaggregat in der Baumwollindustrie kaum eine Rolle. Abgesehen von dem vereinzelten Einsatz von Göpeln (Pferdeantrieb) wurden die Spinnmaschinen zu dieser Zeit hauptsächlich mit Wasserkraft angetrieben. Die Fabriken entstanden deshalb auch zunächst in abseits gelegenen Flusstälern. Erst später, als die Wasserkraft durch die Dampfkraft ersetzt worden war, baute man Fabriken in wachsendem Maße in den Städten, in denen das Arbeiterpotential und bessere Verkehrsverbindungen günstigere Standortbedingungen boten. Erst jetzt entwickelte sich Manchester zur ersten industriell geprägten Großstadt der Welt.

Beginnende Mechanisierung

Das Spinnen von Baumwollfasern ließ sich leichter mechanisieren als das Spinnen anderer Textilfasern, und da Baumwollstoffe preiswert waren und sich für ganz unterschiedliche Klimata eigneten, ließen sie sich auf Märkten in Übersee und Europa, hier vor allem an die ärmeren Bevölkerungsschichten, gut verkaufen. Die wachsende Nachfrage nach dem Rohstoff, der Baumwollfaser, konnte man durch Ausweitung des Anbaus, insbesondere in Nordamerika, befriedigen. Für den Aufstieg der Südstaaten der USA zum führenden Baumwollproduzenten der Welt war ebenfalls eine Maschine mitverantwortlich. Die von dem Amerikaner Eli Whitney entwickelte Egreniermaschine (Cotton Gin) trennte die Samenkapseln von den Fasern (s. Abb. S. 85). Damit entfiel das arbeitsintensive Rupfen der Baumwolle, das die Rohbaumwolle bisher trotz des Sklaveneinsatzes zu sehr verteuert hatte. Durch diese Teilmechanisierung der Aufbereitung war das Rohprodukt auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig geworden. Die Sklaven wurden auf den Südstaatenplantagen seitdem in erster Linie als Pflücker eingesetzt.

Der Markterfolg der englischen Baumwollstoffe ging natürlich zum Teil zu Lasten der Stoffe aus anderen Textilfasern. Entsprechend groß war dort der Anreiz, den Spinnprozess ebenfalls zu mechanisieren. Das gelang kurz vor 1800 in Ansätzen in der Wollspinnerei. Nach weiteren 30 Jahren konnte auch die Flachsspinnerei dank einer französischen Erfindung mechanisiert werden. Noch mehr Zeit verging bis zur Entwicklung eines brauchbaren Maschinenwebstuhls. Auch hier war bereits im 18. Jahrhundert experimentiert worden, aber wirtschaftlich einsetzbare Modelle entstanden erst nach 1820 und verdrängten zunächst auch nur die Handwebstühle für einfache Webstoffe.

Baumwollspinnerei als Führungssektor

Die Baumwollspinnerei erfüllte damit alle Kriterien, die der Wirtschaftswissenschaftler Walt W. Rostow für die Funktion eines Führungssektors der Industrialisierung als notwendig erachtete. Die Baumwollspinnerei besaß ein großes und dank ihres Wachstumstempos schnell ansteigendes gesamtwirtschaftliches Gewicht. Die Produktionspreise konnten dank der Produktivitätsfortschritte deutlich gesenkt werden, wodurch neue Käuferschichten erschlossen wurden. Schließlich diente die Baumwollspinnerei als Vorbild für andere Branchen und sorgte auch dort durch die wachsende Nachfrage nach Vorprodukten für Wachstumsimpulse.

Bei der Analyse der Ausbreitungswirkung eines Führungssektors muss man jedoch nicht ausschließlich an Vor- und Konkurrenzprodukte denken. Auch die Verkehrsrevolution war eine mittelbare Folge des Ausbreitungseffekts der Textilindustrie. Dabei ist allerdings noch nicht die Eisenbahn gemeint, sondern in erster Linie der Kanalbau, der im letzten Viertel des 18. und im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts, nur unterbrochen durch die Napoleonischen Kriege, eine wegen der späteren Bedeutung der Eisenbahn weithin unterschätzte Blüte erlebte.

