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Begriff und Dimension der Industrialisierung

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Industrialisierung in Europa

Kann man eine Geschichte der Industrialisierung bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert überhaupt als „Weltgeschichte“ schreiben? Die Antwort lautet wohl: ja und nein. Denn zum einen war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nur ein sehr kleiner Teil der Erde von einer Entwicklung erfasst worden, die man als „Industrialisierung“ bezeichnet, und dieser Teil lag fast ausschließlich in Europa: in Großbritannien, Belgien, der Schweiz, Frankreich, dem Deutschen Zollverein, in Norditalien und dem westlichen Teil des Habsburgerreiches. Die Niederlande und weite Teile Skandinaviens befanden sich auf einem guten Weg mit vielversprechenden Aussichten, im 20. Jahrhundert den Anschluss zu schaffen. In Russland gab es zwar einige industriell entwickelte Regionen, die aber in dem riesigen Reich nicht mehr als industrielle Inseln in einem Meer der Rückständigkeit darstellten. Ähnlich war die Situation auch in Spanien, und selbst über solche industriellen Inseln verfügten noch nicht einmal Portugal und fast ganz Südosteuropa. Außerhalb Europas hatte die Industrialisierung am Ende des 19. Jahrhunderts lediglich in den USA Fuß gefasst, die mit Blick auf diesen Prozess wegen ihrer kolonialen Vergangenheit und der Bedeutung europäischer Einwanderer wohl noch als eine europäische Exklave betrachtet werden können.

Japan

Etwas anders liegt der Fall lediglich in Japan, das um 1850 wegen seiner rigorosen Abschottungspolitik gegenüber dem Rest der Welt, insbesondere gegenüber dem Westen, wirtschaftlich-technisch noch längst nicht im 19. Jahrhundert angekommen war. Knapp 50 Jahre nach der „Öffnung“ des Landes hatte sich Japan allerdings durch zwei erfolgreich bestrittene Kriege (gegen China 1894/1895 und gegen Russland 1904/1905) als regionale Großmacht etabliert. Die Europäer nahmen diese Entwicklung sehr ernst, weil dieser militärische Erfolg nicht zuletzt dank einer hochmodernen Flotte erzielt wurde. Japan war damit das erste nicht durch die christliche Kultur geprägte Land der Erde, das den Sprung in das Industriezeitalter schaffen konnte.

Import Europas

Um 1900 war Japan aber die Ausnahme von der außereuropäischen Regel. Trotzdem kann auch der „Rest der Welt“ bei einer Geschichte der europäischen Industrialisierung nicht gänzlich vernachlässigt werden. Denn der Hunger Europas nach industriellen Rohstoffen sowie Nahrungs- und Genussmitteln, die in Europa nicht oder zumindest nicht in ausreichender Quantität gefördert oder angebaut werden konnten, veränderte einige Weltregionen nachhaltig. Außerdem blieb die Suche nach neuen Absatzmärkten für europäische Industriewaren nicht ohne Rückwirkungen auf die lokale vorindustrielle Gewerbewirtschaft. Schließlich sorgte die koloniale Beherrschung weiter Teile der Welt durch europäische Mächte für den Import von moderner Infrastruktur, wie etwa den Bau von Eisenbahnen oder Hafenanlagen, wobei die europäischen Kolonialmächte aber nie daran dachten, dass dies als Ansatzpunkt für eine Industrialisierung der jeweiligen Kolonie dienen könnte. Eisenbahnen wurden gebaut, um ein Gebiet wirtschaftlich und militärisch besser durchdringen zu können. Außerdem wurde das Eisenbahnmaterial immer aus Europa importiert. An eine koloniale Importsubstitution war niemals gedacht worden.

