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2. Gemeinsame Kriegsbeute: Elsass-Lothringen als „abhängiges Land“
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Besatzung, Diktaturphase und „politische Beamte“
Nach seiner Besatzung im Französisch-Deutschen Krieg 1870 wurde das eroberte Elsass mit einem Teil des auf diese Weise geteilten Lothringen als gemeinsames Reichsland aller Bundesstaaten im Deutschen Reich konstituiert, ohne dabei deren volle Rechte zu erhalten. Es blieb ein dauerhafter Krisenherd.[81] Nach Reichsgründung und Friedensschluss folgte durch das Vereinigungsgesetz vom 9. Juni 1871 wie zuvor in Norddeutschland eine Diktaturphase. Mit dem allein von Kaiser und Bundesrat erlassenen Landesgesetz vom 30. Dezember 1871 über die Einrichtung der Verwaltung wurde der Reichskanzler alleiniger Minister für das Land. Im Lande verfügte der Oberpräsident als Leiter der Verwaltung über den berüchtigten „Diktaturparagraphen“ (§ 10), der dem französischen Belagerungszustandsgesetz vom 9. August 1849 entnommen war, und konnte die Truppen im Lande requirieren. Eine Woche vor dem Ende der Diktaturphase übernahmen Kaiser und Bundesrat das Reichsbeamtengesetz vom 31. März 1873 für die Beamten und Lehrer des Landes. Dabei erweiterten sie dessen Katalog von Stellen „politischer Beamter“ noch weiter, als er schon seit 1867 in den neuen Provinzen Preußens reichte. Er schloss nun auch Lehrer an niederen Schulen ein, obwohl doch nur in Ausnahmefällen Beamte aus französischer Zeit übernommen wurden.[82]
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Reichslandzeit ab 1874
Am 1. Januar 1874 wurde die Reichsverfassung auch in Elsass-Lothringen eingeführt. Das Land wurde damit „Reichsland“ in dem Sinne, dass es nicht seinem Monarchen oder seiner Oligarchie (wie die drei Freien Städte) „gehörte“, sondern vom Reich gemeinsam beherrscht wurde. Flagge und Wappen waren die des Reiches. Mit der Verfassung 1879 trat ein „Kaiserlicher Statthalter“ an die Spitze des Landes, und es erhielt eine Regierung aus einem Staatssekretär und bis zu vier Unterstaatssekretären, die Reichsbeamte waren. Der elsässische Staatsrechtler Robert Redslob erarbeitete dazu eine vergleichende Studie über „abhängige Länder“, unter die er als erstes das Reichsland einordnete. Der Diktaturparagraph wirkte durch seine Anwendung zuerst im Kulturkampf gegen die Katholiken, später gegen die Sozialdemokratie, vor allem aber durch das Bewusstsein aller Beteiligten davon, dass dieses Machtmittel in der Hand der Behörden lag. Er wurde erst 1902 widerstrebend abgeschafft, um mit diesem Zugeständnis die Personal- und Ausgabenpolitik von Kaiser Wilhelm II. im Lande abzusichern. Die Zabern-Affäre 1913 mit massiven Übergriffen der Armee gegen die Bevölkerung der Stadt verdeutlichte die – vom Reichstag missbilligte (mehr konnte er nicht tun) – Machtlosigkeit der Reichs- und Landesverwaltung gegenüber dem vom königlichen Oberbefehl nach außen hin eisern gedeckten Fehlverhalten des Militärs.[83]
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Willkürherrschaft im Weltkrieg
Das Reichsland wurde im Kriegszustand ein Ort besonderer Willkürakte der Armee im eigenen Lande. Mit Kriegsbeginn kam es zu Geiselnahmen in der Bevölkerung, politisch gezielten Zeitungsverboten und Einschüchterungsmaßnahmen gegen den Landtag, der nur noch einmal im Jahr ganz kurz zusammentreten sollte, um schnell dem Haushalt zuzustimmen. Die Abgeordneten erreichten dann, dass sie bei den Haushaltsberatungen vertraulich auch Beschwerden vorbringen durften. Dennoch wurde dem SPD-Abgeordneten Jacques Peirotes außerhalb der Session, als keine Immunität mehr galt, ein Zwangswohnsitz in Preußen zugewiesen. Ein Dauerthema war die seit 1915 anhaltende Haft des katholisch-frankophilen Landtagsabgeordneten Médard Brogly, dem ein Kriegsgericht auch sein Mandat abgesprochen hatte. Für ihn setzte sich Landtagspräsident Eugen Ricklin ein, der danach, obwohl er Abgeordneter von Reichstag und Landtag war, als Feldarzt aus dem Garnisonsdienst im Elsass nach Verdun abkommandiert wurde. Hätte er es nicht 1918 doch noch geschafft, für Brogly eine Zusatzration zu erwirken, wäre dieser wohl beinahe im Gefängnis verhungert.