Kanalbau

Im Gegensatz zu Frankreich, wo der Staat im 17. und 18. Jahrhundert zahlreiche Kanäle hatte bauen lassen, fehlte es in Großbritannien zu Beginn der Industrialisierung an einer vergleichbaren infrastrukturellen Vorleistung des Staates. Die Insellage erlaubte zwar auch ohne den Bau künstlicher Wasserstraßen die Versorgung Londons über den Wasserweg. Aber von der Brennstoffnachfrage Londons, der zu diesem Zeitpunkt mit Abstand größten Stadt Europas, profitierten allein diejenigen Kohlenreviere, die an der Küste lagen. Der Überlandtransport von Massengütern verteuerte diese Waren so sehr, dass sie schon nach wenigen Meilen Transportweg nicht mehr nachgefragt wurden. Insofern war es naheliegend, wenn bereits die ersten Unternehmer die Initiative zum Bau eines Kanals in ihrer Region übernahmen.

Der Bridgewater-Kanal

Nachdem bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Flüsse Mersey und Irwell schiffbar gemacht worden waren und damit eine Wasserverbindung von Manchester zum Hafen nach Liverpool bestand, entschied sich Francis Egerton, der dritte Duke of Bridgewater, nach einer Besichtigung des südfranzösischen Canal du Midi zum Bau eines Kanals von seinen Kohlegruben bei Worsley zum Irwell, um auf diesem Wege Manchester billiger mit Kohle versorgen zu können. Nachdem zunächst 1761 der Anschluss nach Manchester hergestellt worden war, baute Egerton auch eine Verbindung zum Mersey, um auf diese Weise Liverpool mit seinen Kohlen zu beliefern. Die Versorgung Manchesters mit Steinkohle diente zwar zum Zeitpunkt der Projektierung des Kanals noch nicht der Versorgung von Dampfmaschinen in der Stadt. Aber die sichere und preisgünstige Versorgung mit Energie bildete einen wichtigen Standortvorteil, als gegen Ende des Jahrzehnts leistungsfähige Dampfmaschinen für die Textilindustrie verfügbar waren, für deren rentablen Einsatz preisgünstige Steinkohle eine notwendige Bedingung darstellte. Umgekehrt sorgte die Industrialisierung Manchesters für weitere Impulse zum Ausbau des Bridgewater-Kanals und andere Kanalbauten in der Grafschaft. Auch die Erschließung der ersten montanindustriellen Führungsregion Europas, des fernab von der Küste in Mittelengland gelegenen Black Country, erfolgte fast ausschließlich über den Bau von Kanälen.

Finanzierung der Kanalbauten

Die Kanalbauten erfolgten ohne finanzielle Beteiligung des Staates. Ihr Bau überstieg natürlich die finanziellen Möglichkeiten einer einzigen Unternehmerfamilie bei weitem. Deshalb wurden für Bau und Betrieb Aktiengesellschaften nach dem Muster der bereits im Überseehandel, im Versicherungswesen und in einigen anderen Sektoren bestehenden Gesellschaften gegründet, die zunehmend auch Investoren außerhalb der Region interessierten. In den 1790er Jahren setzte dann ein „Kanalbaufieber“ (Canal Mania) ein. Dabei handelte es sich um eine Spekulationsblase, deren Ursache nicht allein die hohen Renditen waren, die mit den Aktien der bereits in Betrieb befindlichen Kanäle erzielt wurden, sondern auch zahlreiche französische Adlige versuchten nach 1789, ihr Vermögen durch Investitionen in britische Kanäle in Sicherheit zu bringen. Mit der französischen Kriegserklärung an Großbritannien 1793 platzte die Blase jedoch und der Kanalbau kam für einige Jahre fast ganz zum Erliegen. Die weitere Entwicklung nach der Jahrhundertwende verlief dann kontinuierlicher. Im Ergebnis waren bis 1820 in Großbritannien Kanäle mit einer Gesamtlänge von 2200 Kilometern gebaut worden. Damit verfügte das Land über gut 5000 Kilometer Wasserstraßen, was einem durchschnittlichen Wachstum von 1,4 Prozent pro Jahr (seit 1760) entsprach. Das war zu diesem Zeitpunkt einmalig, so dass Großbritannien schon am Vorabend des Eisenbahnzeitalters das verkehrsinfrastrukturell mit Abstand am besten ausgestattete Land der Welt war.

