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6. Geschmack: Vom subjektiven Faktor in der Musikphilosophie

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Hier ist ein Exkurs am Platz. Als Sozial- und Humanwissenschaftler ist man gewohnt, sich auch mit Themen auseinanderzusetzen, für die man von der Sache her wenig Sympathie aufbringt, die einen mitunter geradewegs abstoßen. Würde man diesem Impuls nicht widerstehen, gebe es wohl keine seriöse Holocaust-Forschung, keine wissenschaftlichen Studien über Sexualstraftäter und keine über schulische Schlagrituale. Die Themen mögen noch so unerfreulich sein, sie zu erforschen lohnt den Aufwand, selbst wenn die Arbeit Jahre und Jahrzehnte in Anspruch nimmt und mächtigen inneren Widerstand hervorruft. Auch die Musikphilosophie kann ein Lied von solchen Widerständen singen, aber der Ansporn, sie zu überwinden, scheint hier weniger verbreitet. Wer Justin Bieber, die Scorpions oder Fanta4 nicht ausstehen kann, zu Bach, Brahms oder Berio keinen Zugang findet, wird es aus freien Stücken kaum fertigbringen, sich auch nur einen Monat mit dieser oder vergleichbarer Musik zu beschäftigen. Für die meisten Musiktheoretiker ist es ein Leichtes, die an sich persönliche Auswahl der jeweils behandelten Künstler hinter Sachlichkeit und Objektivität zu verstecken. Die Stimme der Vernunft ist geübt darin, die eigenen Vorlieben zu rationalisieren. Adornos durchaus erhellenden Aussagen über den Jazz sind dafür ein berühmt-berüchtigtes Beispiel, seine frenetische Verwerfung Strawinskys und seine Huldigung Schönbergs ein weiteres. Wie verbohrt zeigt sich dieselbe Vernunft, wenn sie sich widersprechenden ästhetischen Urteilen öffnen soll! Man kennt das aus vielen alltäglichen Situationen: Hält man das Entzücken für gleißende Sonnenuntergänge, für Zwergschweine oder Gesichtspiercings für geschmacklos, dann lässt man sich durch bloße Worte nicht so schnell vom Gegenteil überzeugen. So geht es auch hermeneutisch arbeitenden Musikwissenschaftlern. Wer Queen als fürchterlich pathetisch (und nicht als phänomenal mitreißend), Herbert Grönemeyer als flach und peinlich (und nicht als tiefsinnig und authentisch) oder Deep Purple als aufgeblasen (und nicht als elektrisierend) empfindet, interpretiert deren Produkte anders (was nicht bedeutet: klüger oder dümmer) als jemand, der für die fragliche Musik Feuer und Flamme ist.

Konträre, inkommensurable Sichtweisen begegnen einem natürlich in allen theoriebildenden Disziplinen. Doch es gibt in dieser Hinsicht Unterschiede zwischen, sagen wir, ethischen, politischen oder epistemologischen Theorien auf der einen Seite und musikphilosophischen, ästhetischen auf der anderen – keine kategorialen Unterschiede, aber graduelle.

In der erstgenannten Gruppe sind im Prinzip alle theorierelevanten Denkvoraussetzungen integraler und somit diskutabler Bestandteil der jeweiligen Theorie. Die persönlichen, subjektiven Vorlieben, Abneigungen oder Auswahlkriterien gehören zum Entwicklungszusammenhang der Theorie, sie sind für die Genese der dargelegten Überzeugungen bedeutsam. Im Begründungszusammenhang jedoch, in dem es auf die Geltung der Aussagen ankommt, bleiben sie, so gut es geht, außen vor (vorhanden sind sie natürlich dennoch). Die Unterscheidung von Genese und Geltung gilt an sich auch in der ästhetischen Philosophie. Nur fließen die Ebenen hier sehr viel stärker ineinander, bisweilen so sehr, dass die Geltung musikphilosophischer Aussagen regelrecht unter dem Vorbehalt ihrer Genese steht. Doch darüber spricht man nicht.

In Gunnar Hindrichs’ „Autonomie des Klangs“ etwa sind die subjektiven Vorlieben des Autors von Anfang bis Ende dem Text eingeschrieben. Auf der Vorderbühne jedoch ist jeder Satz sachliche Analyse, ontologische Reflexion, keine Wertung, keine Beurteilung, keine Kritik und kein Wort über das eigene Verhältnis zur Musik. Mir ist Hindrichs nicht persönlich bekannt, doch eine ganz und gar auf die komponierte europäische Kunstmusik fixierte Philosophie wird nur jemand schreiben, der zum Rock, Jazz usw. keinen inneren Bezug hat, sonst hätten diese zeitgenössischen Musikbereiche den Raum erhalten, der ihnen zusteht. Und sicherlich eine andere Ontologie ergeben.

