Читать книгу Migration|Integration|Exklusion - Eine andere deutsch-französische Geschichte des Fußballs - Группа авторов - Страница 6
Fußball, Migration und Geschichtswissenschaft
ОглавлениеZur Geschichte des Fußballs
Die Relevanz des Sports als „a system of meaning through which we know the world“1 wird niemand mehr ernsthaft bestreiten. Die Mobilisierungskraft des modernen Sports, der sich – mit gewissen Ungleichzeitigkeiten von Land zu Land – seit den Anfängen des massenkulturellen Zeitalters um 1850 auszubilden begann und seitdem mehrere quantitative und qualitative Schübe hin zu einem planetären Phänomen und Bedeutungsfeld erfuhr, war stets gewaltig.2 Eine enorme soziale Nachfrage entstand nach sportlichem Spektakel durch Andere wie auch nach eigenem sportlichen Betätigen in allen erdenklichen Formen, vielfach geknüpft an persönliche Vorlieben, Lebensstile und Identitätsentwürfe. Und schon immer meinte und meint Sport mehr als neutrale, unschuldige, harmlose Gesten, Bewegungen und Techniken, schon immer diente und dient Sport als besonders expressive Projektionsfläche für menschliche Phantasien, Sehnsüchte und Bedürfnisse.3 Maßgebliche Trends des politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Alltags und Wandels seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat der Sport – als eine Art „individueller wie gesellschaftlicher Index der Geschichte“4 – zugleich beeinflusst und reflektiert. Im Zusammenspiel verschiedener Akteure – Sportler und Anhänger, Politiker und Funktionäre, Unternehmer und Medienmacher etc. – beschreibt Sport ein Terrain individueller wie kollektiver Weltsichten, die im öffentlichen Raum um Deutungshoheit ringen.5
Steht die Frage nach der Relevanz des modernen Sports kaum mehr zur Debatte, so stellt sich doch nach wie vor die Frage nach der Legitimität von Sportthemen für die Geschichtswissenschaft, zumindest in Deutschland und Frankreich. Über Jahre und Jahrzehnte war hier wie dort zu konstatieren, dass professionelle Historikerinnen und Historiker allem Populär- bzw. Massenkulturellen – und damit auch dem Sport, besonders dem Fußball – mit schroffer Ablehnung begegneten:6 als gehöre es „zum guten Ton des europäischen Bildungsbürgers, […] sich pejorativ […] über populäre Sportarten zu äußern“7. Von einigen wenigen sozialgeschichtlich inspirierten Beiträgen aus den späten 1970er Jahren abgesehen,8 blieb Fußballhistorie ein primär journalistisches Unterfangen.9 Anders als in Großbritannien, dem „Mutterland des modernen Fußballsports“ wie „der modernen Fußballsportgeschichtsschreibung“,10 wo das Genre schon früh „akademische Würde“ erlangte, begannen sich die Dinge im deutsch- und französischsprachigen Raum erst seit den späten 1980er Jahren zu ändern:11 sowohl was das Würdigen von Studien in der Zeitgeschichtsforschung anging, als auch im Verhältnis der Sportwissenschaften bzw. sciences et techniques des activités physiques et sportives zu den „Mutterdisziplinen“.