Zunächst überschaubare Auswirkungen

Während dieser ersten Phase der Industrialisierung waren die Auswirkungen auf dem Kontinent noch recht überschaubar. Bis in die 1830er Jahre hatte kein Nationalstaat eine mit England vergleichbare Modernisierung der Gewerbewirtschaft hervorgebracht. In den großen Flächenstaaten wie Frankreich oder Preußen waren einige (textil-)industrielle Inseln entstanden, die allerdings in Preis und/oder Qualität der von britischen Maschinen gesponnenen Garne noch nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatten. Ihren Aufstieg verdankten sie in erster Linie ihrer Überlegenheit gegenüber der vorindustriellen Textilproduktion des Landes und nicht zuletzt, insbesondere im Falle Frankreichs, auch einer protektionistischen Handelspolitik, wodurch britische Importe massiv verteuert wurden.

Die gesonderte Betrachtung einer kontinentalen Industrieregion verdienen während dieser leichtindustriellen Phase der Industrialisierung deshalb wohl nur das schweizerische Voralpenland und das benachbarte (französische) Elsass. Während das Elsass jedoch seine gewerbliche Modernisierung hinter den hohen Zollmauern eines starken Nationalstaates mit einem riesigen Binnenmarkt und einer Bevölkerung fundieren konnte, die im europäischen Vergleich zu dieser Zeit über eine recht hohe Kaufkraft verfügte, schaffte es das schweizerische Voralpenland, sich nicht so sehr als Konkurrent der britischen Textilindustrie, sondern komplementär dazu auf dem Weltmarkt erfolgreich zu platzieren.

Schweiz

Bis 1848 war die Schweiz mit Ausnahme der kurzen Periode der Helvetischen Republik (1798–1803) stark fragmentiert. Die Kantone besaßen eine große politische Autonomie, auch und gerade in wirtschaftspolitischen Fragen. Insofern existierten weder einheitliche Zoll- und Münzsysteme noch einheitliche Maße und Gewichte. In Anbetracht der geringen Größe des Binnenmarktes, der nach dem zwischenzeitlichen Anschluss der Helvetischen Republik an den französischen Binnenmarkt schon 1803 wieder auf die Eidgenossenschaft beziehungsweise auf den jeweiligen Kanton reduziert worden war, muss den schweizerischen Textilunternehmern klar gewesen sein, dass sie mit der Produktion von Massenware gegen die britische Konkurrenz auf den Exportmärkten chancenlos waren. Aber die britische Textilindustrie war damals noch längst nicht in der Lage, allen Bedarf an textilen Qualitäten so billig zu befriedigen wie die unteren Preissegmente des Marktes. Das Besetzen von Nischen war die Chance der Schweizer und sie nutzten sie.

Voraussetzungen

Dabei waren die Voraussetzungen für einen frühen Start in das Industriezeitalter in der Schweiz auf den ersten Blick alles andere als günstig. Das Land verfügte nicht über wertvolle Bodenschätze und auch in erreichbarer Entfernung jenseits der Grenzen war die Ressourcenausstattung nicht besser. Außerdem lag die Region am Fuß der Alpen verkehrsmäßig ungünstig. Allerdings verfügte die Schweiz über eine alte städtische Kultur mit einer Tradition gewerblicher Arbeit für auswärtige Märkte. Durch den Fernhandel hatten sich die Städte einen gewissen Wohlstand geschaffen, so dass Kapital grundsätzlich verfügbar war, das in industrielle Anlagen investiert werden konnte – sofern die Gewinnaussichten dies nahelegten.

