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Die Frühromantik
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Wenn wir – wie die Forschung es mit guten Gründen vielfach tut – die Frühromantik als eine gesonderte Phase der Romantik behandeln, so sind es in erster Linie vier junge Autoren, die im Zentrum stehen: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, Friedrich Schlegel, Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck. Novalis stammt aus niederem Adel, der Vater Heinrich Ulrich Erasmus von Hardenberg war Gutsbesitzer und Salinendirektor, seine Mutter Bernhardine eine Geborene von Bölzig. Der Vater von Friedrich und August Wilhelm Schlegel, der Generalsuperintendent Johann Adolf Schlegel, war mit der Tochter des Mathematikprofessors Hübsch, Johanna Christiana Erdmute, verheiratet. Wilhelm Heinrich Wackenroder stammte aus großbürgerlichem Hause in Berlin, sein Vater Christoph Benjamin war Justizbürgermeister in Berlin. Ludwig Tieck stammt aus einer Berliner Handwerkerfamilie, der Vater Johann Ludwig war Seilermeister. Generell gilt für die Familienstrukturen der Spätaufklärung: Sie waren streng patriarchalisch organisiert. Zumeist war die Mutter der emotionalere, verständnisvollere Elternteil, während der Vater die oftmals repressive gesellschaftliche Autorität repräsentierte. Darin liegt eine Begründung für die Melancholie vieler Romantiker. Ihre Selbstfindung vollzieht sich in der Abwendung von der väterlichen Autorität und generiert eine Protesthaltung gegen sie.
Alle vier Autoren der Frühromantik haben studiert: Novalis studiert nach dem Besuch des Gymnasiums ab Herbst 1790 an der Universität Jena, ab Herbst des Folgejahres in Leipzig und 1793/94 in Wittenberg, wo er ein juristisches Examen ablegt. Friedrich Schlegel studiert nach einer Kaufmannslehre ab 1790 Rechtswissenschaft in Göttingen, ab 1791 in Leipzig, wo er aber den Entschluss fasst, Schriftsteller zu werden. Ab Herbst 1793 studiert auch Wilhelm Heinrich Wackenroder nach dem Besuch des Friedrich-Werderschen Gymnasiums in Berlin und einem Studiensemester in Erlangen mit seinem Freund Ludwig Tieck für zwei Semester Jura in Göttingen. Kennzeichnend für diese jungen Studenten ist aber, dass sie sich weniger für ihr Brotstudium als für Fragen der Ästhetik und Literatur interessieren. Sie leben in einer Zeit der „Leserevolution“ in welcher die Publikation von Romanen stark zunimmt und damit auch das „extensive Lesen“ von Belletristik.1 Diese Generation ‘verschlingt’ geradezu Literatur, Schlegel und Novalis dazu auch die Philosophie ihrer Zeit, Wackenroder die kunstgeschichtliche Literatur, Tieck vor allem englische Literatur, auch Werke der Trivialliteratur. Die Grenzen der Nationalliteratur werden dabei übersprungen. Vor allem die Brüder Schlegel und Tieck lesen die Klassiker der europäischen Literatur, besonders Shakespeare, Dante, Cervantes, die sie ja auch ins Deutsche übersetzen. Die Genannten verfügen damit über ein europäisches Literaturbewusstsein, das insbesondere bei Friedrich Schlegel auch die antiken Autoren umfasst. Die Frühromantik ist eine Epoche vor der eigentlichen Nationalisierung der Literaturen und entsprechenden nationalphilologischen Einengung der Literaturwissenschaften. Die Frühromantiker waren trotz ihres geringen Alters europäische Gelehrte, ihr Bewusstsein umfasste einen Kanon großer europäischen Literatur.
Regional differenziert sich die Frühromantik dann nach den Lebensräumen der Autoren aus: Das gewichtigste Zentrum dieser Phase war Jena, wo sich ab 1796 Friedrich Schlegel und Novalis trafen, nach dem Tod von Wackenroder auch Tieck. In Jena lehrte auch der Philosoph Johann Gottlieb Fichte, dessen Ich-Philosophie für die Romantik von großer Bedeutung war. Neben Jena war Berlin als Geburtsort und Lebensraum Wackenroders und Tiecks von Bedeutung, dies aber eher im Sinne einer inneren Emigration aus der kühlen protestantisch-pragmatischen Aufklärungswelt der preußischen Hauptstadt in die inneren Gefilde ihrer Lektüre- und Kunstmeditationen.2
Die ästhetische Revolution:
Von der Nachahmungs- zur Produktionsästhetik
Um genauer zu verstehen, warum sich in der Ästhetik der Frühromantik ein fundamentaler und für die gesamte ästhetische Moderne konstitutiver Umbruch vollzieht, ist es hilfreich, auf andere Revolutionen vor der Romantik zu rekurrieren. Am Anfang der Modernisierungsprozesse der Neuzeit steht die naturwissenschaftliche Revolution, wie sie mit Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton in Gang kam. Der wissenschaftlichen folgt die philosophische Revolution der Aufklärung, wie sie insbesondere Descartes formuliert. Diese will nämlich die Methode der Wissenschaftserkenntnis – nach dem Schock der naturwissenschaftlichen Revolution – neu begründen und tut dies in der Form einer reflexiven Selbstbegründung der menschlichen Rationalität in Abwendung von einer Theorie der nachahmenden Erkenntnis. Dabei tritt in der Philosophiegeschichte immer deutlicher die Selbsterkenntnis zu Tage, dass das menschliche Wissen keine fixe Substanz ist („res cogitans“), sondern eine Form der Produktivität des Geistes. Descartes’ Begriff der ‘denkenden Substanz’ wird so in der philosophischen Erkenntnistheorie der Aufklärung umkodiert in Begriffe der Produktion von Wissen bis hin zu jener Formulierung von Fichte, dass eben das Ich nichts anderes sei als „absolute Produktivität“.3 Diese wissenschaftlich-philosophische Revolution geht einher mit der „Doppelrevolution“ (Eric Hobsbawm) von Politik und Ökonomie, welche in der Politik – zumindest idealiter – das Ich frei setzt von traditionellen Bindungen der Feudalgesellschaft zugunsten der politischen Selbstbestimmung des Menschen. In der Ökonomie dieser Zeit wird nun auch der „Reichtum“ der Gesellschaft durch den Begriff der produktiven Arbeit definiert (vgl. Adam Smith).