Dass sich Genese und Geltung in der Musikphilosophie häufig ineinander verschränken, hat sicherlich damit zu tun, dass Musik kein rationales Konzept wie Gerechtigkeit oder Erkenntnis ist. Musik ist ein intensiv körperlich und sinnlich erfahrbares Phänomen, das emotionale Reaktionen hervorruft, die die Wahrnehmung beeinflussen. Dieser Sachverhalt macht sich in den Begründungszusammenhängen insofern bemerkbar, als dort eine Erkenntnisgröße durchschlägt, die bestenfalls von begrenzt theoretischer Natur ist. In der philosophischen Ästhetik rangiert diese Größe unter der Bezeichnung Geschmack. Was unter Geschmack zu verstehen ist und welche Funktionen er in der ästhetischen Urteilsbildung und Lebensführung besitzt, wird bekanntlich seit langem philosophisch diskutiert (bereits klassisch: GADAMER 1990, 40ff.). Über den eigenen Geschmack indes, den subjektiven Faktor, schweigen die meisten Philosophen, als würden sie sich damit eine Blöße geben und die Geltungsansprüche ihrer Aussagen entwerten.

Dabei ist der Geschmack, wie mir scheint, der im Hintergrund des Denkens aktive Ghost Writer der Philosophie oder etwas vorsichtiger: der Musikphilosophie. Nicht, dass er jeden Argumentationsgang vollständig determiniere; viele musiktheoretische Überlegungen und Schlussfolgerungen bewegen sich außerhalb seiner Reichweite: Bei der Klärung technischer und musikstruktureller Fragen etwa spielt er keine große Rolle. Doch sobald es um die kritische Reflexion, Deutung und Beurteilung von musikalischen Sachverhalten geht, ist am eigenen Geschmack kein Vorbeikommen. Im Bild vom Hasen und Igel gesprochen, die um die Wette laufen, wäre die Rationalität der Hase und der gewitzte Geschmack der Igel, der der Vernunft unentwegt zuruft: „Ick bün al dor!“ Die Vernunft aber ist ein schlechter Verlierer und bestraft den Geschmack mit Ignoranz.

In einer „Theoriebildung auf den Ruinen des Logos“ (BUTLER 1997, 13) müsste nicht nur der Körper neues Gewicht erhalten (wie Judith Butler fordert), auch der Geschmack wäre in seiner theorieimmanenten und theoriegenerierenden Bedeutung neu zu gewichten. Die Musikphilosophie scheint hierfür prädestiniert. Doch dafür müsste sie erst einmal bereit sein, sie müsste eine Sprache suchen für den Nexus aus Emotionalität, Erogenität und Sinnlichkeit, der sich in der hermeneutischen Arbeit niederschlägt. Mark J. BUTLER (2006) hat deshalb völlig berechtigt die Forderung aufgestellt, der Analysierende solle sich innerhalb der Musikanalyse explizit und selbstreflexiv positionieren. Aber wie geht das?

Dafür gibt es Modelle in der Philosophiegeschichte, allerdings wenige. Am weitesten ging Friedrich Nietzsche, der in „Ecce homo“ erklärte, dass er „die Sache der Musik wie seine […] eigene Leidensgeschichte fühlt“ (NIETZSCHE 1988b, 357). Entsprechend emotional konnte er namentlich gegen das Werk und die Person Richard Wagners zu Felde ziehen. Wie kein zweiter Philosoph hat Nietzsche das sich hinter Sachlichkeit, Objektivität und Systematik verschanzte philosophische Denken auseinandergenommen, um die darin eingeschlossenen Affekte freizulegen, vorneweg konsequenterweise die eigenen. Speziell seine späten Schriften streichen den subjektiven Faktor seiner kritischen Reflexionen provokant heraus: „Meine Einwände gegen die Musik Wagner’s sind physiologische Einwände; wozu dieselben erst noch unter ästhetische Formeln verkleiden? Ästhetik ist ja nichts als eine angewandte Physiologie“ (NIETZSCHE 1988c, 418).

Nietzsche hat seine Philosophie – nicht nur seine Musikphilosophie – mehr und mehr in einer elaborierten Sprache des Geschmacks verfasst. Seinem Spätwerk lässt sich ablesen, was solch eine Sprechweise auszeichnet. Sie ist ihrem Wesen nach immer dreierlei: parteinehmend, kategorisch, ironisch – und ironisch nicht zuletzt gegenüber der eigenen, kategorisch vorgetragenen Parteinahme.

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