Baumwollgewerbe

Ein wichtiger Startvorteil war daneben in erster Linie die im kontinentaleuropäischen Vergleich sehr frühe Verbreitung des Baumwollgewerbes. Bereits in den 1760er Jahren war die Baumwollspinnerei der wichtigste Gewerbezweig des Landes geworden. Denn das schweizerische Baumwollgewerbe zeichnete sich im 18. Jahrhundert durch hohe Kunstfertigkeit und eine hohe Qualität seiner Produkte aus. Dank des hohen Wertes der Waren bei relativ geringem Gewicht fiel der Transportkostennachteil der Entfernung sowohl von den Einfuhrhäfen für Baumwolle als auch zu den Absatzmärkten nicht allzu sehr ins Gewicht.

Entwicklung der Spinnerei

Zu einer Mechanisierung der Spinnerei nach englischem Vorbild kam es im 18. Jahrhundert jedoch noch nicht. Als gegen Ende des Jahrhunderts die schweizerischen Handspinner von den englischen Maschinenspinnereien unterboten wurden, stellten sich die eidgenössischen Unternehmen zunächst fast völlig darauf um, preiswertes englisches Garn zu verarbeiten. Dadurch waren die Stoffe weiterhin konkurrenzfähig, obwohl auch die Weiterverarbeitung der Garne zunächst noch nicht mechanisiert werden konnte. Entsprechend arbeitsintensiv war die Produktion, so dass der Arbeitskräftebedarf anstieg, wodurch die Folgen der zusammenbrechenden Handspinnerei teilweise aufgefangen werden konnten. Man schätzt, dass bereits um 1800 200.000 Schweizer im Textilgewerbe beschäftigt waren, davon allein etwa 100.000 im Bereich der Baumwollverarbeitung. Nach der Jahrhundertwende, zunächst noch im Schutz des französischen Binnenmarktes, setzte sich dann auch in der Schweiz die Maschinenspinnerei durch, zunächst in St. Gallen, später auch etwa in Zürich. Nach der Aufhebung der Kontinentalsperre konnte man dann der englischen Konkurrenz auf den kontinentaleuropäischen Märkten einschließlich des Schweizer Garnmarktes zunehmend erfolgreich Paroli bieten. Ab etwa 1830 war die Schweizer Baumwollverarbeitung von englischen Garnimporten sogar völlig unabhängig.

Entwicklung der Weberei

Zu dieser Zeit setzte schließlich auch die Mechanisierung der Weberei ein. Das Wachstum der Textilindustrie war aber nicht so schnell, dass die arbeitslosen Handweber in den Fabriken schnell wieder Arbeit fanden. Es kam zu sozialen Unruhen, wodurch die Durchsetzung der Maschinenweberei im europäischen Vergleich deutlich verlangsamt wurde. Bis in die 60er Jahre hinein konnte sich die Handweberei deshalb noch recht gut behaupten, was zum Teil allerdings auch daran lag, dass in der Schweiz weiterhin in großem Maße Textilien höherer Qualitäten produziert wurden, für deren Herstellung die mechanischen Webstühle anfangs noch nicht geeignet waren. Als Absatzmarkt kam Europa jedoch wegen der geringen Größe des Schweizer Binnenmarktes und wegen des Protektionismus vieler Nachbarstaaten kaum in Frage. Deshalb gingen etwa 90 Prozent der schweizerischen Textilproduktion in den Export und davon etwa drei Viertel nach Übersee, größtenteils in die beiden Amerikas.

Schweiz als „Industrielandschaft“

Die Mechanisierung der Baumwollindustrie und auch die Basler Seidenindustrie mit ihren komplizierten Maschinen boten die Grundlage für den Aufbau einer modernen Maschinenbauindustrie. Deshalb kann die Schweiz als der einzige Industrialisierungsfall Kontinentaleuropas im 19. Jahrhundert gelten, in dem die Textilindustrie die Führungssektorfunktion ausfüllte. Die energetische Basis dieses Industrialisierungsweges war und blieb im Gegensatz zu Großbritannien lange Zeit die Wasserkraft. Die dezentrale Struktur der schweizerischen Industrie mit ihren durch Fluss- und Bachläufe bestimmten Fabrikstandorten blieb deshalb erhalten. Zu städtischen Agglomerationen wie in Lancashire nach der Durchsetzung der Dampfkraft als Antriebsenergie kam es in der Schweiz im 19. Jahrhundert nicht. Von der Entstehung eines „Industriereviers“ kann insofern nirgends die Rede sein, bestenfalls von „Industrielandschaften“.

