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7. Antipop. Figuren einer heuristischen Kategorie
ОглавлениеIch habe großes Verständnis für alle, die mit lupenreinem Pop2 wenig oder gar nichts anzufangen wissen – offen gesagt gehöre ich dazu. Über die Sweets, Justin Biebers oder James Lasts weiß ich wenig zu sagen, da ich mich nicht länger mit ihnen beschäftigen mag. Das scheint dem philosophischen Popmusikdiskurs ähnlich zu gehen, weshalb er still und heimlich in die attraktiveren Gefilde von Pop1 ausweicht. Dieser Denkbewegung zu folgen, halte ich jedoch für problematisch, da sie die ideologisch belastete, unbrauchbar weite Kategorie Popmusik (Pop1) stützt, anstatt sie aufzulösen.
Ich werde mich im Folgenden überwiegend einer negativistischen Methode bedienen (vgl. THEUNISSEN 1991, 55). Sie erlaubt es mir, ex negativo etwas über Pop2 auszusagen. Eigentlich werde ich jedoch über Musik meines Geschmacks schreiben, für die ich als Oberbegriff den Namen Antipop einführen möchte. Das „Anti“ soll keine musikalische Haltung ausdrücken, kein intentionales Dagegensein, es bezieht sich auf die musikalische Form, und zwar in der Bedeutung von entgegengesetzt, gegenüberliegend. Zur heuristischen Kategorie Antipop rechne ich sämtliche Musik, die von ihrer Gestalt und Machart her am entgegengesetzten Pol von Pop2 zu verorten ist, Musik also, die keine oder sehr wenige der für Pop2 typischen Strukturmerkmale aufweist. Deshalb Antipop. Damit soll jedoch nicht behauptet werden, die unter Antipop gefasste Musik definiere sich intentional über das Verhältnis zur Popmusik, denn das ist nicht der Fall; die meisten Musiker/innen, die ich dem Antipop zurechne, kümmert Pop2 keine Spur. Heuristisch nenne ich das Kunstwort, weil es mir im vorliegenden Kontext Erkenntnishilfe leistet. Ich erhebe keinen Anspruch auf eine neue Gattungsbezeichnung. Antipop ist kein klassifizierbarer musikalischer Stil, die darunter subsumierte Musik ist vielmehr in vielerlei Hinsicht ungemein disparat. Aber es gibt Familienähnlichkeiten, und die kann man herausarbeiten.
Antipop-Künstler/innen sind meistens im Umfeld der sog. Avantgarde oder experimentellen Musik zu lokalisieren. Das Gros der Modernen Musik gehört hierher, ebenso, um ein paar orientierende Namen zu nennen, Elliott Sharp, Fred Frith, Merzbow, Keiji Haino, Stephen O’Malley, D J Spooky, Magma, Meredith Monk oder Carla Bozulich/Evangelista. Man stelle sich eine Skala vor, auf der ganz links „Pop2“ eingetragen ist und auf der gegenüberliegenden Seite „Antipop“. Nur die beiden extremen Pole verhalten sich strikt gegensätzlich zueinander. Ricky King, Nena, Florian Silbereisen ganz links, Merzbow, John Zorn, John Cage ganz rechts. Dazwischen liegen zahllose Abstufungen, Mischformen, Varianten.
Beispiele: Diamanda Galás verkörpert makellosen Antipop, selbst in ihrer Kollaboration mit John Paul Jones. Die Einstürzenden Neubauten begannen ihre Karriere weit außen aufseiten des Antipop, in jüngerer Zeit haben sie sich in die gegenüberliegende Richtung bewegt. Bei Scott Walker oder David Sylvian verläuft die Entwicklung andersherum, was seltener vorkommt. Musiker wie Don Van Vliet, David Thomas oder Michael Gira haben die Rockmusik weit zum Antipop geöffnet, ohne ihre Identität als Rockmusiker aufzugeben. Frank Zappa war ein unmöglich einzuordnender, ironischer Grenzgänger, der Haltung nach ein Antipop-Künstler, selbst wenn er mal keinen Antipop spielte. Tom Waits gerbt seine Songs meisterhaft mit Antipop (vgl. SHERMAN 2017), was in den zumeist faden Coverversionen seiner Stücke auf der Strecke bleibt (deshalb sind sie so fade). Manche Rock-, ja Popsongs – von Talk Talk etwa – enthalten verstörende Antipop-Momente, die mitunter nur wenige Augenblicke dauern. Auf dem Studio Album von Pink Floyds Ummagumma ist es umgekehrt, hier liegen hübsche kleine Inseln des Pop verstreut in einem Meer aus Antipop.