Aufstieg von Baumwolle und Kautschuk

Die Veränderung der lokalen Wirtschaftsstruktur in Teilen Asiens und Südamerikas durch die Europäer ist jedoch viel älter als die europäische Industrialisierung. Die Anlage von Zuckerrohr- und Tabakplantagen in Brasilien, in der Karibik und den britischen Kolonien in Nordamerika ließ nach der Entdeckung des neuen Kontinents nicht lange auf sich warten. Später folgte dann auch der Anbau von Kaffee. Ähnliches gilt für Gewürze und Tee aus Süd-, Südost- und Ostasien (s. Beitrag „Fernhandel und Entdeckungen“ in Band IV). Diese Produkte wurden (zunächst) nicht industriell verarbeitet, sondern gingen nur geringfügig aufbereitet unmittelbar in den Konsum. Ganz anders war die Situation bei Baumwolle und später auch bei Indigo und Kautschuk. Baumwolle wurde seit dem 18. Jahrhundert außer in Südasien auch im karibischen Raum, insbesondere in den späteren Südstaaten der USA, in einer ausgedehnten Plantagenwirtschaft angebaut. Sie war der wichtigste Rohstoff der ersten Phase der Industrialisierung, musste aber überwiegend aus Übersee importiert werden, weil die subtropische Baumwollpflanze abgesehen von südlichen und östlichen Mittelmeeranrainern in der unmittelbaren Nachbarschaft Europas nicht angebaut werden konnte. Etwas später folgte der Aufstieg eines zweiten, in den Tropen gewonnenen industriellen Rohstoffs, des Kautschuks. Der Aufschwung dieses zunächst in Brasilien gewonnenen Rohprodukts setzte um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein, nachdem es gelungen war, durch ein „Vulkanisation“ genanntes chemisch-technisches Verfahren aus Naturkautschuk Gummi herzustellen. Gegen Ende des Jahrhunderts verlagerte sich der Schwerpunkt der Weltkautschukproduktion dann allerdings nach Südostasien (Thailand, Indonesien, Malaysia).

Industrielle Ballungsräume

Abgesehen von den USA gelang es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts keinem der Produzenten dieser Rohstoffe, eine größere eigene Verarbeitungsindustrie aufzubauen. Ganz anders war die Situation jedoch bei dem wohl wichtigsten, in Europa reichlich vorhandenen Rohstoff des Industrialisierungszeitalters, der Steinkohle. Tatsächlich entwickelte sich vom ausgehenden 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine Kette industrieller Ballungsräume entlang des in west-östlicher Richtung – von Großbritannien ausgehend, über Nordfrankreich, Belgien, Westdeutschland, Mitteldeutschland und Nordböhmen bis nach Oberschlesien – verlaufenden Kohlebandes. Eine zweite Achse der europäischen Industrialisierung zog sich rheinaufwärts und rhôneabwärts in nord-südlicher Richtung. Im preußischen Rheinland sich mit der West-Ost-Achse schneidend, zog sie sich über das Elsass und das schweizerische Voralpenland bis nach Südostfrankreich und Nordwestitalien.

Grundlagen der Industrialisierung

Diese geologischen und verkehrsgeographischen Voraussetzungen waren für den Verlauf der Industrialisierung in Europa weitaus wichtiger als die Staatsgrenzen, welche diese Räume trennten. Die Industrialisierung war insofern ein regionales Phänomen; die Vorstellung, dass Nationalstaaten industrialisiert wurden oder gar, dass Nationalstaaten die Industrialisierung „gemacht“ hätten, kann als überholt gelten. Natürlich reichten die Ressourcenausstattung einer Region und andere natürliche Voraussetzungen wie eine verkehrsgünstige Lage nicht aus, um einen Industrialisierungsschub auszulösen. Die gesellschaftlichen, sozialen und rechtlichen Rahmenbedingungen mussten die Produktionsfaktoren Kapital, Boden und Arbeit von ihren feudalen Fesseln befreien und deren Kombination nach Rentabilitätsgesichtspunkten zulassen. Es war deshalb wohl die wichtigste Aufgabe der Regierungen, die feudalen Hemmnisse für die Herausbildung individueller Eigentumsrechte zu beseitigen und so die Entstehung einer Marktgesellschaft zu fördern sowie durch die Aufhebung von Binnenzöllen die Herausbildung überregionaler Märkte zu erleichtern. Wichtige Nebenbedingungen waren in diesem Zusammenhang auch ein geordneter Staatshaushalt mit moderaten Steuern für die potentiellen Kapitaleigner sowie die Bereitstellung einer stabilen Währung, die gleichzeitig flexibel genug war, einer wachsenden Wirtschaft ausreichend Zahlungsmittel zur Verfügung zu stellen.