Das Elsass

Eine ähnliche Entwicklung nahm auch das Elsass. Auch dort gab es kaum Bodenschätze, aber die Region verfügte über eine hochentwickelte vorindustrielle Tradition im Textilgewerbe. Denn sie gehörte zu den am dichtesten besiedelten Gebieten Europas, so dass die ländlichen Unterschichten schon früh gezwungen waren, neben ihrer Landwirtschaft auch heimgewerblich tätig zu werden, um die Subsistenz der Familie zu sichern. Neben anderen günstigen Voraussetzungen wie der Verfügbarkeit von Wasserkraft und sauberem Wasser für die Textilindustrie und dem Zugang zu schweizerischem Kapital kam aber insbesondere den im Vergleich zu den anderen textilgewerblich geprägten Regionen Frankreichs niedrigen Löhnen der elsässischen Landbevölkerung eine große Bedeutung zu. Zu Beginn der Industrialisierung dürfte das wohl der entscheidende Standortvorteil der Region innerhalb Frankreichs gewesen sein, zumal die benachbarte schweizerische Konkurrenz ebenfalls sehr niedrige Löhne zahlte.

Industrialisierung im Elsass

Ähnlich wie in der Schweiz hatte sich auch das elsässische Textilgewerbe im 18. Jahrhundert auf hochwertige Baumwollwaren spezialisiert. Der Beginn der Mechanisierung der Spinnerei erfolgte etwa zeitgleich mit der Schweiz nach der Wende zum 19. Jahrhundert. Auch hier begann man mit Kopien englischer Maschinen, aber die Spinnmaschinen aus dem Elsass gehörten zu den ersten, die auf dem Kontinent gebaut wurden. Auch beim Übergang zum mechanischen Webstuhl war man im Elsass nur ganz zu Beginn auf den Technologietransfer aus Großbritannien angewiesen. Wenig später entwickelte sich eine leistungsfähige Maschinenbauindustrie, deren Produktionsprogramm sich im Laufe des Jahrhunderts so erweiterte, dass sie Dampfmaschinen und Lokomotiven exportieren konnte.

Ein wichtiger Grund dafür, dass die Industrialisierung sich auf dem Kontinent so langsam ausbreitete, waren zum einen die Verwüstungen und finanziellen Belastungen durch die auf dem europäischen Kontinent ausgefochtenen Kriege, zum anderen die Steuer- beziehungsweise Tributzahlungen an das napoleonische Frankreich. In diesen Zusammenhang gehört auch die Kontinentalsperre, in deren Windschatten das überkommene kontinentaleuropäische Textilgewerbe noch eine Weile ohne wesentliche Veränderungen überleben konnte. Als die Kontinentalsperre 1814 nach acht Jahren aufgehoben wurde, war der Vorsprung der britischen Textilindustrie so groß, dass die Chancen, eine konkurrenzfähige eigene Textilindustrie aufzubauen, in den meisten, finanziell ausgebluteten kontinentaleuropäischen Staaten denkbar schlecht standen.

Institutionelle Revolution“

Daneben waren aber vielfach auch die institutionellen Voraussetzungen für die Industrialisierung noch nicht geschaffen worden. Für die „institutionelle Revolution“ war allerdings weniger das englische Vorbild maßgebend gewesen als vielmehr das französische. Die Verdrängung hierarchiegesteuerter durch marktwirtschaftliche Transaktionen, für welche die Förderung des Privateigentums an landwirtschaftlichem Grund und Boden, ferner die volle Dispositionsfreiheit über die eigene Arbeitskraft durch die Aufhebung feudaler Abhängigkeitsverhältnisse sowie die Förderung des Wettbewerbs durch die Einführung der Gewerbefreiheit die Voraussetzungen waren, erfolgten in West- und Teilen Mitteleuropas durch den mittelbaren oder unmittelbaren Einfluss der Französischen Revolution.