Die Gründe waren vielfältig. Mehr noch als zuvor eroberte damals Sport – und an vorderster Front wieder Fußball – in Spitze und Breite den Planeten. Professionalisierung und Verwissenschaftlichung, Kommerzialisierung und Medialisierung, Verdichtung und Globalisierung der Wettkämpfe traten in eine neue „Wachstumsphase“, deren Ende sich bis heute kaum absehen lässt. Zugleich vollzog sich ein weiterer markanter Schritt in die „gesamtgesellschaftliche Versportlichung“. Auch das akademische Feld wandelte sich. Das Beerben der Pioniere12 und das Einrücken einer jüngeren Generation mit geringeren Berührungsängsten auf universitäre Posten mochte eine Rolle spielen. Kaum weniger wichtig waren wissenschaftliche Paradigmenwechsel. Der „Boom des Kulturellen“ brachte eine modern(isiert)e Kulturgeschichte hervor, die Massensport und Populärkultur ernster nahm, vorbehaltsfreier erforschte und die Erkenntnispotenziale solcher Themen betonte. Neue analytische Instrumentarien halfen den Sport praxeologisch zu fassen und als ein Kulturphänomen zu verorten, das je nach Konstellation verschiedene Sinnangebote barg.13 Dass „Fußlümmelei“14 und akademische Würde kein Widerspruch waren, offenbarte spätestens der Aachener Historikertag im Jahr 2000, als es eine Sektion zur Geschichte des Fußballs erstmals in das Programm schaffte.15 In deren Zusammenfassung für den Berichtsband zum Historikertag hieß es ebenso verhalten wie vielsagend:
„Ein enormer Popularitätsgewinn hat den deutschen Fußballsport in den letzten Jahrzehnten zu einem Kulturphänomen allerersten Ranges aufsteigen lassen. Die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit der Faszinationskraft des ‚runden Leders‘ steckt allerdings erst in den Kinderschuhen, weswegen die Sektion in erster Linie erkenntnisträchtige Fragestellungen aufzeigen und erst in zweiter Linie mit gesicherten Ergebnissen aufwarten konnte.“16
Tatsächlich hat sich der fachdisziplinäre Umgang in den Folgejahren weiter normalisiert. Auch deutsche und französische Forscherinnen und Forscher schickten sich mehr und mehr an, den fußballerischen Weg vom „‚Proletensport‘ zum ‚Kulturgut‘“17, zum „objet de culture“18 kritisch zu begleiten. Und dennoch – bei allen Fortschritten – bleibt die Diskrepanz unübersehbar zwischen der Erkenntnis, Fußball sei ein mächtiges Gesellschaftsphänomen und legitimes Untersuchungsobjekt, und dem vergleichsweise spärlichen historiographischen Output.19 Manche Aspekte mögen inzwischen empirisch gut abgedeckt sein, beispielsweise der Spitzenfußball im Kontext geschichtsmächtiger internationaler Großereignisse und nationaler Sporterfolge wie das bundesrepublikanische Nachkriegs-„Wunder von Bern“ 1954 bei der Fußball-Weltmeisterschaft in der Schweiz20 oder der WM-Gewinn durch die Équipe tricolore 1998 im eigenen Land.21 Mehrere Handbücher zum deutschen wie zum französischen Fußball im 20. Jahrhundert mit unterschiedlichem thematischen und zeitlichen Fokus liegen inzwischen aus der Feder – einiger weniger – professioneller Historikerinnen und Historiker vor,22 ebenso deutsch- wie französischsprachige Überblickswerke zur Geschichte des internationalen Fußballgeschehens seit seinen Anfängen im viktorianischen England oder zur Geschichte des Weltfußballverbandes seit 1904 sowie den durch die FIFA seit 1930 organisierten Fußballweltmeisterschaften.23
Zugleich aber sind in Deutschland wie in Frankreich empirische geschichtswissenschaftliche Studien und Qualifikationsschriften, die in Fachkreisen auf eine breitere Resonanz stoßen, weiterhin begrenzt.24 Von Ansatz und Material her tatsächlich transnational dimensionierte deutsch-französische Untersuchungen, die über eine Zusammenschau von Einzelbeiträgen über das eine oder das andere Land hinausgehen,25 kommen überaus selten vor:26 Es scheint, als habe das grenzüberschreitende Engagement einiger Vorreiter der 1990er Jahre keine dauerhaften wissenschaftlichen Früchte getragen.27 Darüber hinaus sind in vielen Bereichen noch immer zahlreiche gewichtige Desiderate zu verzeichnen.28 Zu etlichen Phasen der fußballerischen Entwicklung liegen keine oder kaum Analysen vor, spezifisch regionale Ausprägungen sind – mit Ausnahme des Ruhrgebiets29 und vereinzelter Beiträge in Form von Clubgeschichten – häufig unterbelichtet; ebenso – den zuletzt greifbaren Fortschritten zum Trotz30 – der Frauenfußball in beiden Ländern, erst recht der gesamte Amateursektor sowie die sozialen und kulturellen Praktiken des Fußballspielens und des Fußballkonsumierens.31 Besonders eklatant mangelt es an quellengesättigten medien- und kommunikations-, an stadt- und regional-, an gesellschafts-, kultur- und emotionsgeschichtlich perspektivierten Studien sowie an offenen, integrativen und interdisziplinären Forschungsdesigns. Dies gilt auch für den Bereich „Amateurfußball und Arbeitsmigration“, auf dessen weiterhin mäßigen Forschungsstand noch zurückzukommen sein wird.