In seiner Kritik der reinen Vernunft hat Kant den Übergang von Naturwissenschaften in Transzendentalphilosophie genau bezeichnet. Kant schreibt, „daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“4. Novalis notiert sich bei seinem Kant-Studium genau diesen Gedanken (vgl. Novalis-HKA, Bd. 2, S. 386). Und er macht die Vorstellung von der Produktivität des Geistes zur Basis seiner eigenen Reflexionen:
Wir wissen etwas nur – insofern wir es ausdrücken – i.e. machen können. Je fertiger und mannichfacher wir etwas produciren, ausführen können, desto besser wissen wir es – Wir wissen es vollkommen, wenn wir es überall, und auf alle Art mittheilen, erregen können – einen individuellen Ausdruck desselben in jedem Organ bewircken können. (Ebd., S. 589)
Der Gedanke der Produktivität des menschlichen Geistes führt dazu, dass auch die ästhetische Praxis selbst zu einer produktiven Tätigkeit umkodiert wird. Daher kann der Begriff der Nachahmung, der ja seit Aristoteles in verschiedenen Variationen der Zentralbegriff der Ästhetik war, diese Funktion nicht mehr erfüllen. Die neuen Leitvokabeln der frühromantischen Ästhetik heißen „produzieren“, „schaffen“, „experimentieren“. Die Praxis der Künste wird auf diese Weise zu einer freien, produktiven, experimentellen Tätigkeit umgedacht, so in Novalis’ Formulierung: „Kunst – Fähigkeit bestimmt und frey zu produciren“ (ebd., S. 585). Nach Novalis ist es „nur der Geist [...], der die Gegenstände, die Veränderungen des Stoffs poëtisirt“ (ebd., S. 573). Somit gilt, dass „das Schöne, der Gegenstand der Kunst uns nicht gegeben wird oder in den Erscheinungen schon fertig liegt“ (ebd.). Der Künstler selbst, nicht die Natur, produziert das Schöne.
Novalis zeigt dies an der Musik: „Alle Töne, die die Natur hervorbringt sind rauh – und geistlos – nur der musikalischen Seele dünkt oft das Rauschen des Waldes, das Pfeifen des Windes, der Gesang der Nachtigall, das Plätschern des Bachs melodisch und bedeutsam.“ (Ebd., S. 573f.) Und er folgert daraus: „Der Musiker nimmt das Wesen seiner Kunst aus sich – auch nicht der leiseste Verdacht von Nachahmung kann ihn treffen.“ (Ebd., S. 574) Dies gelte auch für die Malerei:
Dem Mahler scheint die sichtbare Natur überall vorzuarbeiten – durchaus sein unerreichbares Muster zu seyn – Eigentlich ist aber die Kunst des Mahlers so unabhängig, so ganz a priori entstanden, als die Kunst des Musikers. […] Seine Kunst ist die Kunst regelmäßig, und Schön zu sehn. Sehn ist hier ganz activ – durchaus bildende Thätigkeit. (Ebd.)
Novalis kann daraus dann die generelle Konsequenz ziehen: „Fast jeder Mensch ist in geringen Grad schon Künstler – Er sieht in der That heraus und nicht herein – Er fühlt heraus und nicht herein.“ (Ebd.) Der Hauptunterschied sei nur der, dass „der Künstler [...] den Keim des selbstbildenden Lebens in seinen Organen“ stärker belebe, „die Reitzbarkeit der selben für den Geist erhöht“ habe und mithin im Stande sei, „Ideen nach Belieben – ohne äußre Sollicitation“ (ebd.) aus sich heraus zu produzieren. Der Künstler wird in dieser frühromantischen Definition zu einem Experimentator „mit Bildern und Begriffen im Vorstell[ungs]V[ermögen]“ (ebd., Bd. 3, S. 443), zu einem „Createur absolu“ (ebd., S. 415). Novalis entwirft in seiner späten Fragmentensammlung, dem Allgemeinen Brouillon eine Form der Poesie, in welcher der Poet selbst frei mit den Worten und Ideen spielt: „Der Poët braucht die Dinge und Worte, wie Tasten und die ganze Poësie beruht auf thätiger Idéenassociation – auf selbsthätiger, absichtlicher, idealische Zufallsproduktion“ (ebd., S. 451). Der Autor wird hier eigentlich zum Medium des Spielens mit Worten und Ideen, oder gar der Worte und Ideen mit sich, wie es Novalis’ Text Monolog formuliert: „mit der Sprache“ sei es „wie mit den mathematischen Formeln [...] – Sie machen eine Welt für sich aus – Sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus...“ (ebd., Bd. 2, S. 672).