Antipop gibt sich, verkürzt gesagt, daran zu erkennen, dass die Musik, oder genauer: die Musiker/innen eigenen, selbstgesetzten Regeln folgen. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, Popmusik gehorche generell von A bis Z vorgegebenen Regeln. Doch je mehr Antipop-Elemente die Musik enthält, desto weniger orientiert sie sich an externen Regeln, desto stärker definiert sie ihr eigenes System und desto weiter entfernt sie sich vom äußersten Pol der Popmusik (Pop2). Auf diese Weise verhält es sich mit allen Antipop-Figuren, von denen ich eine Auswahl diskutieren werde.
Ich habe mich methodisch von Roland Barthes inspirieren lassen. Barthes hat in seinem Buch „Fragmente einer Sprache der Liebe“ sog. Figuren herausgearbeitet, wiederkehrende Gebärden und Redebruchstücke, von denen er meint, sie würden den Liebesdiskurs kennzeichnen. Die einzelnen Figuren werden von ihm in denkbar nichtssagender Systematik in alphabetischer Reihenfolge besprochen: In der deutschen Übersetzung von A Abhängigkeit bis Z Zugrundegehen (im französischen Original ergibt sich eo ipso eine andere Ordnung). Keine Figur dominiert. Das Fragmentarische seines Vorgehens ist offen für Ergänzungen. „Eine Figur ist dann zustande gekommen“, schreibt BARTHES (1988, 16), „wenn wenigstens einer sagen kann: ‚Wie wahr das ist! Diese Sprachszene kenne ich doch.‘“ Barthes’ primäre Quelle ist Goethes „Werther“.
Daran lehne ich mich grob an, ohne das formale Vorgehen Barthes’ zu kopieren. Meine fragmentarische Antipop-Figuration besteht selbstredend nicht aus Sprachszenen, sondern gewissermaßen aus musikalischen Figuren. Was für Roland Barthes Goethe ist, ist für mich Anthony Braxton – die erste (nicht die einzige) Referenzquelle meiner Überlegungen.
Warum Braxton? Sein Gesamtwerk ist Antipop par excellance. Er selbst indes würde die Kategorie Antipop niemals akzeptieren, weil ihm die Bezugsgröße Pop unsinnig vorkäme. Womit er vollkommen Recht hätte. Braxton bezeichnet seine Musik als creative music (vgl. BRAXTON 1985; LEVY 2014). Das ist, ich gebe es zu, ein viel charmanterer Name als Antipop. Mit seiner Bezeichnung will Braxton gettoisierende Kategorien umgehen. In seinem Fall ist es die Kategorie Jazz, mit der er sich seit fast fünfzig Jahren herumschlagen muss. Ähnlich wie vor ihm Ellington, Mingus, Tristano oder Miles Davis empfindet er das Jazzkorsett als extrem einengend. Die Etikettierung trifft ihn freilich nicht von ungefähr. Ein Afro-Amerikaner, der auf dem Saxophon, der Klarinette und dem Klavier als virtuoser Interpret eigener Kompositionen, aber auch des Jazzrepertoires auftritt, muss halt Jazzmusiker sein, was denn sonst? Umso größer die Irritationen, wenn er die mit dem Etikett einhergehenden Erwartungen brüskiert: Vollständig durchkomponierte Pianokompositionen, kompliziert notierte Werke für 100 Tubas, für Flöten- oder Vokalensemble, für Streichquartett (mit oder ohne Saxophonbegleitung), für Orchester und Puppentheater, für vier Orchester, Duos für einen Instrumentalisten und einen Stand-up Comedian, ein gigantischer Opernzwölfteiler (Trillium), ein Musikkonzept, das achtstündige Aufführungen mit mindestens sechzig Musikern erfordert (Sonic Genome), ein anderes, das Klang- und Bewegungsabläufe choreografiert (Pine Top Aerial Music), ein weiteres, das elektronische Sounds interaktiv einsetzt (Diamond Curtain Wall Music), ein jüngstes, das mit auf- und abschwellenden Dynamiken arbeitet (ZIM Music) – und und und. Wie gesagt, creative music: zu sperrig für irgendeine Schublade. Jede Facette in Braxtons Werk dokumentiert transidiomatische Eigenwilligkeit, die nur die eigenen Spielregeln akzeptiert. Und solche Dokumente gibt es reichlich: um die fünfhundert Kompositionen und mehrere hundert Alben. Dazu eine wuchtige Musikphilosophie, in der er sein rhizomorphes Denksytem entfaltet („Tri-Axium Writings“), fünf Bände „Composition Notes“, haufenweise Interviews und Sekundärliteratur und eine Organisation, die Tri-Centric Foundation (https://tricentricfoundation.org), die das alles und noch viel mehr in die Zukunft tragen wird. Antipop-Herz, was willst du mehr?
Ich werde mich im Folgenden auf die Beschreibung von fünf Antipop-Figuren beschränken.