Rolle des Staates

Das war aber noch keine aktive Industrialisierungspolitik. Vielfach waren sich die Reformer, gerade im 18. und frühen 19. Jahrhundert, überhaupt nicht über die Folgen ihrer Reformpolitik im Klaren. Daneben gab es aber auch schon bewusste Versuche von Landesherren, Regierungen oder Behörden, den Industrialisierungsprozess in spätmerkantilistischer Tradition als solchen aktiv zu unterstützen. Man denke etwa an die staatliche Unterstützung der Industriespionage oder an die Errichtung von Musterfabriken, ohne die die Verbreitung von technischem Know-how quer durch Europa so schnell nicht vorangekommen wäre. In vielen Staaten konnte eine moderne Verkehrsinfrastruktur (Straßen, Kanäle und später vor allem Eisenbahnen) auch nur dank des finanziellen Engagements der öffentlichen Hand realisiert werden. Die staatliche Politik ist in ihrer Wirkung deshalb nicht gering zu schätzen – wie anders wäre es ansonsten auch zu erklären, dass sich ein Industrialisierungsband entlang von Rhein und Rhône, nicht aber entlang der Donau durch Europa zog? Andererseits ist die Rolle des Staates im Industrialisierungsprozess in Kontinentaleuropa auch lange Zeit überschätzt worden. Dass die erste Industrieregion Europas in Lancashire entstand, hing weniger mit der britischen Politik zusammen, als vielmehr mit der Ressourcenausstattung der Region (Wasserkraft und später die Erschließung von Steinkohlevorkommen) und der verkehrsgünstigen Lage an der dem Atlantik zugewandten Küste Großbritanniens mit dem Hafen Liverpool. Dass sich knapp 100 Jahre später der größte industrielle Ballungsraum Europas ausgerechnet an Rhein und Ruhr entwickelte, hatte vergleichsweise wenig mit preußischer Politik, aber sehr viel damit zu tun, dass hier zwei natürliche Voraussetzungen, die Ressourcenausstattung mit Steinkohle und anfangs auch Eisenerz sowie eine verkehrsgeographisch günstige Lage, zusammentrafen, so dass es kein Zufall ist, dass sich die beiden beschriebenen Achsen der europäischen Industrialisierung hier kreuzten.

Beginn der Industrialisierung

Aber was versteht man eigentlich unter „Industrialisierung“ oder gar unter einer „Industriellen Revolution“? Nach einer naiven, aber weitverbreiteten Vorstellung wird die „Industrielle Revolution“ mit dem Einsatz von Dampfmaschinen gleichgesetzt. Danach begann die Industrialisierung mit der Erfindung dieser revolutionär neuen Antriebsmaschine, und ihren Abschluss könnte man mit der Verdrängung der Dampfmaschine durch den Verbrennungs- und den Elektromotor datieren. Richtig ist an dieser Vorstellung lediglich, dass die Dampfmaschine, insbesondere die mit Rädern versehene und auf Schienen gesetzte Lokomotive, das Symbol der europäischen Industrialisierung darstellt. Aber die Vorstellung, eine technische Erfindung habe die Industrialisierung ausgelöst, ist absurd.

Erfindung – Innovation

Selbstverständlich ist der europäische Weg der Industrialisierung nicht ohne Kohle und Koks, die Dampfmaschine, die Spinning Jenny als erste Baumwollspinnmaschine oder die Stahlgewinnung durch das „Puddeln“ vorstellbar. Diese und andere technische Errungenschaften stellen insofern eine notwendige Bedingung für die Industrialisierung dar, aber hinreichend sind sie noch lange nicht. Es ist in der Weltgeschichte vieles „erfunden“ worden, das zunächst überhaupt keine praktische Bedeutung erlangte, sondern erst sehr viel später. Entscheidend für die wirtschaftliche Durchsetzung einer Maschine oder eines technischen Verfahrens sind vielmehr eine bestehende oder zumindest latente Nachfrage nach dem Produkt, für dessen Herstellung Maschine oder Verfahren benutzt werden können, und die Wirtschaftlichkeit ihrer Anwendung. Nur dadurch kommt es zu einer schnellen Verbreitung und damit zu weiteren technischen Verbesserungen, so dass aus einer Erfindung (Invention) eine Innovation werden kann.

Beschleunigung des Wirtschaftswachstums?