Autonomie der Künste
Im Sinne der produktionsästhetischen Definition der Künste und Kunstpraxis ist es konsequent, dass Novalis’ Freund Friedrich Schlegel in seinen für die frühromantische Kunsttheorie grundlegenden Athenäums-Fragmenten – benannt nach der von den Schlegel-Brüdern herausgegebenen frühromantischen Zeitschrift Athenäum (1797-1800) – die Forderung formuliert: „Eine Philosophie der Poesie überhaupt aber, würde mit der Selbstständigkeit des Schönen beginnen, mit dem Satz, dass es vom Wahren und Sittlichen getrennt sei“ (FS-HKA, Bd. 2, S. 207). Wenn der Künstler, wie Novalis fordert, seine Werke in Freiheit produziert, dann ist es konsequent, dass er sich dabei auch von moralischen wie theologischen wie philosophischen Vorgaben lösen muss. Anders formuliert: Diese Instanzen können nicht mehr beanspruchen, ‘ Vormund’ der Kunstpraxis zu sein. Friedrich Schlegel hat das in seinem berühmten 116. Athenäums-Fragment so formuliert: Die romantische Poesie „allein ist unendlich, wie sie allein frei ist, und das als ihr oberstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide“ (ebd., S. 183). Mit anderen Worten: das Gesetz des Künstlers ist sein eigenes Gesetz. Keine Morallehre, keine Theologie, keine Ideologie kann und soll der Kunst dazwischenreden und ihre Regeln und Darstellungsformen von außen zu steuern unternehmen. Denn die Künste sind, das ist die frühromantische Entdeckung, in ihrer Semantik und ihren Darstellungsformen nicht fremden Maßstäben unterworfen, sondern frei. Die Romantik hat damit auch einen Standard der Kunstkritik festgeschrieben, der seitdem in Geltung ist: Kunst muss nach Kunstregeln beurteilt werden und nicht nach anderen, äußerlichen Kriterien.
Künstlerromane
Die wichtigsten Künstlerromane der Frühromantik sind Wackenroders Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger aus den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders von 1797 (recte 1796), nicht eigentlich ein Roman, sondern eine selbstständige Erzählung in dieser Sammlung, Ludwig Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen, die als Gemeinschaftswerk mit Wackenroder geplant waren, dann aber nach dem Tode Wackenroders 1798 im selben Jahr als Tiecks eigene Publikation fertig gestellt wurden und erschienen sowie Novalis’ Heinrich von Ofterdingen, postum veröffentlicht 1802. Ein Künstlerroman ist auch Dorothea Schlegels Roman Florentin, der unter der Herausgeberschaft Friedrich Schlegels 1801 herauskam.
Die Texte von Wackenroder und Tieck zeigen stärker als Novalis’ Roman die innere Gebrochenheit der romantischen Künstlerfigur. Wackenroders Musiker Berglinger ist ein unglücklicher Künstler. Er flüchtet sich geradezu in die Kunst und entflieht damit seinem eigenen sozialen Elend, nicht ohne dabei Schuld auf sich zu laden. Denn Joseph lässt seine Geschwister in dem armseligen und nach dem Tod der Mutter auch verwilderten Arzthaushalt seines Vaters zurück, seine inneren Phantasien treiben ihn, sich in der bischöflichen Residenz als Musiker zu verdingen. Dort vergisst er auch seine soziale Herkunft, bis ihn diese einholt: Seine „jüngste Schwester im elendsten Aufzuge“ (Wackenroder-HKA, Bd. 1, S. 143) sucht ihn auf, um ihm den Tod des Vaters mitzuteilen. Das Elend seiner verwaisten Geschwister, das der Heimgekommene zu Haus vorfindet, steigert seine innere Zerrissenheit. Denn zugleich soll er für den Bischof eine „neue Passionsmusik“ schreiben. In einem überhitzten Krankenzustand schreibt Berglinger das Oratorium, das „ewig ein Meisterstück bleiben“ (ebd., S. 144), aber um einen sehr hohen Preis komponiert wird. Berglinger trotzt sein Musikstück der Krankheit ab, aber diese Krankheit und Überspannung im Zusammenhang mit seinem Werk führen auch zum Tode. Der Mönch, der seine Geschichte als die seines Freundes erzählt, kommentiert: „Ach! Dass eben seine hohe Phantasie es seyn mußte, die ihn aufrieb? – Soll ich sagen, dass er vielleicht mehr dazu geschaffen war, Kunst zu genießen als auszuüben?“ (Ebd.) Die Antwort auf diese Frage bleibt offen: Es ist zugleich die Frage nach der inneren Ermöglichung genialer Kunstpraxis. Gelingt große Kunst in der Moderne nur noch in einem Zustand kranker Überhitzung?