Zur Geschichte der Migration
Was die Geschichte der Migration angeht, gibt es – ähnlich wie im Bereich des Sports – sowohl in Frankreich als auch in Westdeutschland seit den 1980er Jahren deutlich zunehmende Interessenschwerpunkte und Forschungsaktivitäten zu verzeichnen, die sich in zahlreichen Einzelstudien, Sammelbänden, Themenheften wissenschaftlicher Zeitschriften oder auch Ausstellungskatalogen niederschlugen. Hier wie dort sparten die frühen Synthesen damals nicht mit Hinweisen, den aktuellen Beiträgen zu Einwanderung, Ausländerbeschäftigung und „Gastarbeiterfrage“ fehle noch „die historische Perspektive in der Regel ganz“32, doch nun endlich würde „l'histoire de l'immigration comme un problème digne de la recherche“33 angesehen. Daraus haben sich seit den 1990er Jahren europaweit und kontinuierlich breite Forschungsströme mit neuen Ansätzen und Paradigmen entwickelt, die mit lange verbreiteten begrifflichen Ungenauigkeiten und etlichen überkommenen Fehleinschätzungen aufgeräumt haben,34 um dann wiederum als Grundlage substantieller Überblickswerke und jüngerer Handbücher zu dienen.35 Mittlerweile gilt es als ausgemacht, dass zeithistorische Migrationsforschung sich als eine feste Größe im geschichtswissenschaftlichen Themenkanon etabliert hat.36
Deutlich mehr als beim Erforschen des modernen Sports ging der Aufschwung der Migrationsgeschichte in der Bundesrepublik und Frankreich einher mit beträchtlicher Neugier für das, was sich auf der jeweils anderen Seite der deutschen bzw. französischen Grenze abspielte. Bereits in den frühen 1990er Jahren gab es einen regen wissenschaftlichen Austausch und erste Monographien,37 manchen Beobachtern*innen galten damals Immigrations- und Integrationsfragen als „un sujet privilégié de comparaison entre l'Allemagne et la France“38. Komparatistische Anknüpfungspunkte boten zumeist die offensichtlichen Unterschiede in den nationalen Migrationsgeschichten des 19. und 20. Jahrhunderts sowie die divergierenden Selbstverständnisse, die sich daraus ergaben: Frankreichs lange Tradition als Einwanderungsland, das die Bundesrepublik – aller gesellschaftlichen Realität zum Trotz – zumindest regierungsamtlich bis in die 1980er Jahre hinein nicht sein wollte.39 Dagegen meinte Immigration im französischen Fall spätestens seit dem Durchsetzen der Dritten Republik in den 1880er Jahren stets ein eminent politisches Projekt, konkret das zivilisatorisch-assimilatorisch angehauchte Integrationskonzept einer republikanischen Nation, das Menschen aus anderen Ländern und Kontinenten über kurz oder lang zu „guten“ Franzosen und überzeugten Republikanern machen sollte.