Eingliederung ins französische Staatsgebiet

Für die Niederlande, insbesondere für die südlichen Niederlande, das spätere Belgien, und die deutschen Territorien westlich des Rheins bedeutete die Eingliederung in das französische Staatsgebiet erstens, dass mit der Einführung des französischen Rechts auf einen Schlag zahlreiche Hemmnisse der wirtschaftlichen Entwicklung beseitigt wurden: Die Gewerbefreiheit wurde eingeführt, die Bauern wurden von jeglicher Art feudaler Bindungen und Lasten befreit, die Binnenzölle wurden abgeschafft. Zweitens öffnete sich nun das französische Hinterland als Absatzmarkt, dessen Nachfrage insbesondere für die gewerblich fortgeschrittenen Teile der südlichen Niederlande einen entscheidenden Wachstumsimpuls darstellte, zumal das Borinage, eines der wichtigsten Kohleabbaugebiete Kontinentaleuropas im ausgehenden 18. Jahrhundert, durch den Canal de Mons à Condé an das französische Kanalnetz angeschlossen wurde. Der Kanal wurde zwar erst nach dem Ende der französischen Herrschaft eröffnet, aber die infrastrukturellen Fortschritte und die „institutionelle Revolution“ hatten ein solch solides Fundament geschaffen, dass auch die auf die französische Niederlage folgende Depression, die Abtrennung vom französischen und die Eingliederung in den deutlich kleineren niederländischen Binnenmarkt die Region nicht wieder in die vornapoleonische Zeit zurückkatapultieren konnten.

Voraussetzungen für Fundamentalreformen

In den nach der Niederlage von Jena und Auerstedt errichteten deutschen Rheinbundstaaten schuf die politische Abhängigkeit ebenfalls die Voraussetzungen für Fundamentalreformen. Auch wenn sie nicht mit derselben Konsequenz wie in den annektierten Territorien durchgesetzt wurden, sorgte auch hier der französische Druck für die Einleitung einer „Bauernbefreiung“ und die Durchsetzung der Gewerbefreiheit. In Preußen war der französische Einfluss zwar nur ein mittelbarer. Aber der Reformbürokratie um Staatskanzler Karl August von Hardenberg war durch die französischen militärischen Erfolge klar geworden, dass man durch eine „Revolution von oben“ eine „defensive Modernisierung“ von Wirtschaft und Gesellschaft einleiten musste, wenn Preußen der französischen Bedrohung mittelfristig widerstehen wollte. Nach dem Sieg über Napoleon setzten sich zwar in vielen deutschen Staaten in mancherlei Hinsicht restaurative Tendenzen durch, aber ein Zurück zu Zunftzwang und feudalen Abhängigkeitsverhältnissen erfolgte nicht. Spätestens mit der Revolution von 1848 war dieser Prozess abgeschlossen. Anders als noch im ausgehenden 18. Jahrhundert waren damit die Voraussetzungen geschaffen, um in der zweiten Phase der Industrialisierung den Anschluss an die „Werkstatt der Welt“ herzustellen.

Entwicklung im Habsburgerreich

Für das Habsburgerreich galt das jedoch nicht. Erste Reformansätze hatte es zwar schon im 18. Jahrhundert unter Kaiser Joseph II. gegeben, aber nach dem Tod des Monarchen 1790 kam die Reformbewegung ins Stocken und auch die napoleonische Bedrohung sorgte im Gegensatz zu Preußen nicht für ein Lösen der Blockade. Die Restauration führte während der Jahrzehnte nach der französischen Niederlage erst recht nicht zu einem Umdenken: Im Gegensatz zu den absolutistischen Herrschern des 18. Jahrhunderts hatte die Regierung Metternich aus innenpolitischen Gründen starke Bedenken gegen die freie Entfaltung von Handel und Gewerbe. Denn damit wäre die Stärkung eines unabhängigen Bürgertums verbunden gewesen, und es war zu erwarten, dass diejenigen, die den Staat durch ihre Steuern finanzierten, mittelfristig auch darüber mitbestimmen wollten, wofür diese Steuern ausgegeben wurden. Das sollte verhindert werden, und bis zur Revolution von 1848 besaß die alte Gesellschaftsordnung tatsächlich noch die Macht, den Motor der industriellen Entwicklung zu drosseln. Damit fiel das Habsburgerreich gegenüber den seit 1834 im Deutschen Zollverein zusammengeschlossenen (übrigen) deutschen Staaten wirtschaftlich so entscheidend zurück, dass der später angestrebte wirtschaftliche „Anschluss“ an das deutsche Zollgebiet nicht mehr möglich war.