Lange Zeit galt deshalb die deutliche Beschleunigung des Wirtschaftswachstums oder der Kapitalbildung als das entscheidende Merkmal der Industrialisierung. Ältere Arbeiten gingen noch davon aus, dass es dazu in Großbritannien seit den 1760er Jahren kam. Man sprach deshalb in Abgrenzung zu den Jahrzehnten (Jahrhunderten) davor von einer „Industriellen Revolution“. Analog ging man davon aus, dass sich der gleiche revolutionäre Vorgang im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts in Belgien, der Schweiz, Frankreich, Deutschland und etwas später noch in Österreich-Ungarn, Italien und Skandinavien wiederholte, bis er dann am Ende des 19. Jahrhunderts auch das zaristische Russland erreichte. Von dieser Vorstellung ist die Forschung aber seit einiger Zeit abgekommen. Insbesondere für Großbritannien konnte nachgewiesen werden, dass das Wachstum dank einer entwickelten handwerklichen Produktion und heimgewerblichen Protoindustrie während der Jahrzehnte vor dem Beginn des „Maschinenzeitalters“, der „Industriellen Revolution“, lange unterschätzt worden war. Da das Ausgangsniveau des Bruttosozialprodukts in den 1760er Jahren demzufolge höher war als bisher angenommen, konnte das Wachstum nicht so rasant gewesen sein, wie die älteren Arbeiten noch vermutet hatten. Man geht deshalb von einer graduellen Beschleunigung des Wirtschaftswachstums aus.


Dampfmaschine mit Planetengetriebe von James Watt (1788, London: Victoria and Albert Museum).

In eine ähnliche Richtung wird heute auch von manchen Autoren im Falle der kontinentaleuropäischen Volkswirtschaften argumentiert. Im Falle Frankreichs passte die Vorstellung einer „Industriellen Revolution“ ohnehin nie, weil Frankreich in der Mitte des 18. Jahrhunderts bereits ein hohes, mit Großbritannien vergleichbares Niveau des Pro-Kopf-Volkseinkommens aufwies, dann aber von der schneller wachsenden britischen Volkswirtschaft abgehängt wurde. Beim Eintritt in das 19. Jahrhundert war Frankreich den anderen kontinentaleuropäischen Ländern noch deutlich voraus, wurde im Laufe der folgenden Jahrzehnte aber von einigen Konkurrenten eingeholt und teilweise auch überholt. Im Gegensatz zur politischen war an der wirtschaftlichen Entwicklung Frankreichs damit immer schon wenig „Revolutionäres“ zu entdecken.

Etwas anders sieht das bei Belgien oder dem Deutschen Zollverein aus, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts innerhalb weniger Jahrzehnte Anschluss an die führende Industrienation herstellen konnten. Im Falle Deutschlands wird aber mittlerweile auch darüber diskutiert, ob das Wirtschaftswachstum vor dem Beginn des „Maschinenzeitalters“ nicht unterschätzt wurde. Dennoch eignen sich Deutschland, Belgien und insbesondere Schweden, die am Ende des 19. Jahrhunderts in Europa am schnellsten wachsende Volkswirtschaft, noch am ehesten für eine Rettung des Konzepts beschleunigten Wachstums als Kriterium für Industrialisierung oder Industrielle Revolution.

Bedeutung der Kapitalbildung

Auch die Bedeutung der Kapitalbildung und das Wachstum des Kapitalstocks wurden lange Zeit überschätzt. Tatsächlich war die Kapitalintensität der modernsten Industrien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Großbritannien, der Baumwollspinnereien, der Steinkohlenzechen oder der Hüttenwerke, kaum größer als die Kapitalintensität der Kupferminen und Kupferhütten des Elisabethanischen Zeitalters – ihre technischen Einrichtungen waren noch ausgesprochen primitiv. Eine ältere Lehrmeinung ging noch davon aus, dass eine vorindustrielle Gesellschaft etwa fünf Prozent ihres Bruttosozialprodukts investiert, eine industrielle Gesellschaft aber mindestens zwölf Prozent. „Industrialisierung“ sei deshalb gleichbedeutend mit einer Steigerung von fünf auf zwölf Prozent. Tatsächlich stiegen die Investitionen in Großbritannien jedoch innerhalb einer Generation von sechs auf höchstens neun Prozent, wobei die zusätzlichen drei Prozent auch noch größtenteils in traditionellen Sektoren ohne weitreichende Mechanisierung angelegt wurden, etwa in der Landwirtschaft. Das Produktionswachstum dieser Industrien resultierte deshalb weniger aus dem technischen als vielmehr aus dem organisatorischen Fortschritt, das heißt aus einer intensivierten Arbeitsteilung bei gleichzeitiger Optimierung der Arbeitsabläufe – so wie Adam Smith die moderne Unternehmensorganisation zeitgenössisch am Beispiel einer Nadelmanufaktur beschrieben hatte. Selbst bei einer Baumwollspinnerei um 1800, deren Energiebedarf bereits durch eine Dampfmaschine bereitgestellt wurde, machte das Anlagekapital bestenfalls die Hälfte des Gesamtkapitals aus, bei anderen Unternehmen des Textilgewerbes, etwa bei der zu dieser Zeit noch weit weniger mechanisierten Wollspinnerei, war dieser Anteil noch deutlich niedriger. Auf die Gesamtwirtschaft bezogen, konnten die Baumwollspinnereien und Steinkohlenzechen deshalb kaum einen plötzlichen und statistisch signifikanten Anstieg der Kapitalbildung auslösen.