Deutsch-französische Vergleichsmomente blieben in der aktualitätsorientierten wie zeithistorischen Migrationsforschung der Folgezeit stets präsent,40 weiterhin häufig verbunden mit der Frage nach wechselseitigen Lehren, die sich möglicherweise aus den respektiven Erfahrungen ziehen lassen.41 Ein solcher Fokus hilft erklären, weshalb Studien in beiden Ländern oftmals besonders auf Einwanderungstraditionen und Integrationsmodelle abheben, auf Staatsbürgerschaftsrecht und politische, gesetzliche wie administrative Regelungen im Umgang mit Migranten*innengruppen, auf die Rolle intermediärer Instanzen wie Wohlfahrtsverbände und Kirchen, auf soziales und / oder ethnisches Ausgrenzen und Diskriminieren durch „mehrheitsgesellschaftliche“ Akteure, zuletzt vermehrt auf Flucht- und Migrationsbewegungen im globalen Maßstab. Die „fracture coloniale“, der Nexus zwischen kolonialhistorischer Vergangenheit und dem Umgang mit Migranten*innen aus Kolonialkontexten, macht einen weiteren Themenbereich aus, dem zumindest in Frankreich schon lange hohes Gewicht zukommt.42 Dies gilt auch für migrationsgeprägte populärkulturelle Ausdrucksformen, die seit Jahrzehnten dank landesweit erfolgreicher und weit über den Kreis der Einwanderer*innengruppen hinaus rezipierter Produktionen und Praktiken für Aufsehen gesorgt haben: etwa in der nationalen Musik- oder Literaturszene, im modernen Tanz-, im Film- oder Theaterbetrieb.43
Dagegen sind andere denkbare Arbeitsfelder besonders für den deutschen Fall bislang kaum erforscht. Dazu zählen beispielsweise die Beschäftigungsbedingungen von Migranten*innen und deren Akkomodationsstrategien am Arbeitsplatz, mehr noch die konkreten Lebensumstände und Alltagspraktiken, die genutzten Kontaktforen und Kommunikationsformen. Noch weniger wissen wir über das Freizeitverhalten eingewanderter Männer, Frauen und Kinder aus süd- und südosteuropäischen Herkunftsräumen, das sich selbst in dickleibigen monographischen Abhandlungen oder einschlägigen Aufsatzsammlungen allenfalls ganz am Rande behandelt findet. Nach wie vor gilt dies tendenziell auch für fußballerisches Betätigen der Zuwanderer in den europäischen Aufnahmeländern der langen 1960er Jahre, erst recht für die möglichen Folgen dieser sportlichen Aktivitäten selbst wie auch damit verbundener Beheimatungs- und Integrationsprozesse.
Zur Geschichte von Fußball und Migration
Ein Zusammendenken der Bereiche Fußball und Migration fördert weitere historiographische Ähnlichkeiten wie auch etliche Abweichungen zwischen Deutschland und Frankreich zutage. Grundsätzlich unterstreicht ein Blick in Handbücher beider wie auch anderer Länder, dass Migrations- und Fußballgeschichte eher selten wechselseitig aufeinander bezogen sind und das wissenschaftliche Erkenntnispotenzial, das einem engeren Koppeln der Themenfelder innewohnt, vielfach übersehen wird.44 Selbst migrationshistorische Synthesen jüngeren Datums, die doch Einsichten in diachrone und synchrone Zusammenhänge generieren sollen, lassen kaum einmal Raum für freizeitliche, sportliche und fußballerische Aktivitäten von Eingewanderten in den Aufnahmeräumen. Dies gilt für länderübergreifende Überblickswerke – auch für Aufsatzsammlungen – im europäischen wie weltweiten Maßstab,45 aber auch für Darstellungen der letzten Jahre, die sich mit Immigration und Integration vornehmlich aus einer nationalen, deutschen oder französischen Perspektive beschäftigen.46 Das über 460 Seiten umfassende „Lexikon der Einwanderung in Frankreich“ kennt keinen Eintrag „Sport“ oder „Fußball“.47 Ganz ähnlich stellt sich die Situation in quellengesättigten migrationshistorischen Qualifikationsarbeiten dar, die das Freizeitverhalten von Arbeitsmigranten verglichen mit den Rahmenbedingungen am Arbeitsplatz oder mit der Wohnsituation bestenfalls marginal und konkrete sportliche Aktivitäten überhaupt nicht betrachten.48 Wiederum ergibt sich ein vergleichbarer Befund bei entsprechenden französischen Untersuchungen; Ausnahmen bestätigen die Regel.49