In einem fiktiven „Brief“ des Joseph Berglinger wird dieser Argwohn zu einer Fundamentalkritik erweitert: „Die Kunst ist eine verführerische, verbotene Frucht; wer einmal ihren innersten, süßesten Saft geschmeckt hat, der ist unwiderbringlich verloren für die thätige, lebendige Welt.“ (ebd., S. 225) Hier wird eine grundsätzliche Entfremdungsproblematik der Moderne zum Ausdruck gebracht. Das moderne, rational organisierte tätige Leben und die Kunst treten auseinander, wobei die Kunst den Part einer Verführerin übernimmt, die von der Realität ablenkt, sie ‘verdrängt’, dabei aber die vitalen Lebenskräfte schwächt:
Das ist das tödtliche Gift, was im unschuldigen Keime des Kunstgefühls innerlich verborgen liegt. [...] Das ist’s, daß der Künstler ein Schauspieler wird, der jedes Leben als seine Rolle betrachtet, der seine Bühne für die ächte Muster- und Normalwelt, für den dichten Kern der Welt, und das gemeine wirkliche Leben nur für eine elende, zusammengeflickte Nachahmung [...] ansieht. (Ebd., S. 226)
Gerade die in der Romantik entdeckte Kunstautonomie bringt so eine Problematik mit sich, die in der Kunst der Romantik selbst reflektiert wird: die als Schuld wahrgenommene Realitätsentfremdung im selbstvergessenen Kunstgenuss.
Der Künstlerroman von Ludwig Tieck schildert einen Maler, der in der großen Kunstepoche der Renaissance – der fiktive Franz Sternbald ist Schüler Albrecht Dürers – aus Nürnberg aufbricht, um über die Niederlande (Besuch bei Lucas von Leyden) nach Italien zu wandern. Dieser Franz Sternbald ist aber kein Renaissancemensch, sondern ein modern-romantischer Held, der wie Berglinger von tiefen Selbstzweifeln und Skrupeln geplagt wird. Der nach dem Tod des Vaters verwaiste Sohn sucht nach einem ‘romantischen’ Lebensgefühl: „Ich will daher immer suchen und erwarten, ich will meine Entzückung und Verehrung der Herrlichkeit in meinem Busen aufbewahren, weil dieser schöne Wahnsinn das schönste Leben ist.“5 Getrieben wird der Protagonist von einem Gefühl der Sehnsucht: „Sein ganzes Leben erschien ihm überhaupt oft als ein Traumgesicht, und er hatte dann einige Mühe, sich von den Gegenständen, die ihn umgaben, wirklich zu überzeugen.“6 Wie auch Tiecks früherer Roman William Lovell von 1796 verdeutlicht, ist die Frühromantik von einem tief nihilistischen Grundzug geprägt, dem Gefühl des Realitätsverlustes, der inneren Leere und korrespondierenden Suche nach einer besseren Welt. Diese wird in und durch die Kunst gesucht. Zugleich enthält der Text viele Reise- und Landschaftsbeschreibungen, von Kunstgesprächen und Kunsteindrücken.
Die gesuchte Utopie findet Sternbald im zweiten Buch des Romans in Italien. Hier stößt er auf die sinnliche und vitale Kunst Tizians und Correggios, die für ein sinnlich diesseitiges Lebensgefühl steht:
So ist mein Gemüt aufs heftigste von zwei neuen großen Meistern bewegt, vom venezianischen Tizian und von dem allerlieblichsten Antonio Allegri von Correggio. [...] Es ist, als hätte der Gott der Liebe selber in seiner Behausung gearbeitet und ihm die Hand geführt. Wenigstens sollte sich nach ihm keiner unterfangen, Liebe und Wollust darzustellen, denn keinem anderen Geiste hat sich so das Glorreiche der Sinnenwelt offenbart.7
Tieck wie auch Novalis sind auf der Suche nach einer sinnlich-erotischen Lebensform, die zugleich das Religiöse in sich einbegreift, das aber nun wesentlich durch die Kunst, nicht mehr durch die Kirche, vermittelt wird. So kommt es im Sternbald zu einer inneren Wende angesichts der Darstellung des Jüngsten Gerichts von Michelangelo in Rom, die nach einer Phase erotischer Abenteuer eine neue ästhetische Ernsthaftigkeit des jungen Künstlers und seiner Kunst begründen soll. Allerdings ist der Roman Fragment geblieben. Den Plänen nach sollte er den Helden zurückführen nach Nürnberg an das Grab Dürers im Sinne einer großen Synthese von nördlicher und südlicher Kunst.
