Читать книгу Bonusland - Götz Nitsche - Страница 10
Reise nach El Salvador
ОглавлениеZiemlich viel, stellte ich bald fest, nur nicht mein Gepäck. Eine Viertelweltumrundung später stand ich am Kofferband und sah ratlos nach links und rechts. Die Suche nach dem großen Abenteuer war fürs Erste einer Suche nach dem kleinen Rucksack gewichen. Ein Passagier nach dem anderen griff sich seinen Koffer vom Band, bis schließlich keiner mehr übrig war. Übrig blieben lediglich ich und ein weiterer Deutscher, der dieselbe Flugroute über Santo Domingo und Panama City hinter sich hatte. Irgendwann, viel zu spät, beschlich uns das Gefühl, unseren Einsatz verpasst zu haben in dieser Variation eines Spielklassikers: der Reise nach Jerusalem mit Gepäck anstelle von Stühlen.
Eigentlich bin ich ein Angsthase. Das habe ich vielleicht vergessen zu erwähnen, ist aber nicht ganz unwichtig. Denn früher hatte ich Angst vorm Nikolaus, und als der Pumuckl aus Versehen die Werkstatt vom Meister Eder anzündete, habe ich mich unterm Tisch verkrochen. Im Schwimmbad traute ich mich nicht, einen Salto vom Beckenrand zu machen, weil ich Angst hatte, mir den Kopf aufzuschlagen und zu verbluten. Ich habe in meinem ganzen Leben nie an einer Zigarette gezogen, nicht ein einziges Mal, weil ich Angst hatte, sofort süchtig zu sein. Und während meiner gesamten Schulzeit habe ich mich nie getraut, das Mädchen anzusprechen, das ich mochte. Vielleicht war das auch der Grund, warum ich allein reisen wollte: Um meine Angst zu überwinden. Doch nun fühlte ich mich so verlassen wie noch nie in meinem Leben.
Der Flughafen von San Salvador hatte den Charme eines sibirischen Busbahnhofs. Und in diesem Augenblick versprühte die Höhe der Decke ein Gefühl der Einsamkeit wie sonst nur die russische Tundra. Mit dem Unterschied, dass ich schwitzte, denn ich trug noch immer die lange Hose, die mir im deutschen Spätherbst geeignet erschienen war.
Das Gepäckband drehte so quietschend und nutzlos seine Runden wie die angeschimmelten Ventilatoren an der Hallendecke. Als auch der letzte Mitflieger der Putzkolonne gewichen war, bewegte sich ein Flughafenmitarbeiter zielstrebig, aber offensichtlich wider-willig auf uns zu. In seiner Hand hielt er einen Zettel, auf dem mein Name stand. Ein paar Mal versuchte er, ihn auszusprechen, dann hielt er ihn mir hilfesuchend unter die Nase. »Eres tú?«, fragt er.
»Sí«, antwortete ich. Verunsichert folgte ich dem Mann in ein kleines Büro. Der andere Deutsche, der dasselbe Problem hatte, folgte uns unauffällig. Der schwitzende Tico erklärte uns die Sachlage. Es war schon bekannt, dass mein Rucksack verschwunden war, nur leider wusste niemand, wohin. Was nun?
Ich hatte zwar keine Reservierung, aber immerhin übers Internet die Adresse eines Hostels für die erste Nacht rausgesucht und schrieb sie dem Arbeiter auf einen Zettel. Hoffentlich hatten die überhaupt noch ein Zimmer frei. Und hoffentlich würde der Flughafenmitarbeiter meinen Zettel nicht gleich verlieren. Von Computern hatte man in El Salvador bislang offenbar nur am Rande was mitbekommen. Es stand zwar ein fescher Röhrenmonitor auf dem Tisch, doch offenbar nur zur Dekoration.
Meinem Bruder in der Not erging es ebenso, und da er nichts weiter geplant hatte, hängte er sich an mich dran.
»Und jetzt?«, fragte er mich, als wir zurück in die Halle traten. In seinen Augen sah ich, dass er mindestens so verunsichert war wie ich. Also riss ich mich zusammen und tat so, als hätte ich die Lage im Griff.
»Ich kenne mich aus«, sagte ich. »Zu dem Gasthaus finden wir locker.«
Entschlossen schritten wir aus dem Flughafengebäude, bereit für die volle Dröhnung Abenteuer. Und Mittelamerika empfing uns mit einer Breitseite. Die Hitze schlug uns ins Gesicht wie Rocky Balboa die Schweinehälfte. Es war schwülheißer als in Miami im Juli. Der Asphalt brannte. Palmen säumten die Parkplätze. Vor den Bergen in der Ferne drehten Geier ihre Runden. Taxifahrer bedrängten uns, versuchten, uns unser Handgepäck aus den Händen zu reißen. Wir schüttelten sie ab und nahmen Kurs auf die Bushaltestelle am anderen Ende des Parkplatzes. Nach der halben Strecke klebte die Jeans an meinen Beinen. Ein kleines Stück weiter bildeten die Socken Schwimmhäute zwischen meinen Zehen und prusteten seitlich Schweiß wie durch Kiemen in meine viel zu dicken Skateschuhe.
