Читать книгу Migration|Integration|Exklusion - Eine andere deutsch-französische Geschichte des Fußballs - Группа авторов - Страница 16
Integration durch „Kicken“: Saargemünd im März 1903
ОглавлениеIm März 1903 wurde in der lothringischen Kleinstadt Saargemünd (frz. Sarreguemines), fünfzehn Kilometer saaraufwärts von Saarbrücken gelegen, der Saargemünder Fussballclub gegründet.1 Es war einer der ersten eigenständigen Fußballvereine im damaligen Bezirk Lothringen, aber auch im saarländisch-lothringischen Grenzraum.
Saargemünd war für seine Keramikproduktion berühmt und hatte als deutscher Verwaltungssitz einen hohen Bedeutungszuwachs erfahren. Auch wenn die Stadt weiterhin einen lothringischen Charakter hatte, so war die zunehmende kulturelle und demografische Germanisierung der Stadt – rund drei Jahrzehnte nach dem Ende des deutsch-französischen Krieges und der damit verbundenen Zugehörigkeit zum Deutschen Reich – nicht zu übersehen. Dies galt auch für den noch jüngeren Bereich des Sports. Erster Vorsitzender des Saargemünder Fussballclubs wurde der 37-jährige Lehrer Karl Fischer aus dem saarländischen Ort Schaffhausen bei Saarlouis. Die Vereinsstatuten wurden am 6. Mai 1903 vom Bezirkspräsidenten in Metz genehmigt und der Club diente in erster Linie der Freizeitbetätigung. Die Statuten – hier in Auszügen – können als exemplarisch für neu gegründete Sport- und Fußballvereine um die Jahrhundertwende gelten:
§1: Der Saargemünder Fussballclub bezweckt die Kräftigung und die Entwickelung (sic!) des Körpers durch die Pflege und Förderung der Jugendspiele insbesondere des Fussballspiels, sowie des athletischen Sportes.
§16: Politische wie religiöse Unterhandlungen sind strengstens ausgeschlossen.
§21: Die Vereinskleidung besteht bei Wettspielen aus schwarzen Hosen, weissem Trikot und weisser Mütze.2
Bei den 22 Gründungsmitgliedern handelte es sich um Selbstständige, Kaufleute und Angestellte, die sich sonntags auf dem Exerzierplatz trafen, um dort Fußball zu spielen. Zehn Gründungsmitglieder stammten aus dem sogenannten „Altreich“. Mit „Altreich“ wurde zeitgenössisch zwischen dem „neuen“ Reichsland Elsass-Lothringen und dem übrigen „älteren“ Deutschen Reich unterschieden. Von diesen zehn Männern wiederum stammten drei aus dem nahen Saarrevier, aus Sankt Johann, Dudweiler sowie aus Schaffhausen bei Saarlouis.3 Die anderen zwölf Mitglieder waren Lothringer und stammten aus Saargemünd selbst.4 Als exemplarisch kann die Vereinsgründung auch deshalb gelten, weil ihr keine lange Lebensdauer beschienen war. Der Verein hinterließ keine weiteren Spuren und vermutlich ging er in einer anderen Vereinigung auf. Eine größere Bedeutung erhielt der wenige Monate später ebenfalls in Saargemünd gegründete Fussball-Club Wodan. Auch hier bildeten Migranten aus dem „Altreich“ und Einheimische jeweils etwa die Hälfte der Gründungsmitglieder.5 An die Pionierjahre des Fußballsports in Saargemünd in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts erinnerte sich das Gründungsmitglied Jean Dimofski im Jahr 1922, als er in der Festbroschüre anlässlich eines Sportfestes festhielt:
„Um 1900 datiert auch die Einführung des Fussballs in Sarreguemines. Schüler der Höheren Lehranstalten waren es, die der neuen Idee hier Eingang verschafften. (…) Obwohl die Aufnahme des Sportgedankens in Sarreguemines keine verheissende war, konnten die genannten allmaehlich einen grösseren Kreis um sich schliessen, und 1905 ward der ‚Fussball Klub-Wodan‘ gegründet. Killet, der erste Präsident des Vereins leitete dessen Geschicke bis zum Kriegsausbruch und sah seine Mannschaft nacheinander auf den verschiedenen Plaetzen Exerzierplatz, Barackenplatz, Alter Kasernenplatz, Utzschneiderwiese, ihre Wettspiele austragen, allmaehlich das Publikum sich heranziehen und gegen 1914 eine geachtete Stellung unter den lothr. Sportvereinen einnehmen.“6
Die Entwicklung in Saargemünd verlief in anderen größeren lothringischen Orten in ähnlicher Weise. Schon bald wurde Saargemünd von Metz in seiner sportlichen Bedeutung abgelöst. Die Hauptstadt des Bezirks Lothringen wurde zur Drehscheibe für die Entwicklung des lothringischen Fußballs. Auch hier waren Vereine vor allem von zugewanderten Lehrern und Kaufleuten gegründet worden. Schüler und Studenten brachten das Spiel in die umliegenden Dörfer und Industrieorte.7 1905 wurde das Jahr der Vereinsgründungswelle. Nicht nur in Lothringen, viel stärker noch im Saarrevier, das damals territorial teilweise zu Preußen oder Bayern gehörte. 1907 wurde im Süddeutschen Fußballverband, der damals Verband Süddeutscher Fußballvereine hieß, der Saargau gegründet. Ihm gehörten Fußballvereine von Metz über Saarbrücken und Neunkirchen bis Trier an. Bald schon entwickelte sich ein Ligabetrieb auf mehreren Ebenen. Der Wettkampfbetrieb nahm zu, die Vereine befanden sich auf Wachstumskurs. Mit dem Zweiten Vorsitzenden stammte zudem ein prominenter Vertreter aus dem Saargau: Ludwig Albert war Rechtsanwalt in Metz.8
Was zeigt diese Episode aus der Gründerzeit des Fußballsports auf? In Hinblick auf das Wesen des Fußballsports, seinen Eigensinn, seine Funktion? Für die Gründerzeit in Lothringen stellte Alfred Wahl fest, dass die Sportvereine Orte der Integration für die Bevölkerung gewesen seien.9 Hier kam es tatsächlich zu einem sozialen Miteinander der eingewanderten „Altdeutschen“ und der Einheimischen. Zugleich kam es aber auch zur Herausbildung einer segregierten, exklusiven bürgerlichen Fußballvereinskultur, die sich ihrerseits auch wieder abgrenzte zu anderen Vereinen oder auch von anderen Akteuren ausgegrenzt wurde.