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d) Interpretation durch den EuGH
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Der Interpretation der Rechtfertigungsgründe durch den EuGH kommt für das tatsächliche Verhältnis der Grundfreiheiten zu dem souveränitätssensiblen Gebiet des nationalen Steuerrechts entscheidende Bedeutung zu. Lange wurde insofern eine zunehmende Einflussnahme des Gerichtshofs beobachtet und gar eine Kompetenzüberschreitung und schleichende bzw. „negative“[1254] Harmonisierung der nationalen Steuersysteme durch den EuGH kritisiert[1255], der ein „Einfallstor für die Europäisierung des Steuerrechts“ schaffe[1256]. Die fehlende europäische Kompetenz auf dem Gebiet der direkten Steuern dürfe nicht durch ein extensives Grundfreiheitsverständnis und eine konturenlose Auslegung und Anwendung umgangen werden[1257]. Kritisch aufgenommen wurden insbesondere die Häufigkeit der Heranziehung der Grundfreiheiten und die oftmalige Feststellung ungerechtfertigter Verstöße[1258]. Während dem europäischen Gerichtshof allerdings kein Vorwurf gemacht werden kann[1259], wenn er nationale Steuerrechtsordnungen tatbestandlich an den Grundfreiheiten prüft, konzentriert sich die Frage der Kompetenzüberschreitung auf die konkrete Ausgestaltung der Rechtfertigungsprüfung.
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Waren die hergebrachten Rechtfertigungsgründe lange einer eher restriktiven Interpretation des EuGH ausgesetzt, ist in der jüngeren Vergangenheit ein Wandel dieses Bildes zu verzeichnen[1260]. So wurden zum Teil länger anerkannte Rechtfertigungsgründe großzügiger interpretiert und zusätzliche, neue Rechtfertigungsgründe akzeptiert. Der Grund der Effizienz der Steuerbeitreibung wurde erst 2006 in der Scorpio-Entscheidung[1261] höchstrichterlich anerkannt, die Vermeidung mehrfacher Verlustnutzung erstmals mit den Rechtssachen Marks&Spencer[1262], Oy AA[1263] und Lidl Belgium[1264] aus dem Jahr 2005. Diese Verfahren leiteten auch eine großzügigere und somit mitgliedstaatsfreundliche Interpretation der Rechtfertigungsgründe der Wahrung der ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnisse, der Gewährleistung wirksamer Steueraufsicht sowie der Kohärenz ein[1265]. Als Wendepunkt anzuführen ist insofern insbesondere das obiter dictum im Urteil Lidl Belgium, in welchem die mitgliedstaatliche Steuersouveränität ausdrücklich anerkannt und die extensive Interpretation der Grundfreiheiten infolgedessen eingedämmt wird[1266]. Die jüngere Entwicklung wird weithin als Zugehen des Gerichtshofs auf die Mitgliedstaaten, Respektierung der originären nationalen Steuerhoheit und Forcierung eines Interessensausgleichs und Vertrauens- wie auch Verständnisaufbaus begrüßt[1267].