Was die sporthistorische Seite der Medaille anbelangt, so lässt sich kein einheitliches Bild zeichnen. Einerseits sind überblicksartige Handbücher und Sammelbände in Deutschland wie in Frankreich zumeist wenig migrationsorientiert.50 Ähnliches gilt es für breiter angelegte populärwissenschaftliche Bücher zur Sport- und Fußballgeschichte zu vermelden.51 Ebenfalls in dieselbe Richtung weisen einschlägige Veröffentlichungen der nationalen Fußballverbände anlässlich anstehender Jubiläen: Aktive aus Migrationskontexten spielen darin weder im Spitzensport noch im Breitensport eine Rolle.52 Und selbst der lesenswerten FIFA-Festschrift, publiziert zum 100-jährigen Bestehen der Organisation und verfasst von vier ausgewiesenen Fachhistorikern, für die der Weltfußballverband erstmals die sonst verschlossenen Tore seiner Archive geöffnet hatte, fehlt ein eigenes Kapitel zum Thema Fußball und Migration: Es wird lediglich gestreift in den Passagen zu internationalen Spielertransfers und fußballerischer Entwicklungspolitik der FIFA;53 auf einen systematischen Zugriff, um Verbindungen und Kausalitäten aufzuzeigen, wird freilich verzichtet. Andererseits liegen durchaus Synthesen vor, die einen solchen Zugriff für wichtig genug halten, um daraus innerhalb einer fußballhistorischen Gesamtdarstellung einen roten Faden neben anderen zu spinnen.54 Allemal befindet sich aktuell mehr Migration in der zeithistorischen Sportforschung als Sport in der Migrationsforschung. Dies allerdings – wie ein abschließender Blick auf Publikationen offenbart, die von vornherein die Dialektik von Fußball und Migration fokussieren – mit gewissen deutsch-französischen Asymmetrien und Ungleichzeitigkeiten.
Zwar wird seit Jahren auch in der deutschen Zeitgeschichte dazu geforscht,55 deutlich länger allerdings werden in Frankreich die Wechselwirkungen von Sport und Migration breiter thematisiert,56 angeregt nicht zuletzt durch die zeitlich wesentlich früher einsetzende und quantitativ deutlich höhere Präsenz von Fußballspielern mit Migrationshintergrund auf allen Ebenen des dortigen Spielbetriebs wie auch im früher etablierten Profibereich.57 Der Hype um den WM-Sieg 1998 und seine – auch in Deutschland58 – dominante Interpretation als Erfolg einer „France au pluriel“ taten ein Übriges, um die Dynamik zu verstärken.59 „Frankreich im Plural“: Das meinte die kreativ-konstruktive Zusammenarbeit von Nationalspielern, deren Namen und Geburtsorte sich fast ausnahmslos wie Familienbücher regionaler oder ethnischer Minderheiten aus Migrationskontexten lasen. Selbst die krachenden fußballerischen Bruchlandungen bei der Folge-WM 2002 in Südkorea und Japan bzw. der WM 2010 in Südafrika, die in manchen öffentlichen Debatten die multikulturellen Heroen der Vorjahre zu „Verrätern an der nationalen Sache“60 degradierte, vermochte es nicht, den Trend zeithistorischer Debatten über Profisport als „reflet des vagues migratoires“61 wieder zu bremsen. Auch für den Amateurfußball