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Die Phase der „neuen Industrien“ – Ein Ausblick

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Die dritte Phase der Industrialisierung setzte um das Jahr 1890 ein und wurde von der Elektrifizierung beziehungsweise von der Elektrotechnik als Führungssektor getragen. Manche Wirtschaftshistoriker sprechen auch von mehreren Führungssektoren, deren Gemeinsamkeit in der wissenschaftsgeleiteten industriellen Forschung lag („neue Industrien“). Neben die Elektrotechnik trete dann noch die Chemieindustrie und die – allerdings sehr viel kleinere – optische Industrie. Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Zweiten Industriellen Revolution“.

Komplexe Problemlösung

Großbritannien hatte seine Vorreiterrolle mittlerweile eingebüßt. Die Basisinnovationen besaßen jetzt eher in den USA (Elektrotechnik) und Deutschland (Chemie) ihren Ausgangspunkt. Für ein komplexes System wie die Elektrifizierung reichte eine einzelne Erfindung nicht mehr aus. Der Amerikaner Thomas A. Edison gilt zwar als der „Erfinder der Glühbirne“ und damit als Begründer des elektrotechnischen Zeitalters, aber hätte Edison nur die Glühbirne erfunden, wäre er kaum zu diesem Ruhm gelangt. Es musste vielmehr ein ganzes System entwickelt werden, wobei die Glühlampe nur den Endpunkt dieses Systems darstellte. Für die Lösung dieses komplexen ökonomisch-technischen Problems reichte das „Pröbeln“ der industriellen Pioniere nicht mehr aus. Es bedurfte eines neuen Erfindertypus, für den Edison tatsächlich prototypisch steht. Er entwickelte nämlich eine Art Wissenschaftsprogramm, das auf die verschiedenen Bestandteile des Systems abgestellt war. Denn die Lösung der technischen Probleme überforderte die technischen Fähigkeiten eines einzelnen Erfinders bei weitem. Darüber hinaus benötigte der neue „wissenschaftliche“ Erfinderunternehmer zusätzliche Fähigkeiten, um sein Programm durchzusetzen. Neben Forschung und Entwicklung musste er sich um die Finanzierung, das Management und um organisatorische Probleme kümmern. Zu diesem Zweck gründete Edison verschiedene Firmen mit sehr speziellen Aufgaben: eine Forschungsgesellschaft, eine Fabrik zur Herstellung der verschiedenen Komponenten seines Systems sowie eine Gesellschaft zur Organisation der Systemeinführung und zur Überwachung. Für die einzelnen Aufgaben holte Edison sich jeweils Fachleute: Mathematiker, Physiker, Ingenieure, Facharbeiter für die technische Seite sowie Spezialisten für die kaufmännische Seite. Seine eigene Stärke bestand darin, dass er technische wie finanzielle oder organisatorische Probleme identifizieren konnte und Lösungsstrategien entwickelte. So war ihm von Anfang klar, dass es nicht ausreichte, mit Kupfer einen geeigneten Stoff für die Kraftübertragung zu besitzen. Die Kraftübertragung musste auch so billig sein, dass der elektrische Strom wirtschaftlich gegen das Gas konkurrenzfähig war. War dies nicht der Fall, musste er die Forschungskapazitäten entweder auf die Beschaffung eines Ersatzmaterials oder auf die Reduktion des Materialaufwandes konzentrieren.

Flächendeckende Elektrifizierung

Als Edison 1882 die erste Glühlampe in einem New Yorker Bankhaus publikumswirksam hatte erleuchten lassen, war aber noch längst nicht klar, ob die elektrische Beleuchtung die Gasbeleuchtung jemals verdrängen würde. Allerdings wurden Lizenzen in die gesamte Welt verkauft. Ein wichtiger Schritt zur flächendeckenden Elektrifizierung gelang in den USA ebenfalls zu Beginn der 1880er Jahre, als das erste Wasserkraftwerk der Welt bei den Niagarafällen im Bundesstaat New York errichtet wurde. Allerdings konnte der elektrische Strom zunächst nur lokal genutzt werden, weil die Kraftübertragung bei Gleichstrom wegen der hohen Leitungsverluste unrentabel war. In den 1890er Jahren gelang es dann Edisons Konkurrenten George Westinghouse, den Strom unter Verwendung des Wechselspannungsystems bis in die 40 Kilometer entfernte Stadt Buffalo zu übertragen. Einen ähnlichen Erfolg erzielten die deutsche AEG und die Schweizer Firma Brown, Boveri & Cie., als etwa zu derselben Zeit eine Fernübertragung von hochgespanntem Wechselstrom über 175 Kilometer von Lauffen am Neckar nach Frankfurt am Main in Betrieb genommen wurde. 20 Jahre später wurden dann die elektrische Energie über Leitungen mit Strom bis zu 100.000 Volt übertragen und erste regionale Verbundnetze errichtet.

Kapazitätsauslastung der Kraftwerke

Neben der Kraftübertragung war die schwankende Kapazitätsauslastung der Anlagen in den 90er Jahren das zweite große ökonomische Problem für die Kraftwerksbetreiber. Da zu dieser Zeit noch über 90 Prozent der erzeugten elektrischen Energie für Beleuchtungszwecke gebraucht wurden, wurde der Strom in erster Linie während der Abendstunden abgenommen. Tagsüber mussten manche frühe Elektrizitätswerke sogar abgeschaltet werden. Insofern war es naheliegend, für diese Zeit neue Kunden zu günstigeren Tarifen zu gewinnen. Mit der Entwicklung gebrauchsfähiger Drehstrommotoren begannen sich in den 90er Jahren dank günstiger Tagestarife auch die Industrie und wenig später auch das Handwerk für den elektrischen Strom als Energiequelle zu interessieren. Denn der Elektromotor besaß gegenüber der Dampfmaschine eine Reihe von Vorteilen. Er war schnell betriebsbereit, lief fast geräuschlos und belästigte den gewerblichen Anwender nicht durch Abgase.

Industrieller Aufholprozess?

Mit der Elektrifizierung erreichte die Industrialisierung das Kleingewerbe, und die Standortabhängigkeit wurde ebenfalls deutlich reduziert. So waren die neuen Industriegebiete nicht mehr auf das Vorhandensein von Steinkohle angewiesen und die Industrialisierung in den bereits industrialisierten Ländern konnte sich nun in die Fläche ausdehnen. Europäische Länder, die wegen des Mangels an heimischer Steinkohle bisher eher im Schatten der industriellen Umwälzungen gestanden hatten, konnten nun aufholen, wenn sie über genügend Wasserkräfte verfügten. In Europa galt das etwa für Norwegen, das sich dank der reichlich vorhandenen, nutzbaren Wasserkraft jetzt sogar auf besonders energieintensive Industrien (Aluminium) spezialisieren konnte, sowie für Italien, und auch die Schweiz durchlief seit der Jahrhundertwende eine zweite Phase der Industrialisierung mit dem Aufbau einer leistungsfähigen elektrotechnischen und chemischen Industrie, nachdem das Land an der schwerindustriellen Entwicklung wegen des Mangels an Bodenschätzen kaum hatte partizipieren können. Dennoch sollte nicht übersehen werden, dass der weitaus größte Teil der Welt zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch weit davon entfernt war, einen industriellen Aufholprozess zu starten. Die Zeit der Weltkriege sowie die Deglobalisierung während der Zwischenkriegszeit boten dafür aber anschließend auch denkbar schlechte Voraussetzungen.

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