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Shopping-Tour

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Über ein halbes Jahr führte ich mit meiner späteren Freundin eine offene Beziehung. Wir trafen uns drei- oder viermal pro Woche, lachten gemeinsam, tranken gemeinsam, gingen mit gemeinsamen Freunden weg. Es war wunderbar. Eigentlich brauchte ich längst nichts anderes mehr. Ich hatte mich seit Ewigkeiten mit keiner anderen Frau getroffen. Ich war zufrieden, so wie es war.

Warum also warten? Warum sich dem gemeinsamen Glück verweigern? Als sie mir diese Fragen stellte, fand ich darauf selbst keine schlüssige Antwort. Also stimmte ich zu: Ab sofort waren wir ein Paar. Doch ab dem Moment, wo es offiziell wurde, knallte bei mir eine Sicherung durch. Ich fühlte mich übertölpelt, so als hätte ich mich zu der Beziehung breitschlagen lassen. Ich hatte meine Prinzipien gehabt, ich hatte vor Monaten klargestellt, dass ich keine Beziehung wollte. Und nun hatte ich meine Prinzipien verraten. Das Ergebnis war, dass ich mich weniger bei ihr meldete, wir uns weniger sahen als jemals zuvor, und wenn wir es taten, war ich schroff und abweisend. Ich konnte mir selbst nicht erklären, woran das lag. Ich war eben ein Einzelgänger und die Beziehung nahm mir die Luft. Deshalb behandelte ich meine Freundin schlecht. Anstatt für sie da zu sein, ging ich lieber mit Freunden feiern. Das Flirten mit anderen Frauen wurde fast zwanghaft, als müsste ich das tun, um gegen die Ketten der Beziehung zu rebellieren. Obwohl ich ein halbes Jahr lang zufrieden mit dem gewesen war, was sich zwischen uns beiden entwickelt hatte, verabscheute ich es nun. Um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, entschied ich mich, vor einer für sie wichtigen Prüfung abzuhauen. Anstatt sie zu unterstützen, schloss ich mich ein paar Kumpels für einen kurzen Urlaub an. Als ich zurückkehrte, verließ sie mich.

Das war erst letzten Sommer gewesen. Als ich mir Dave und Evelyn so ansehe, muss ich daran zurückdenken, und es bleibt eine stille Bewunderung in mir für die Art und Weise, wie sie miteinander umgehen. Ich könnte das nicht, muss ich mir eingestehen. Ich bin eben ein Einzelgänger.

Die Frage, wo das in meinem Leben hinführen soll, verdränge ich, und aktuell beschäftige ich mich sowieso lieber mit einem anderen Problem: Kann man alles, was man zum Leben benötigt, in einer Woche kaufen? Ich stelle mich der Herausforderung, es herauszufinden. Noch am selben Tag fertige ich eine Liste an. Zunächst einmal benötige ich ein Fahrrad. Wo bekomme ich das her? Neuseeland ist ein so kleiner Markt, dass sich eBay noch nie die Mühe gemacht hat, sein Geschäft bis hierhin auszuweiten. Zum Glück hat ein findiger Kiwi das Modell kopiert. Die Seite nennt sich Trademe und funktioniert im Grunde genauso. Bereits zwei Tage später bin ich stolzer Besitzer eines Citybikes der Marke Marin. Die Bremsen funktionieren, die Gangschaltung ist schön griffig und der Sattel bequem. Nur ein Gepäckträger fehlt mir noch, ansonsten ist das Rad einsatzbereit. Gerade einmal siebzig Euro bezahle ich für meinen zukünftigen Gefährten.

Ein Paket mit einer Radhose und zwei Trikots ist bereits aus Deutschland eingetroffen. Mein Tacho ist ebenfalls dabei. Ich hatte meine Mutter darum gebeten, mir die Sachen zu schicken, als ich den Entschluss gefasst hatte, Neuseeland mit dem Fahrrad zu bereisen. Das ist noch nicht mal zwei Wochen her. Ein Hoch auf die moderne Logistik! So muss ich mir nicht unnötigerweise alles neu kaufen.

Einen Schlafsack habe ich bereits. Ich habe ihn in Bolivien in La Paz gekauft. Es steht North Face drauf, doch es müsste wohl eher North Fake heißen. Angeblich sind Daunen drin, doch beim ersten Test im Haus piken die Federn verdächtig und drücken durch das Gewebe in meinen Rücken. John bringt mir Gewissheit. Er ist der Ehemann der ältesten Tochter von Dave und Evelyn und arbeitet in einem Outdoorladen in Hamilton.