»Ein Glück, dass wir keinen schweren Rucksack tragen müssen«, versuchte ich zu scherzen. Mein Reisebegleiter grunzte missmutig. Wo war der Bus? Auf der Suche nach einer Zeittafel wichen wir den Obstverkäufern aus, die uns an den Grenzen des Flughafengeländes auflauerten.
Der Bus kam eher selten, wie sich herausstellte, denn der Flughafen lag etwas abseits der Panamericana. Aber findige Ticos hatten das Nischengeschäft für sich entdeckt, und so forderte uns kurz darauf der Beifahrer eines Pick-ups auf, hinten auf die Ladefläche aufzuspringen. In der verzweifelten Hoffnung auf ein wenig Abkühlung durch den Fahrtwind fackelten wir nicht lange.
Früher hatte ich angenommen, der Begriff »voll« in Bezug auf Autos sei hinreichend definiert. Ein Reisebus hat um die fünfzig Sitzplätze, ein Golf hat fünf und ein Pick-up zwei. So dachte ich. In anderen Kulturen scheint »voll« allerdings ein dehnbarer Begriff zu sein, ähnlich wie Verkehrssicherheit, Hygienestandards und Rechtsstaatlichkeit. Voll ist ein Fahrzeug in El Salvador dann, wenn sich auf der einen Seite ein Passagier hineinquetscht und dafür am anderen Ende einer herauspurzelt. Und dann ist noch Platz für zwei Kinder. Dieser Pick-up war nicht voll – er war schweinetransportervoll.
Dankbar für die Tatsache, dass ich einen Kopf größer bin als die meisten Ticos, griff ich über die Köpfe hinweg nach dem Geländer unseres Beförderungsmittels und verteilte meinen Moschusduft an die Mitfahrer. Wie die Würstchen im Glas schossen wir kurz darauf über die Panamericana, durchgeschüttelt bei dem verzweifelten und erfolglosen Versuch, die zahllosen Schlaglöcher dieser Sehnsuchtsstraße zu umkurven. Meine Sehnsucht bezog sich in diesem Augenblick allerdings eher auf das Ziel meiner Reise. Nein, nicht der Weg war in diesem Fall mein Ziel, sondern das verdammte Ziel. La Libertad. Hupend und fluchend überholten wir und wurden überholt, schossen um Haaresbreite an entgegenkommenden Autos vorbei und hielten alle paar Kilometer an, um einen Passagier auszuspucken oder noch einen quer reinzuschieben.
Ich stellte bald fest, dass neun von zehn Pkw in El Salvador Pickups sind. Es sind die Autos einfacher Menschen, Bauern zumeist, in der Regel die Grundbesitzer, die etwas mehr Vermögen haben als die einfachen Landarbeiter. Sie lesen bei jeder Leerfahrt am Straßenrand wartende Menschen auf, denen der Bus zu teuer oder zu langsam ist, bis kein Löschpapier mehr dazwischen passt, das nicht in drei Sekunden schweißgetränkt wäre. Ich war froh, als der Fahrer endlich für uns anhielt.
Im Hostel pulte ich die Reste meiner Socken von den Zehen und schätzte mich glücklich, dass ich mich ohne die Hilfe einer Fleischerschere aus der Hose befreien konnte. Mit einem Jauchzer der Erleichterung sprang ich, nur mit der durchgeschwitzten Unterhose bekleidet, in den Pool. Und da blieb ich erst mal sitzen – für volle drei Tage.
An meinem zweiten Abend war ich so weit abgekühlt, dass ich mir bei einem Cuba Libre langsam Gedanken über meine Situation machen konnte. Ich war da, das begriff ich allmählich. Ich war im Abenteuer angelangt. Es hatte mich gefunden, kaum dass ich einen Fuß auf den Boden Mittelamerikas gesetzt hatte. Ich war per Anhalter die Panamericana entlanggebraust. Mit nichts außer den Kleidern, die ich auf dem Leib trug, und der Kreditkarte, die ich natürlich im Handgepäck bei mir hatte. Der freundliche Hostel-Besitzer hatte ein Herz für meine Situation, was gut war, denn ein Kreditkarten-Lesegerät hatte er nicht. Er vertraute darauf, dass ich irgendwann schon würde bezahlen können. Was uns verband, war vor allen Dingen unsere Liebe zu El Salvador und zu Rum mit Cola. Gutgelaunt servierte er mir ein weiteres Glas direkt an den Pool.