Die einzige kapitalintensive Ausnahme des 18. Jahrhunderts waren die in Großbritannien ausschließlich privatwirtschaftlich gebauten, finanzierten und betriebenen Verkehrsinfrastrukturanlagen wie Straßen (Turnpikes) und Kanäle. Diese Anlagen waren zwar modern, aber in Anbetracht der Verkehrsmittel Pferdefuhrwerk beziehungsweise Treidelschiff nicht „industrialisiert“. Eine hohe Kapitalintensität kann deshalb nicht notwendigerweise als ein Indiz für das Vordringen moderner Maschinen gewertet werden. Die Dampfmaschine wurde in der Binnenschifffahrt kaum früher eingesetzt als im Überlandverkehr mit der Eisenbahn, das heißt seit dem zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts, als die „Industrielle Revolution“ bereits ein halbes Jahrhundert alt war.

Da Industrialisierung aber heute ohnehin weniger als ein nationalstaatlicher Vorgang denn als ein europäisches Phänomen von industrialisierenden Regionen innerhalb politischer Grenzen und auch über Grenzen hinaus gesehen wird, muss eine Definition von Industrialisierung im gesamten europäischen Maßstab Gültigkeit besitzen. Die Wachstumspfade Frankreichs und Großbritanniens reichen aber aus, um das Konzept beschleunigten Wirtschaftswachstums zu verwerfen. Dasselbe gilt für die Kapitalbildung und das Wachstum des Kapitalstocks. Mit einfachen statistischen Methoden ist eine „Industrielle Revolution“ nicht nachzuweisen.

Periodisierungen der Industrialisierung

Fast alle Periodisierungen der Industrialisierung sind in der Forschung nationalstaatlich orientiert. Selbst immanent gedacht waren solche Periodisierungsversuche nicht immer überzeugend. Das beginnt schon beim britischen Beispiel: Häufig wird hier der Zeitraum zwischen den 1760er Jahren und 1850 als die Periode der industrial revolution bezeichnet. Der Beginn dieser Periode ist relativ einfach zu bestimmen, solange man nicht versucht, sich durch einen scheinbar objektiven statistischen Beweis abzusichern: In den 1760er Jahren begann in der Grafschaft Lancashire die Mechanisierung der Baumwollspinnerei. Das Ende dieser Periode ist weit weniger klar. Die Erschließung des Landes mit Eisenbahnen war zwar 1850 schon recht weit fortgeschritten. Aber am Ende dieses Jahrzehnts, also außerhalb der so definierten industrial revolution, bekam der Eisenbahnbau mit der Einführung der Massenproduktion von Stahl durch das Bessemerverfahren noch einmal einen entscheidenden Impuls, weil dadurch die Schienenproduktion deutlich verbilligt wurde. Davon abgesehen hatte die Industrialisierung in Schottland sehr viel später eingesetzt, und in Irland hatte die große Hungersnot der 1840er Jahre gerade noch einmal deutlich gemacht, wie rückständig die Wirtschaft der kleineren der beiden Inseln des Vereinigten Königreichs noch war. Im belgischen, französischen und deutschen Fall behilft man sich bei der Periodisierung sogar gerne mit der Anlehnung an politische Zäsuren. Das ist wenig überzeugend und für die europäische Dimension der Industrialisierung völlig unbrauchbar.