»North Face bringt sein Emblem immer am Boden der Hülle an. Dein Schlafsack hat es an der Seite. Siehst du?«

Ich sehe es zähneknirschend. Der Schlafsack hat genauso viel gekostet wie das Fahrrad, war aber wohl im Vergleich leider kein so tolles Schnäppchen. Egal, im Augenblick sind die Nächte ohnehin sehr mild. Ich werde mich nur lose damit zudecken müssen.

John übernimmt sogleich die persönliche Beratung meiner Vorbereitungen. Er verschafft mir einen kleinen Rabatt auf alle Produkte in seinem Laden, und so kaufe ich als Nächstes eine Gaskartusche und einen Campingtopf bei ihm. Einen schraubbaren Gaskocheraufsatz für die Kartusche schenkt er mir. In derselben Mall wie Johns Outdoorladen befindet sich auch ein Fahrradgeschäft. Dort kaufe ich einen Gepäckträger und einen Helm für kleines Geld. Was brauche ich noch?

»Das hier!«, sagt John und hält mir grinsend ein Stück Plastik hin. An dem einen Ende ist es geformt wie ein Löffel, an dem anderen sieht es aus wie eine Gabel, nur dass der linke Spieß zusätzlich wie ein Messer gezackt ist.

»Was zur Hölle ist das?«, frage ich.

»Ein spork knife! Ein Messer mit einer Mischung aus spoon und fork

Ich weiß was das ist, ich habe es auch schon mal in Deutschland gesehen. Bei uns heißt das Göffel. Eine Mischung aus Gabel und Löffel. Ich hatte nur nicht gedacht, dass irgendwer so etwas wirklich verwenden würde.

»Das meinst du nicht ernst«, wehre ich mich.

»Du wirst es lieben«, sagt John und zieht es einfach mit über den Scanner. »Kostet auch nur drei Dollar.«

Da ich zugeben muss, dass ich mir bislang keine Gedanken über mein Besteck gemacht habe, verzichte ich auf weiteren Protest. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass das Teil wirklich praktikabel ist.

Als Nächstes benötige ich Satteltaschen. Ein paar Tage zuvor, bei einem Glas Wein auf dem Balkon meiner Bekannten in Santiago de Chile, habe ich schon mal danach gegoogelt. Ich fand welche aus Tarpoil, absolut regendicht und mit reichlich Volumen, für nicht mal 60 Euro das Paar. An meinem dritten Tag in Neuseeland kommen sie an. Gerade rechtzeitig, um mit ihrer Hilfe ein paar große Besorgungen zu machen.

Denn was ich noch benötige, ist ein Zelt. Da ein Zeltaufbau allein mit Schwierigkeiten verbunden ist, suche ich ein Wurfzelt, das sich praktisch von allein aufbaut. Wieder werde ich bei Trademe fündig. Ein Typ aus England, der nach einem Jahr Work and Travel wieder nach Hause muss, verscherbelt seinen gesamten Hausrat. Er schenkt mir auch gleich noch eine Isomatte. Wunderbar!

»Für drei Dollar kannst du auch gern diese selbstaufblasende Matte haben«, fügt er hinzu.

»Neeee, danke«, grinse ich und bleibe bei der kostenlosen Version. Drei Dollar für ’ne Isomatte! Pah! Ich muss ja schließlich die Kosten für den Schlafsack wieder reinholen. Ich packe beides in meine neuen Satteltaschen und fahre zurück nach Ngāruawāhia.

Am Point gönne ich mir eine Pause. Der Point ist ein kleiner hübscher Park auf der Landzunge, wo der Waipa River in den Waikato fließt, mitten in Ngāruawāhia. Der Waikato ist der längste Fluss des Landes, quasi der Rhein von Neuseeland. Mit gut 400 Kilometern ist er jedoch deutlich kürzer und gleicht in der Breite auch höchstens dem Neckar. Trotzdem, als ich hier zur Schule ging, fanden wir es immer toll, einen so großen Fluss mitten im Ort zu haben.

Rechts sehe ich die große, gusseiserne Brücke, über die der Highway One den Waikato kreuzt. Als Schüler war ich jeden Morgen über sie zur Schule gelaufen und jeden Nachmittag zurück. An heißen Sommertagen waren wir von der Brücke in den Fluss gesprungen. Zehn Jahre ist das jetzt her, und auch heute spielen ein paar Schüler an derselben Stelle.