Auch Novalis’ Heinrich von Ofterdingen blieb Fragment, und abermals war es Tieck, der im Jahre 1802 für dessen postume Veröffentlichung sorgte. Der Text besteht – wie die übrigen – aus einer Mischung von narrativen, lyrischen und dialogischen Passagen. Er spielt in einer traumhaften Sphäre und beginnt gleich im ersten Kapitel mit der Darstellung eines Traumes, in dem der Protagonist, der junge mittelalterliche Dichter Heinrich von Ofterdingen, eine blaue Blume sieht, „in welcher ein zartes Gesicht schwebte“ (Novalis-HKA, Bd. 1, S. 197). Der Traum hat vorausdeutende Funktion. Er zeigt Heinrich eben jene Frauengestalt, die er auf seiner Wanderung in Augsburg finden wird. Im Lauf der Reise besucht Heinrich Höhlen, fährt in ein Bergwerk ein und eignet sich so eine „Fülle von Erfahrungen“ (ebd., S. 256) an, die ihn selbst – wie das Figurenvorbild solcher Bildungswanderschaften, Wilhelm Meister – reifen lassen. Anders als bei Goethe führt die frühromantische Wanderschaft aber nicht in die bürgerliche Existenz, sondern zum Künstlerberuf: „Heinrich war von Natur zum Dichter geboren.“ (Ebd., S. 267)8
Der Poesie in der leibhaftigen Gestalt einer schönen jungen Frau, der Tochter des Dichters Klingsohr, begegnet Heinrich im Elternhaus der Mutter. Mathilde trägt das Gesicht jener Blume, die ihm der Traum gezeigt hatte: „Sie schien der Geist des Vaters in der lieblichsten Verkleidung“ (ebd., S. 271). Heinrich erfährt hier die höheren Weihen der Kunst, indem er Mathilde – Novalis übernimmt den Namen aus Dantes Divina Commedia, in der Matelda das irdische Paradies verkörpert9 – als die verkörperte Poesie lieben lernt und auch von dem Dichter Klingsohr eine Lektion in Sachen Dichtung erhält: „Die Poesie will vorzüglich [...] als strenge Kunst getrieben werden. Als bloßer Genuß hört sie auf Poesie zu sein“ (ebd., S. 282).
In seiner Fragmentsammlung Glauben und Liebe (1798) hatte Novalis die Vision eines „poetischen“ Staates entworfen, die für ihn das in diesem Jahr neu inthronisierte Königspaar Friedrich Wilhelm III. und seine Frau Luise repräsentierte. Denn Preußen war ihm bislang viel zu ‘fabrikmäßig’ verwaltet worden (vgl. Novalis-HKA, Bd. 2, S. 494). Nun sollte der Geist der Liebe, ausgehend von diesem Königspaar, einen neuen Geist auch in die Politik des Landes tragen und dabei zu einer Höherentwicklung der Menschheit führen, denn: „Alle Menschen sollen thronfähig werden.“ (Ebd., S. 489) Novalis verklärt also nicht einfach die bestehende Monarchie, sondern erstrebt die Utopie einer neueren höheren Stufe der Geschichtsentwicklung der Menschheit. Diese soll durch Liebe und Poesie, nicht mehr nur durch kalte Rationalität geprägt sein. Das ist auch die Utopie des Heinrich von Ofterdingen. Es geht in diesem Roman, der in seinem zweiten, „Die Erfüllung“ überschriebenen Teil in allegorisch-utopische Darstellungen (Märchen von Eros und Fabel) mündet, um die Poetisierung der Geschichte und nicht mehr nur um die Kunst: „Das ganze Menschengeschlecht wird am Ende poetisch. Neue goldne Zeit.“ (Ebd., S. 347)10 Anders als in den Texten Wackenroders und Tieck herrscht hier ein Geist des Optimismus. Sein Werk hebt sich damit auch ab von jener Ästhetik des Hässlichen, deren Anfänge wir ebenfalls in der Romantik verorten können.
Ästhetik des Hässlichen
Einen anderen wichtigen, in der Frühromantik auftauchenden Gedanken der ästhetischen Moderne hat Friedrich Schlegel als erster klar formuliert: dass die modernen Künste nicht mehr dem antiken Ideal der Schönheit huldigen, sondern – daran gemessen – vielmehr einer Ästhetik des Hässlichen folgen. Schlegel kam diese Einsicht, als er sich mit Winckelmanns Schönheitslehre auseinandersetzte. Für Goethe, Hegel und zunächst auch für Schlegel selbst galt dessen Ästhetik mit ihrem an Griechenland orientierten Schönheitsideal unangefochten. Im Verlauf seiner Arbeit Über das Studium der griechischen Poesie, die in den Jahren 1795-97 entstand, kam Schlegel aber zu dem Befund:
Beinahe überall werdet ihr eher jedes andre Prinzip als höchstes Ziel und erstes Gesetz der Kunst [...] vorausgesetzt oder ausdrücklich aufgestellt finden; nur nicht das Schöne. Die ist so wenig das herrschende Prinzip der modernen Poesie, dass viele ihrer trefflichsten Werke ganz offenbar Darstellungen des Hässlichen sind (KFSA, Bd. 1, S. 218f.).
Schlegel sieht die Subjektivierung der Ästhetik in seiner Zeit und erkennt, dass eine allgemeingültige objektive Norm nicht mehr in Geltung ist. Die Subjektivierung der Ästhetik führt vielmehr zu einer Übermacht des „Interessanten“, „Frappanten“, „Neuen“, die er mit dem Begriff des ‘Hässlichen’ charakterisiert, der mit einem verbindlichen Ideal objektiver Schönheit nicht mehr zu vermitteln ist (vgl. ebd., S. 228). Zweifellos hat Schlegel damit eine Tendenz der gesamten modernen Kunst antizipiert. Die Ästhetik des Hässlichen geht dabei einher mit der Destruktion und Dekonstruktion nicht nur der traditionellen ästhetischen Schönheitsideale, sondern auch mit einer materialistischen Anthropologie, welche den Menschen auf seine Körperlichkeit und Hinfälligkeit reduziert.