lässt sich neuerdings auf einige fallstudienartige, häufig regionalhistorisch dimensionierte Beiträge in Sammelbänden zurückgreifen, die zumeist die Selbstsicht italienischer, spanischer, portugiesischer, algerischer, marokkanischer oder anderer nationaler Migrantengruppen in der französischen Aufnahmegesellschaft und Breitensportwelt widerspiegeln;62 vielfach beruhen solche Artikel auf voluminösen, häufig geschichts- oder sportwissenschaftlichen Dissertationen, die teils veröffentlicht,63 teils wegen fehlender Publikationspflicht in Frankreich nur schwer zugänglich sind.64
Zudem schlägt sich dort der Nexus von Fußball und Migration dank seiner zentralstaatlich-musealen Verankerung durch die Cité nationale de l'histoire de l'immigration, seit 2012 Musée de l'histoire de l'immigration, in entsprechenden Ausstellungen wie „Allez la France! – Football et immigration“ nieder.65 Auf deutscher Seite dagegen fanden bislang migrationsbezogene Aspekte selbst bei publikumsträchtigen Museumsevents zur Geschichte des Fußballsports oder der Fußballweltmeisterschaften kaum einmal Berücksichtigung.66 Ausnahmen bildeten die Landesausstellung in Stuttgart vom Sommer 2010, in der zumindest ein Exponat die fußballerischen Aktivitäten der „Gastarbeiter“ dokumentiert hat, sowie zuletzt die Ausstellung zur Geschichte von Fußball und Migration im Ruhrgebiet am Standort der Bochumer Zeche Hannover des LWL-Industriemuseums. Dort ließ sich 2015 auch der 1966 von der Landesregierung gestiftete „NRW-Pokal für Gastarbeitermannschaften“ bewundern, den 1970 die Spieler des griechischen FC Fortuna Dortmund im Schwelgernstadion im Duisburger Stadtteil Marxloh errungen hatten.67 Unterschiede zeigen sich nicht allein in Katalogen zur Fußball-, sondern auch zur Migrationsgeschichte: Während in Begleitbänden zu „Gastarbeitern“ Fußballmaterien selbst in den Passagen ausgespart bleiben, in denen es um Lebensalltag und Freizeitverhalten geht,68 gehören Rubriken zu Sport und Migration – ebenso wie zu diversen populären Künsten aus Migrationskontexten – auf französischer Seite schon länger zum Standardrepertoire entsprechender Publikationen.69
Zeithistorisches Zwischenfazit
Bilanzierend lässt sich nicht nur für die internationale, sondern auch für die deutsch-französische Forschungslandschaft zu Sport bzw. Fußball und Migration festhalten, dass zum einen seit etlichen Jahren „promising signs of a rise of interest in the topic“ aufscheinen und dass zum anderen – in der Summe – „historians have contributed relatively little to the considerable scholarship that now exists on the migration of footballers“.70 Tatsächlich nimmt sich der historiographische Output verglichen mit Publikationen aktualitätsorientierter Disziplinen eher bescheiden aus. Beispielsweise setzen sich nunmehr diverse Beiträge mit den jüngeren Entwicklungen im Bereich ethnischer Sport- und Fußballvereine auseinander, und dies in Deutschland wie in Frankreich.71 Insgesamt sind in den vergangenen Jahren unter nationalen Vorzeichen zahlreiche sozialwissenschaftliche Untersuchungen und Sammelbände zu Fußball und Migration erschienen, ebenso Beiträge unter europäischen und deutsch-französischen Prämissen, die zuletzt verstärkt nach den Konsequenzen grenzüberschreitender fußballerischer Wanderungsprozesse für die Europäische Integration und eine „Europäisierung Europas“ gefragt haben.72