Im äußersten Dreieck dieses Parks, beinahe schon im Wasser, steht eine Bank. Hier lasse ich mich nieder. Zufrieden strecke ich die Glieder von mir. Auf der anderen Flussseite, ein paar Hundert Meter stromabwärts, erkenne ich tatsächlich das alte Haus, in dem die Familie Dunway und ich damals wohnten. Es steht unverändert an der Hügelkette außerhalb Ngāruawāhias. Zehn Jahre, denke ich. Die Zeit war mir lebhaft in Erinnerung geblieben, und doch wurde diese mit den Jahren surreal, als wäre das, was ich damals erlebte, in einer anderen Welt geschehen. Und nun bin ich wieder hier und alles kehrt zurück.

Ich bewohnte damals mit zwei meiner Gastbrüder einen Baucontainer auf der anderen Seite des Hofs. Platz für einen Schreibtisch war in dieser Bude nicht mehr, denn wir teilten uns das Zimmer mit unserem gesamten Vorrat an Emufleisch, der in einer zwei Kubikmeter großen Kühltruhe lagerte. Also verbrachten wir die meiste Zeit draußen im Garten – oder eben am Fluss. Die Familie hatte ein Kanu, mit dem wir den kleineren, verwunschenen Waipa River erkundeten. Doch das Highlight war das Motorboot, das Dave in der kleinen Scheune lagerte. An einem warmen Sommertag ließen wir es zu Wasser und drehten unsere Runden auf dem Fluss. Direkt vor dem Point, da wo er am breitesten war, ließen wir einen Schwimm-Donut zu Wasser und banden ihn hinten ans Heck. Einer nach dem anderen klammerten wir uns an die Schwimmhilfe, ließen uns von Dave über den Waikato ziehen, jauchzten und johlten, wurden übermütig und begannen uns aufzurichten, bis Dave vor dem Point eine scharfe Kurve mit dem Boot einschlug. Der Donut schoss am Boot vorbei, das Seil spannte sich bis fast zum Zerreißen und die Geschwindigkeit von uns armen Würmern wurde auf ein Vielfaches des Bootes beschleunigt. Kein Einziger von uns vermochte dieser Kurve standzuhalten, die Zentripetalkraft schleuderte uns über die Wasseroberfläche, über die wir schlitterten wie ein glatter Stein, bis wir prustend im Waikato versanken.

Mit einem Lächeln im Gesicht erinnere ich mich an diesen Tag, sehe mich selbst, wie ich, im Fluss treibend, darauf warte, dass mich das Boot wieder einholt, und wie ich trotz der blauen Flecken und schmerzenden Glieder vor Freude laut quieke. Es war eine glückliche Zeit damals, ich lebte im Hier und Jetzt, hatte keinen Grund, mir Sorgen über die Zukunft zu machen. Mit dem Erwachsenwerden geht das wohl ein Stück weit verloren, denke ich versonnen und blicke auf das Haus in der Ferne. Der Ernst des Lebens klopft an die Tür. Doch zum Glück bin ich vorher noch mal abgebogen, bin nun wieder hier und erlebe das alles von Neuem. Der Ernst des Lebens kann warten. Ich bin zurück im Hier und Jetzt.

Hier und Jetzt, denke ich, und reiße mich aus meiner Nostalgie. Es ist bald so weit. Es sind erst vier Tage vergangen, und ich habe im Grunde alles beisammen bis auf ein paar Kleinigkeiten. Am Abend kommt John vorbei und wir überlegen, was zu meiner Ausrüstung noch fehlt. Eine Warnweste, fordert John. Neuseeländische Autofahrer sind seiner Meinung nach ziemlich durchgeknallt. Mich überzeugt letztlich das Argument, dass das Straßennetz des Landes ziemlich dünn ist und einspurige Straßen vom Radfahrer bis hin zum Milchtruck gemeinsam genutzt werden. Da ist es vielleicht nicht verkehrt, wenn mich der Fernfahrer bereits von Weitem erkennt. Auch wenn’s albern aussieht. Also fahre ich am nächsten Tag noch mal in die Mall, in der John arbeitet. Im Ein-Dollar-Shop finde ich die Warnweste und kaufe gleich noch ein paar Expander zum Fixieren meiner Ausrüstung. Im Fahrradgeschäft kaufe ich Flickzeug, einen Ersatzschlauch und zwei Trinkflaschen. In der Buchhandlung nebenan erstehe ich einen Straßenatlas. In einem Baumarkt kaufe ich eine Plane, um bei Regen wahlweise mich oder mein Fahrrad abzudecken.