Kunst, Religion, Mythos
Wenn die Frühromantik in vielem an die Aufklärung anknüpft, so gibt es doch ein Themenfeld, wo sie sich klar von jener abgrenzt: die Religion. Die Religion war von der Aufklärung außerordentlich kritisch behandelt worden. Französische Aufklärer wie Voltaire machten sich über sie lustig, sie galt als eine Quelle der falschen Machtanmaßung der Priesterkaste über die Menschen. Deutsche Aufklärer wie Reimarus und Lessing tendierten dazu, Glauben auf eine vernünftige oder natürliche Religion zu reduzieren, das heißt: auf ein Humanitätsideal. Dies ging einher mit einer starken Bibelkritik, welche die Widersprüche, Ungereimtheiten und die Historizität der biblischen Texte herauspräparierte und damit als Glaubensgegenstand stark relativierte. Das Christentum reduzierte sich so in der Aufklärung auf die Idee des guten Menschseins.
Eine Umwertung ereignete sich erst mit den Reden über die Religion (1799) des protestantischen Theologen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, die sich „an die Gebildeten unter ihren Verächtern“, also an aufgeklärte Intellektuelle wenden. Schleiermachers Hauptargument ist ein anthropologisches: Religion sei nichts dem Menschen Fremdes, sondern ihm eingeboren als der Sinn für die Dimension der Unendlichkeit. Das „ Wesen der Religion“ bestehe darin, dass sie uns eine Anschauung des Universums ermöglicht. Damit öffnet Schleiermacher die Religion für die subjektive und private Sicht: „jeder Sehende ist ein neuer Priester, ein neuer Mittler, ein neues Organ“11. Und er geht dabei sehr weit: „Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern der welcher keiner bedarf, und wohl selbst eine machen könnte.“12
Bei den vom Produktionsgedanken faszinierten Frühromantikern musste diese These auf fruchtbaren Boden fallen. Friedrich Schlegel schreibt unter dem Einfluss Schleiermachers: „Der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, ist der elastische Punkt der progressiven Bildung, und der Anfang der modernen Geschichte.“ (KFSA, Bd. 2, S. 201) Die Frühromantiker werden nun geradezu elektrisiert von dem Gedanken, eine eigene heilige Schrift zu verfassen, ihren eigenen Gott zu kreieren, sich selbst dabei als die neuen Evangelisten zu küren. Friedrich Schlegel schreibt im Athenäum von 1800 seine Ideen-Fragmente, die nun alle in Bezug zur Religion stehen: „Nur derjenige kann ein Künstler sein, welcher eine eigne Religion, eine originelle Ansicht des Unendlichen hat.“ (Ebd., S. 257) Hier wird der Schleiermachersche Gedanke aufgenommen, aber umgekehrt: Nicht geht es darum, das produktive Moment in der Religion zu erkennen, sondern das religiöse in die Kunst zu transponieren. Der wahre Künstler muss seine „eigne Religion“ produzieren. Novalis bezeichnet demgemäß seinen Freund Friedrich Schlegel als „Apostel in unsrer Zeit“ und fügt hinzu: „Du wirst der Paulus der neuen Religion seyn.“ (Novalis-HKA, Bd. 3, S. 495) Man scheut sich jetzt auch nicht mehr, eine neue Bibel schreiben zu wollen, eben als modernes poetisches Produkt, wie dies Novalis ebenso kokett wie blasphemisch formuliert: „Eine Bibel schreiben zu wollen – ist ein Hang zur Tollheit wie ihn jeder tüchtige Mensch haben muß, um vollständig zu seyn.“ (Ebd., S. 491) Damit ist die Einzigkeit der messianischen Mission Jesu Christi aufgehoben. Die Frühromantiker erwarten nun den „Messias im Pluralis“ (ebd., S. 495) und bauen sich selbst als messianische Heilsbringer auf.
In diesem Zusammenhang charakterisiert Novalis das Programm des ‘Romantisierens’ als eine Form der „ Wechselerhöhung und Erniedrigung“, in welcher der Trivialität des „Gemeinen“ wieder ein höherer Sinn verliehen, dieser aber aus seinen luftigen Höhen ins Diesseits herabgeholt werde:
Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder [...] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisire ich es. (Novalis-HKA, Bd. 2, S. 545)
Das Programm des „Romantisirens“ war das anspruchsvollste Produktionsprojekt der Frühromantik. Es hatte kein geringeres Ziel, als die abendländische Dualität von Diesseits und Jenseits, von Profanem und Heiligen rückgängig zu machen bzw. diese in unserer Kulturgeschichte getrennten Sphären wieder zu synthetisieren.
Ganz anders haben Wackenroder und Tieck die neue Kunstfrömmigkeit der Romantik gestaltet. In den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders meditiert ein Mönch über die großen Künstler der Renaissance: Raffael, Dürer, Michelangelo, Leonardo u.a. Sie repräsentieren ihm das „wahre Heldenalter der Kunst“ (Wackenroder-HKA, Bd. 1, S. 61), zu denen „die heutige Welt [...] wie zu Heiligen in der Glorie hinaufsehen sollte“ (ebd., S. 73). Keine Neubegründung der Religion also in der Kunst, aber Verehrung der Kunst wie eine Religion. Die Frühromantik verabschiedet hier den Absolutheitsanspruch jedweder Religion zugunsten eines religiös-kulturellen Pluralismus, der jeder Ausdrucksform ihr Recht lässt. Es gibt in diesem Sinne auch kein alleiniges „Centrum alles Schönen in der Kunst“ (ebd., S. 87), sondern nur je perspektivische Brechungen des Schönen in den verschiedenen Künsten und Kulturen: „Er [= Gott] erblickt in jeglichem Werke der Kunst, unter allen Zonen der Erde, die Spur von dem himmlischen Funken“ (ebd.).