Baumwollindustrie in den USA

Erste Ansätze zum Aufbau einer modernen Baumwollindustrie gab es seit den 1820er Jahren auch schon in den USA. Es war aber nicht der Rohbaumwolle produzierende Süden, sondern es waren die wesentlich bevölkerungsreicheren Neuenglandstaaten, in denen ein eigenständiges Textilgewerbe entstand. Die erste mechanische Baumwollspinnerei wurde bereits 1790 durch den Einwanderer Samuel Slater mit britischer Technik in Rhode Island errichtet. Das Unternehmen entwickelte sich aber nicht sehr erfolgreich, da der britische Vorsprung nicht so einfach aufzuholen war. Das änderte sich erst, als der Embargo Act von 1807 den Handel mit den kriegführenden europäischen Staaten verbot. Dadurch wurden die Importe britischer Textilien erheblich erschwert beziehungsweise verteuert. In der Folge entstanden in den Neuenglandstaaten zahlreiche Baumwollspinnereien, die sich dann aber seit 1815 erneut einer nach wie vor überlegenen britischen Konkurrenz ausgesetzt sahen. Der Kongress führte daraufhin einen effektiven Zollschutz für Textilien ein, der auch nicht aufgehoben wurde, als die amerikanische Textilindustrie den britischen Vorsprung aufgeholt hatte.

Wegen der Alternative einer selbständigen Existenz als Farmer waren Arbeitskräfte in den USA trotz der Zuwanderung jedoch knapp und die Löhne der Fabrikarbeiter im Vergleich zu Europa sehr hoch. Solange die Weberei noch nicht mechanisiert war, war die Verarbeitung der maschinell hergestellten Garne deshalb ein besonders großer Nachteil der Textilindustrie in Neuengland. Der Anreiz zur Mechanisierung der Weberei war entsprechend hoch und setzte nicht später als in England ein. Von Vorteil war hierbei auch, dass sich die amerikanische Textilindustrie von Anfang an auf grobe Gewebe spezialisiert hatte. Bei diesen billigen Stoffen fielen die Transportkosten der britischen Importe relativ stärker ins Gewicht als bei feinen, teuren Tuchen. Außerdem wurden grobe Stoffe wegen ihrer Strapazierfähigkeit auch stärker von der inländischen bäuerlichen Bevölkerung nachgefragt.

Bedeutung der USA in der Textilindustrie

Um 1840 besaßen die USA die nach Großbritannien größte und leistungsfähigste Textilindustrie der Welt. Wegen des Exportverbots für britische Maschinen führte die Nachfrage der Fabriken frühzeitig zur Entstehung einer modernen Textilmaschinenindustrie, die sehr schnell nicht mehr auf das Kopieren englischer Maschinen angewiesen war. Wie leistungsfähig der amerikanische (Textil-) Maschinenbau bereits um die Jahrhundertmitte war, zeigt die Erfindung der Nähmaschine, mit der die bis dahin ganz auf Handarbeit angewiesene Bekleidungsindustrie revolutioniert wurde. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde aber nicht nur der rasch wachsende Binnenmarkt mit Textilien, Schuhen und anderen Konsumgütern beliefert, sondern es wurden auch durchaus erfolgreich Textilien nach Lateinamerika exportiert. Nicht von ungefähr waren es deshalb auch die USA, die durch Verträge mit China (1844) und Japan (1855) die nach Indien größten potentiellen Absatzmärkte Asiens für Industriewaren „öffneten“.

wbg Weltgeschichte Bd. V

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