»Ich glaub’, ich hab’s!«, sage ich am Abend zu John, als er mich bei den Dunways besucht. »Ich glaub’, es kann losgehen!«

»Ich hab noch was für dich«, sagt er und zieht einen Lenkeraufsatz aus dem Kofferraum. Es ist so ein Gestell, wie es Triathleten benutzen, um windschnittiger zu sein. Vielleicht ist das gar keine schlechte Idee. Jedenfalls besser als die Sache mit dem Göffel.

»Das ist schon ein toller Plan, den du hast«, murmelt John, während wir den Lenkeraufsatz gemeinsam an meinem Fahrrad montieren. »Einfach mal so aufs Rad steigen, um die Welt zu erkunden. Vielleicht sollte ich das auch mal machen.«

»Absolut«, nicke ich bekräftigend. »Das wird ein großartiger Trip.« Ich frage mich, warum er es nicht einfach tut. Immerhin bin ich um die halbe Welt geflogen, um sein Land zu bereisen, und er hat das Paradies vor seiner Haustür. Andererseits, fällt mir auf, bin ich selbst auch noch nie auf die Idee gekommen, Deutschland mit dem Fahrrad zu bereisen – und wer weiß, vielleicht kommen jedes Jahr viele Menschen zu uns, um genau das zu tun. Vielleicht macht uns der Alltag blind für die Möglichkeiten, die sich uns bieten. Vielleicht sind wir so in unserem Trott gefangen, dass es uns unmöglich erscheint, aus ihm auszubrechen. Je länger wir erst mal fest im Leben stehen, umso schwerer wird es wohl, neue Horizonte zu entdecken.

Ich sehe John an und weiß, dass er es nicht tun wird. Nicht, weil er zu faul oder zu feige für so eine Tour wäre. Sondern weil er einen Job, eine Frau und ein Haus hat. All das habe ich nicht, und ich schätze mich glücklich darüber. All das wird auf mich zukommen, wenn ich nach Deutschland zurückkehre. Doch im Augenblick bin ich so froh wie noch nie, dass ich den Schritt gewagt habe und zu dieser Reise aufgebrochen bin.

»So ganz allein würde ich das aber nicht machen«, sagt John. »Und meine Frau steht, glaube ich, nicht auf so was.«

»Ich reise gern allein«, entgegne ich. »Allein ist man freier. Da kann ich spontan entscheiden, was ich mache. Wie weit fahre ich noch? Wann mache ich eine Pause? Das sind Fragen, die ich mir niemals stellen muss.«

»Wohin fährst du zuerst?«, wechselt John das Thema.

»Ich will zunächst eine Runde über die Coromandel-Halbinsel drehen. Die liegt nicht allzu weit im Norden von hier. Und da ich anschließend vorhabe, nach Süden weiterzufahren, hätte ich sogar die Möglichkeit, noch mal hier vorbeizuschauen, falls mir auffallen sollte, dass ich etwas vergessen habe.«

»Ist hügelig da«, bemerkt John. »Aber sehr schön.«

Ein letztes Mal schlendere ich durch den Garten, spiele mit den Kindern, mache ein paar Yogaübungen und schlafe in diesem herrlichen Kingsize-Bett, dass mir Evelyn und Dave überlassen haben. Ein letztes Mal spiele ich »Super Mario« auf dem Laptop. Mein Abenteuer kann losgehen. Ich rechne zwar noch immer nicht mit einer Prinzessin an seinem Ende, doch ich bin trotzdem gespannt, was mich erwartet. Ein letztes Mal streichle ich die Hunde, füttere die Schweine und backe einen Kuchen als Dankeschön.

Dann bin ich bereit. Es ist der sechste Tag nach meiner Ankunft in Neuseeland. Sechs Tage hat es gedauert, um alles zu besorgen, was ich zum Leben brauche. Nun packe ich alles, was ich besitze, in zwei Satteltaschen und meinen Rucksack. Die Expander halten alles an Ort und Stelle. Der Helm passt. Die Warnweste ist viel zu groß. Die Radhose kneift im Schritt. Ich werde mich daran gewöhnen.

Ich mache ein letztes Foto mit Evelyn, Dave und ihren Kindern vor dem Haus. Dann schwinge ich mich in den Sattel. Es kann losgehen.

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