Ich befand mich inmitten einer Geschichte, die ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt hätte. Und gleichzeitig fühlte ich mich auf seltsame Art leer. Ich war allein. War es das nicht, was ich wollte? Irgendwie fühlte es sich anders an, als wenn man als Teenager auf das Fußballspiel im Hof verzichtet, um in Ruhe ein Buch zu lesen. Ich war nicht nur allein, ich war einsam. Ich sehnte mich plötzlich nach einem vertrauten Umfeld, nach Menschen, die ich kannte, nach Sicherheit. Und auf der anderen Seite, redete ich mir ein, sollte das eigentliche Abenteuer endlich beginnen. Stattdessen saß ich den ganzen Tag nur im Pool.
Aber genau da lag das Problem: der Pool – und sonst nichts. Das Einzige, womit ich mich auseinandersetzen musste, war der schnellste Weg von meinem Bett zum Pool und zurück. Nicht, weil es nötig gewesen wäre, morgens eine Liege zu reservieren, denn zusammen mit dem anderen Deutschen war ich der einzige Gast im Hostel. Nein, ich hatte aufgrund der aggressiven, blutsaugenden Moskitos ein Bedürfnis, schnellstmöglich zwischen Wasser und Schlafgemach zu wechseln. Sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, gerade dann am aktivsten zu sein, wenn die Sonne unterging und man den Pool verließ, um die Reste seiner verschrumpelten Haut in wärmenden Stoff zu wickeln.
Das Resultat blieb jedoch dasselbe: Nur zwei Tage nach meiner abenteuerlichen Ankunft im El Salvador fühlte ich mich wie ein Pauschalurlauber auf Gran Canaria. Etwas musste sich ändern. Nur was? Das Abenteuer genügte mir nicht, doch gleichzeitig wuchs es mir über den Kopf. Ich war einsam, wollte aber dennoch endlich losreisen. Ich musste feststellen, dass ich vor der Abreise keine Ahnung gehabt hatte, wie sich eine solche Reise anfühlen würde.
* * *
Am dritten Tag geschahen zwei erwähnenswerte Dinge. Zum einen rief ein Mitarbeiter des Flughafens an. Die Frau des Hostelbesitzers – eine nette junge Einheimische – ging an den Apparat.
»Sie haben eine gute und eine schlechte Nachricht«, rief sie mir zum Pool herüber. Eine schlechte Nachricht? Hoffentlich war das Gepäck noch vorhanden. Nervös eilte ich zu ihr.
»Sie haben dein Gepäck gefunden«, sagte sie strahlend.
»Und was ist die schlechte Nachricht?«, fragte ich misstrauisch.
»Nun ja«, sagte sie. »Es ist in Mexiko.«
In Mexiko? Bei meinem Umstieg in Panama mussten die Mitarbeiter etwas verwechselt haben. Vollidioten, dachte ich grimmig. Ich fand, ich durfte das denken, denn ich legte auch an meinen eigenen Handlungen einen strengen Maßstab an. Manch einer würde behaupten, ich sei ein Streber. Ich hatte immer die besten Noten, trieb täglich Sport, verstand mich mit den Lehrern. Und ich hätte nie im Leben ein Gepäckstück, auf dem San Salvador steht, nach Yucatán geschickt. Vollidioten! Immerhin versprachen sie, es mit dem nächsten Flieger nach El Salvador zu bringen und mir zuzustellen.
Das zweite erwähnenswerte Ereignis war die Ankunft von Clara. Clara war meine beste Freundin aus Studienzeiten, die zufällig für die ersten paar Wochen in der Nähe war, wenn man denn Los Angeles als Nähe bezeichnen wollte. Sie hatte Lust auf einen Abstecher nach Süden, und ich war ehrlich gesagt froh, dass ich mein Jahr allein zu zweit beginnen konnte. So viel zu meinem gespaltenen Verhältnis zu dieser Reise. Ich wollte das Abenteuer. Ich wollte allein reisen. Aber insgeheim schlackerten meine Knie vor Angst. Also hatte ich Clara für die ersten drei Wochen eingeladen, mit mir durch Mittelamerika zu reisen. Sie gesellte sich zu mir in den Pool und war fest entschlossen, ihren Rückstand an Cuba Libres noch am selben Tag aufzuholen.
Clara gehört zu der Sorte Frauen, die um vier Uhr früh, wenn der Club zumacht, noch darauf besteht, vor dem Schlafengehen eine Rum- oder Schnapsverköstigung in ihrem Wohnheim durchzuführen. Ich habe mehr selbst kreierte Toffifee- und Nutella-Eierliköre bei ihr zu mir genommen als vollwertige Mahlzeiten und war daher nicht überrascht, dass sie zur Begrüßung einen 57-prozentigen Schnaps mitbrachte. Clara war da, und mein Gepäck kam am nächsten Morgen! Ich war unendlich erleichtert, wegen beidem. Und dennoch hätte ich niemals zugegeben, dass ein Pauschalurlaub mit Freunden auch seinen Reiz hat. Es rief das Abenteuer! Endlich konnte die Reise beginnen!