Intelligentes Nachahmen von Technik

Trotz der lange Jahre vorherrschenden Tendenz, die Industrialisierung nationalstaatlich zu betrachten, ist sich die Forschung über den europäischen Charakter des Prozesses weitgehend einig, denn die Auswirkungen der Industrialisierung in Großbritannien waren in ganz Europa – und darüber hinaus – fühlbar. Das gilt zunächst natürlich für die Technik: Denn die kontinentaleuropäischen „Nachzügler“ mussten das Rad nicht neu erfinden, sondern konnten versuchen, vom britischen Vorbild zu lernen und einige der dortigen Errungenschaften auf die eigenen Verhältnisse angepasst zu übernehmen. Die Kostenersparnis einer intelligenten Nachahmung war beträchtlich und erklärt zu einem Gutteil, weshalb manche kontinentaleuropäische Volkswirtschaften sowie die USA den britischen Vorsprung bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Bereichen ein- und in manchen sogar überholen konnten.

Intelligentes Nachahmen von Institutionen

Die Bedeutung intelligenten Nachahmens war nicht nur für die Verbreitung britischer Technik in Europa entscheidend. Auch institutionelle Arrangements wurden häufig auf die jeweiligen Bedingungen angepasst übernommen. So schauten sich die Kontinentaleuropäer sehr genau die Reform der britischen Währungsverfassung an, die mit der Peelschen Bankakte von 1844 auf der einen Seite die Währungsstabilität garantierte, auf der anderen Seite aber die Zahlungsmittelversorgung so flexibel anlegte, dass der wachsende Zahlungsmittelbedarf befriedigt werden konnte. Die Preußische Bankordnung von 1847 ist sehr eindeutig der Versuch, das britische Vorbild auf die preußischen Verhältnisse anzupassen.

Seit den 1870er Jahren dominierte mit dem Goldstandard ein internationales Währungssystem den Welthandel, in dem die Zentralbanken trotz der imperialistischen Konkurrenz der wichtigsten Industriestaaten ausgesprochen gut miteinander kooperierten. In dieser Zeit orientierten sich weitere Nachzügler der Industrialisierung dann häufig auch am Vorbild der deutschen Reichsbank; und als sich die USA nach der Jahrhundertwende endlich entschieden, ihrerseits eine Zentralnotenbank zu gründen, ließ der Kongress die Bankensysteme und Währungsverfassungen aller wichtigen Industriestaaten dieser Zeit durch einen Untersuchungsausschuss durchleuchten, bevor er im Jahr 1913 den Federal Reserve Act erließ.

Wirtschaftlicher Austausch

Ein weiteres wichtiges Datum für die Zusammenarbeit der europäischen (Industrie-) Staaten war die Verabschiedung des Cobden-Chevalier-Vertrages im Jahr 1860. Hierin vereinbarten Großbritannien und Frankreich eine weitgehende Zollsenkung auf Importe aus dem Land des Vertragspartners. Da sich diesem Vertrag nach einiger Zeit auch der Deutsche Zollverein, Belgien, die Schweiz und Italien anschlossen, entstand in Europa eine Art „Freihandelszone“, die allerdings nicht allzu lange Bestand hatte. In den 80er Jahren kehrten die meisten europäischen Staaten dann zum Zollschutz für bestimmte Importgüter zurück. Aber immerhin: Die gegenseitige wirtschaftliche Verflechtung durch den Waren- und Kapitalverkehr und – nimmt man die USA hinzu – auch durch die Arbeitsmigration hatte am Ende des 19. Jahrhunderts ein Ausmaß angenommen, das nach der Unterbrechung der Zwischenkriegszeit erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts wieder erreicht wurde. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit der europäischen Staaten, so prekär sie im Einzelfall auch gewesen sein mag, begann demzufolge keineswegs erst mit ihrer Institutionalisierung in den „Römischen Verträgen“ im Jahr 1957, sondern bereits im 19. Jahrhundert.