Naturphilosophie und Anthropologie
Die Aufklärung hatte die Naturabläufe mit Hilfe eines relativ mechanistischen Modells erklärt. Ihr wissenschaftlicher Zugriff definierte die Natur als ein großes Uhrwerk, das Gott in Gang gesetzt hat, aber in seinem Funktionieren nicht mehr in Gang halten muss. Der Mensch erschien Descartes als der „Herr und Besitzer“ der mechanischen Natur, wenn er nur seinen Verstand richtig zu ihrer Erforschung einsetzt.13 Die Frühromantik begründet hier ein anderes Naturverständnis. In Novalis’ Fragment gebliebenem dialogischen Roman Die Lehrlinge zu Sais kritisieren die Lehrlinge eben jenes mechanistische Naturverständnis, in welchem die Menschen – „Unter ihren Händen starb die freundliche Natur“ – einen „wohldurchdachten Zerstörungskrieg mit dieser Natur“ (Novalis-HKA, Bd. 2, S. 84 und S. 89) führen. Dagegen beschwören sie die „alte goldne Zeit“, in welcher die Natur „den Menschen Freundin, Trösterin, Priesterin und Wundertäterin“ (ebd., S. 86) war, und wollen diese wieder heraufführen. Erfahrbar für den Menschen wird die Kraft der Natur in ihrer Sinnlichkeit in jenem „mächtige[n] Gefühl, wofür die Sprache keine andere Namen hat als Liebe und Wollust“, in welchem die „[...] arme Persönlichkeit in den überschlagenden Wogen der Lust sich verzehrt, und nichts als ein Brennpunkt der unermesslichen Zeugungskraft, ein verschluckender Wirbel im großen Ozean übrig bleibt!“ (Ebd., S. 104). Der Mensch erscheint deshalb in diesem Text eher als ein Medium einer vitalen kosmischen Schöpfungsenergie, welche sich besonders in seiner Sexualität – „ Wollust“ – und seiner Liebe offenbart. Daher steht im Zentrum des Romanfragments auch das Märchen von Hyazinth und Rosenblütchen als dem offenbaren Liebes-Geheimnis von Sais.
In den so genannten Teplitzer Fragmenten beschreibt Novalis die elementaren Vorgänge des Atmens, Essens, Trinkens als eine ursprüngliche Kommunion mit der Natur. In diesen elementaren Prozessen und durch sie hält die Natur den Menschen am Leben: „So genießen wir den Genius der Natur alle Tage und so wird jedes Mahl zum Gedächtnismahl – zum Selelenernährenden, wie zum Körpererhaltenden Mahl – zum geheimnißvollen Mittel einer Verklärung und Vergötterung auf Erden.“ (Ebd., S. 621) Auch das ist eine ‘romantisirende’ Beschreibung, die aber ihre eigene Realistik darin hat, dass der Mensch ohne diese permanente Nahrungszufuhr der Natur in der Tat nicht überleben könnte. Die Verschmelzung der Ernährungsproblematik mit der Kommunionssymbolik soll auf nichts Geringeres aufmerksam machen und dafür die Sensibilität wecken: Dass wir als irdische Lebewesen auf diese permanente Zufuhr von Natur-Nahrung – wenn wir einmal auch die Luft zum Atmen dazu zählen – angewiesen sind. Wir sind und bleiben Naturwesen, die auf die Zufuhr jener natürlichen Stoffe angewiesen sind, die uns am Leben erhalten. Sich auch daran zu erinnern wäre die eucharistische Funktion, die Novalis mit den elementaren Vorgängen ‘romantisirend’ synthetisiert. Somit zielt die Anthropologie der Frühromantik nicht auf das autarke, sich selbst bestimmende Subjekt der Aufklärung, sondern auf das Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit des Menschen von der Natur, denn: „Unser Körper ist ein Theil der Welt.“ (Ebd., S. 650) Romantische Religiosität in diesem Sinne bedeutet: die Zugehörigkeit des Menschen zur Natur (wieder-)entdecken. In diesem Sinne führt, wie Novalis dies in einem Fragment aus dem Allgemeinen Brouillon formuliert hat, „die vollendete Speculation zur Natur zurück“ (ebd., S. 403).14
Gesellschaftstheorie, die Rolle der Frau
Als Friedrich Schlegel 1799 seinen Roman Lucinde veröffentlichte, der im übrigen auch nur in fragmentarischer Form vorliegt, erregte er damit einen Skandal. Eines der ersten Kapitel des Büchleins beschreibt unter dem Titel „Dithyrambische Fantasie über die schönste Situation“ den erotischen Rollentausch zwischen den Eheleuten Julius und Lucinde im „hohen Leichtsinn unsrer Ehe“15: „Ich sehe hier“ – wenn die Frau ironisch die „schonende Heftigkeit des Mannes“ übernimmt, der Mann aber die „anziehende Hingebung des Weibes“ – „eine wunderbare sinnreich bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit“16. Die Szene ist eine Allegorie der Ganzheit des Menschen, der männlichen Anteile in der Frau wie der weiblichen im Manne und ihrer Vereinigung. Auch die Gegensätze „von der ausgelassendsten Sinnlichkeit bis zur geistigsten Geistigkeit“17 nehmen die Liebesszenen und ihre Reflexion auf, um sie in der Einheit von Geist und Körper neu zu verbinden.