Was die positiven Trends vermehrten zeithistorischen Interesses für Fußball und Migration angeht, so sind zumindest drei Spezifika hervorzuheben, die den deutsch-französischen Fokus auf fußballspielende Arbeitsmigranten der langen 1960er Jahre im vorliegenden Sammelband als ganz besonderes Desiderat erscheinen lassen. Erstens meint Fußball und Migration in der Zeitgeschichte fast durchgängig Profifußball und Migration. In beiden Ländern – wie auch europäisch dimensioniert73 – geht es um Spitzensport und Spieler- bzw. Trainertransfers über nationale oder kontinentale Grenzen hinweg,74 wobei professionellen Fußballmigranten aus den früheren Kolonialgebieten spezielle Aufmerksamkeit gewidmet wird.75 Der gesamte Bereich des Breitensports und damit das Gros der Eingewanderten, die zu Tausenden freizeitlich Fußball oder andere Sportarten in unterschiedlichsten Konstellationen praktizierten, bleiben in der Regel außen vor.76
Zweitens behandeln die meisten historischen Analysen zu Fußball und Migration andere Phasen als die langen 1960er Jahre und andere Gruppen als die süd- und südosteuropäischen Migranten, die damals in nördlicher gelegenen Regionen Europas die Arbeitsmärkte unterfütterten. Einen offensichtlichen Schwerpunkt der Forschung bildet schon länger die erste Nachweltkriegszeit: nicht zuletzt, um zu verdeutlichen, dass es sich bei fußballerischer Migration weder um ein rezentes Phänomen und einen linearen Prozess handelt, dass die frühen kontinentaleuropäischen Vereine im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts überaus kosmopolitisch angehaucht waren und dass die Nationalisierungstrends vor und nach 1918 fortwährenden Transferpraktiken dem mehr und mehr boomenden Fußballgeschäft keinen Abbruch taten.77 Im deutschen Fall konzentrieren sich die Untersuchungen vor 1945 zudem auf bestimmte Zuwanderer in bestimmten Räumen, allen voran auf die masurenstämmigen Fußballer im Ruhrgebiet und beim FC Schalke 04,78 die vornehmlich in den drei Jahrzehnten nach 1880 aus dem südlichen Ostpreußen ins Revier gekommen waren, um in der florierenden Eisen- und Stahlindustrie sowie im Bergbau zu arbeiten.79 Deren „emotionale Seßhaftwerdung in der neuen Heimat“80 lässt sich freilich kaum allein über die Schalker Erfolge seit Mitte der 1920er Jahre erklären.
Drittens vollzieht sich Sport- und Fußball- wie auch Migrationsgeschichtsschreibung weiterhin primär unter nationalen Auspizien. Zwar sind beachtliche Fortschritte transnational dimensionierter Ansätze offensichtlich, die breite Mehrheit der Studien, die Fußball und Migration zusammendenken, bewegt sich freilich nicht in solchen „Mesoräumen“81. Eher schon thematisiert werden die Verhältnisse in den Aufnahmegesellschaften, die sich angesichts spezifischer Traditionen und Selbstbilder, Rahmungen und Praktiken unterschiedlich ausprägen können und eher in körperlich und sinnlich erfahrbaren „Makro-“ bzw. „Mikroräumen“ alltäglicher Lebenszusammenhänge zu greifen und analysieren sind.82
Kurzum: Trotz des mehr als offensichtlichen Erkenntnispotenzials bilden Abhandlungen über migrantischen Sport und Fußball der langen 1960er Jahre bislang keinen Schwerpunkt der zeithistorischen Forschung, erst recht nicht unter deutsch-französischen oder europäischen Vergleichsgesichtspunkten.83 Gerade in dieser Perspektive sollen und wollen deshalb die folgenden Beiträge die hohe Relevanz einschlägiger Untersuchungen darlegen, zentrale Leitfragen formulieren und die wenigen bisherigen Erkenntnisse knapp umreißen, um damit erste Pflöcke einzuschlagen in ein transnationales Themenfeld mit Zukunft.