Nationalstaatliche Grenzen

Abgesehen von der grenzüberschreitenden Bedeutung des wirtschaftlichen Austauschs hielten sich auch die Rohstoffvorkommen, insbesondere die Steinkohle, aber auch Eisenerz und andere Bodenschätze, nicht an nationalstaatliche Grenzen, so dass Industrieregionen auf beiden Seiten von Grenzen entstanden. Man denke nur an das deutsch-belgische Revier zwischen Lüttich und Aachen, das deutsch-französische Saarrevier oder den sächsisch-böhmischen beziehungsweise den schlesisch-böhmischen Grenzraum. Jeder Versuch, die gegenseitige Befruchtung benachbarter Wirtschaftsräume zu unterbinden, hätte nicht nur dem Nachbarn geschadet, sondern auch die eigene Entwicklung gebremst. Mögen die Abneigungen der Preußen gegenüber dem aus einer Revolution geborenen Belgien noch so groß gewesen sein, ohne die Impulse aus den belgischen Revieren wäre nicht nur die Geschichte des Aachener Reviers, sondern auch die Geschichte des Ruhrgebiets anders verlaufen.

Verlässt man aber die nationalstaatliche Perspektive, ist es nicht mehr möglich, die Periodisierung der Industrialisierung in Frühindustrialisierung, Take off und Hochindustrialisierung aufrechtzuerhalten. Denn als Preußen zum Zeitpunkt der Gründung des Deutschen Zollvereins noch in der Phase der Frühindustrialisierung steckte, war Großbritannien bereits ein Industrieland, das seinen ersten Eisenbahnboom erlebte, während die russische Wirtschaft noch ganz in den Fesseln des Feudalismus gefangen war.

Anderes Periodisierungsschema

Im Folgenden soll deshalb einem anderen Periodisierungsschema gefolgt werden. Die Forschung geht heute einhellig davon aus, dass die Industrialisierung ein sowohl sektoral als auch regional ungleichgewichtiger und ungleichzeitiger Prozess war. Das bedeutet, dass nicht alle Gewerbezweige gleichzeitig von der Industrialisierung erfasst wurden, sondern nach und nach. Dabei bildeten sich bestimmte, auf „Basisinnovationen“ wie der mechanischen Baumwollspinnerei, der Eisenbahn oder der Elektrifizierung beruhende industrielle Führungssektoren heraus, die über einen längeren Zeitraum in der Lage waren, den Wachstumsrhythmus maßgeblich zu bestimmen. Die Wachstumsimpulse dieser Führungssektoren hielten in der Regel bei leichten Schwankungen über mehrere Jahrzehnte an, bis sie an Dynamik einbüßten. In diesen schwächeren Wachstumsphasen erfolgte dann der Durchbruch einer neuen Basisinnovation, die sich nach einiger Zeit zu einem neuen industriellen Führungssektor entwickelte und ihrerseits die Wachstumsdynamik bestimmte.

Wenn eine rückständige nationale Volkswirtschaft den Anschluss an die industrialisierenden Volkswirtschaften herstellen wollte, musste sie sich im 19. Jahrhundert in der Regel dem Wachstumsmuster der höher entwickelten Volkswirtschaften anpassen, indem sie etwa ihre geringere Arbeitsproduktivität und Produktqualität durch niedrigere Lohnkosten auszugleichen versuchte. Während der Boomphasen war die Nachfrage meist so hoch, dass auch die anfangs noch teuren und qualitativ kaum konkurrenzfähigen Produkte ihre Absatzchancen besaßen. Mit der Zeit wurden die Produkte der nachholenden Volkswirtschaften durch Nachahmung dann qualitativ besser, so dass sie dank der weiterhin vergleichsweise niedrigen Lohnkosten zumindest auf dem Binnenmarkt und bei den noch rückständigeren Nachbarn dauerhaft konkurrenzfähig wurden. So konnte ein selbsttragendes Wachstum über die nachholende Industrialisierung in bestimmten Schlüsselbranchen erreicht werden.

Die folgende Darstellung wird sich an diesen langwelligen Industrialisierungsmustern orientieren. Sie gliedert sich in drei Phasen, die durch unterschiedliche Führungssektoren bestimmt wurden: die Phase der Baumwollindustrie von ca. 1760 bis 1840 (leichtindustrielle Phase), die Phase des Eisenbahnbaus von ca. 1830 bis 1890 (schwerindustrielle Phase) und die Phase der elektrotechnischen Industrie seit den 1880er/1890er Jahren (Phase der „neuen“ Industrien). Letztere liegt allerdings großtenteils außerhalb des Untersuchungszeitraums dieses Bandes, so dass auf diese Entwicklungen nur mit einem Ausblick eingegangen werden wird.

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