Der literarische Vorläufer dieser auf Ganzheitlichkeit zusteuernden romantischen Liebes-Philosophie war Wilhelm Heinse. Sein Briefroman Ardhingello beschwört die Befreiung der Liebe aus engen bürgerlich-moralischen Schranken:
In was für einer Welt bin ich, wo dieses Naturlaster sein soll? Den Menschen zerrüttende bloße bürgerliche Ordnung ist es. Komm göttlicher Plato, und stürze alle die barbarischen Gesetzgebungen über den Haufen, und führe deine Republik ein, wo wenigstens Mann und Frau mit ihrer Liebe heilig und frei sind.18
Schlegels in der offenen Form typisch ‘romantischer’ Roman – er enthält neben den Erzählpassagen und Lyrik auch viele essayistische Einschübe – schildert an dem Jüngling Julius eine dem Wilhelm Meister analoge Bildungsgeschichte, die aber so wenig wie die anderen romantischen Romane zur bürgerlich-ökonomischen Gesellschaft hinführt, eben diese Wendung von Goethes Roman haben die Frühromantiker ja verachtet. Julius durchläuft dabei mehrere Stationen einseitiger Liebesbeziehungen, bis er in der Künstlerin Lucinde die Liebeserfüllung in einer schönen, klugen und reifen Frau findet. Diese wird dann zum Zentrum einer neuen Gemeinschaft: Lucinde, die einen „entschiednen Hang zum Romantischen“ hatte, „verband und erhielt das Ganze und so entstand eine freye Gesellschaft, oder vielmehr eine große Familie, die sich durch ihre Bildung immer neu blieb“19. Man sieht an dieser Stelle auch die Grenzen der romantischen Gesellschaftstheorie: Sie ist ohne institutionelle Verankerung und zielt auf eine Art familiären Künstlerbund mit Freunden, in diesem Falle um das Ehepaar Lucinde und Julius als den Kern der Gemeinschaft. Ähnlich hatte ja auch Novalis das Königs- und Liebespaar Friedrich Wilhelm III. und Luise zum Zentrum einer neuen, auf Liebe beruhenden Staatsgemeinschaft erklärt.
Im Denken der Frühromantiker ist die Rolle der Frau stark mit der Philosophie der Liebe wie der Natur verbunden. Novalis schreibt in den Teplitzer Fragmenten: „Mit den Frauen ist die Liebe, und mit der Liebe die Frauen entstanden – und darum versteht man keins ohne das Andre.“ (Novalis-HKA, Bd. 2, S. 617) Es sind daher Frauen, in denen sich die romantische Sehnsucht nach Rückkehr in die Natur erfüllt: die Figur des Rosenblütchens in den Lehrlingen zu Sais, die Figur der Mathilde im Heinrich von Ofterdingen: „so dürfte die ganze Natur wohl weiblich, Jungfrau und Mutter zugleich seyn“ (ebd., S. 618).
In der Generation der Frühromantiker begegnet nun auch ein neuer Frauentypus: Frauen wie Caroline Schlegel-Schelling oder Dorothea Schlegel verhalten sich nicht mehr konform mit der bürgerlichen Ehemoral und binden sich nach eigenem Gefühl. Die Autonomie des Subjekts, welche die Aufklärung und Klassik gefordert hatte, realisiert sich seit der Romantik auch als eine Autonomie des Gefühls – bei allen Schwierigkeiten, welche diese Frauen zu durchstehen hatten. Was sich nicht realisiert, ist, dass diese Frauen auch in den Bereich der Kunstproduktion eintreten, trotz Dorothea Schlegels Florentin. Gleichwohl entspricht weder die Rolle des Mannes als „kreativer Künstler“ noch die der Frau als geistige und sinnliche Gefährtin den traditionellen Rollenbildern der Geschlechter. Sowohl in der Erotik wie im poetischen Entwurf der Gleichberechtigung von Mann und Frau weist das Ideal der Frühromantik weit über die Normen des prüden 18. Jahrhunderts hinaus. Bei aller Noch-Patriarchalität der Strukturen vollzieht sich doch die romantische Ehe eines Friedrich mit Dorothea Schlegel als eine ganz andere Form auch geistigen Austausches, als es das bürgerliche Ideal vorsah. Eine Frau wie Caroline Schlegel-Schelling teilt mit ihren männlichen Brief- und Lebenspartnern in ihrem wunderbaren und emanzipierten Briefstil durchaus alle Felder des sozialen wie geistigen wie sinnlichen Lebens. Auch Rahel Varnhagen gehört zu den psychologisch hellsichtigsten Briefschreiberinnen ihrer Zeit, die in einer neuen Form von Bewusstheit und Anteilnahme auch zu kulturellen Subjekten der Epoche werden.