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Schreie im Sturm

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Es ist kalt. Ich friere an den Fingern. Die unerbittliche Westküste von Neuseeland schlägt mir gnadenlos ins Gesicht. Mühsam trete ich dem nächsten Anstieg entgegen. Im wahrsten Sinne des Wortes: Ich trete in die Pedale. Erschöpft hebe ich die Hüfte aus dem Sattel, dabei will ich nichts mehr als eine Pause. Doch bis zur nächsten Stadt wird es noch ein paar Tage dauern. Meine Vorräte geben mir vor, wann ich dort ankommen muss. Ich muss. Warum tue ich mir das an?

Jammern bringt mich auch nicht weiter. Also beiße ich die Zähne zusammen und trete weiter in die Pedale. Im gleichen Maße, wie es bergauf geht, geht es mit meiner Stimmung bergab. Die nächste Windbö reißt mich beinahe in den Straßengraben. Das schwere Gepäck zerrt mich zurück. Die Muskeln am unteren Rücken sind kalt und schmerzen. Die Beine sind taub vom ewigen Kurbeln der Pedale. Und mein Kopf – nun ja. Ich habe das Gefühl, er könnte mal eine Pause gebrauchen.

Als ich den höchsten Punkt erreiche, reißt für einen Moment die Wolkendecke auf. Ich schieße den Hang hinab und erinnere mich für einen Augenblick, dass die Gleichung auch andersrum funktioniert: Wenn ich bergab fahre, geht es mit der Stimmung bergauf. Ich erkenne wieder, warum ich hier bin, warum ich seit sechs Wochen auf den Straßen Neuseelands lebe. Und ich muss an den Anfang meiner Reise denken, die ich im Norden des Landes begann, als die Tage noch lang und die Nächte mild waren. Vor meinem geistigen Auge sehe ich die Farnwälder der Coromandel-Halbinsel und die saftigen Ebenen von Waikato. Ich erinnere mich an die Legenden der Maori um ihre Vulkane und an die Naturwunder der Nationalparks. Momente des Glücks schießen mir in den Kopf, als ich am Fuß des Hügels ausrolle. Erinnerungen an die Menschen, die ich kennenlernte, und über die geheimen Plätze, die ich fand. Und all dies erarbeitete ich mir mit der Hilfe eines einfachen Stadtfahrrads und der Kraft meiner Beine. Das sind doch genug gute Gründe, sich das anzutun. Oder etwa nicht?

Ich überlege kurz, ob ich eine Pause einlegen soll, doch wozu? Ich bin ohnehin schon am Schwitzen und die Wegstrecke vor mir wird nicht kürzer, wenn ich absteige. Also fahre ich weiter. Und kann die Frage nach dem Sinn dieser Reise dennoch nicht ganz abschütteln.

Vor weniger als einem halben Jahr war ich Student des angesehenen Karlsruher Instituts für Technologie. Während ich meine Diplomarbeit anfertigte, erlebte ich einen letzten glorreichen Sommer zum Abschluss einer wunderbaren Studienzeit. Das Leben sah nicht schlecht aus von diesem Standpunkt. Im Herbst durfte ich mich Ingenieur der Elektro- und Informationstechnik nennen. Ich wollte im Bereich der erneuerbaren Energien einen Job finden. Ich hatte all meine Fächer darauf ausgerichtet: Ingenieur im Bereich der erneuerbaren Energien. Ein Beruf mit Zukunft, für eine bessere Zukunft für alle. Was kann es Besseres geben als eine Beschäftigung, der man aus Überzeugung nachgeht? Ich jedenfalls weiß nichts Besseres.

Und trotzdem hielt mich etwas davon ab, mich anschließend um diese Zukunft zu bemühen. Irgendetwas in meinem Inneren zog mich in die andere Richtung. Ich wollte noch mal weg. Erst einmal um die Welt, und dann würde ich schon so weit sein, dachte ich. Mit dem Rucksack durch Mittel- und Südamerika und dann – mal sehen. Denn sie würde schon nicht weglaufen, meine Zukunft. Ich konnte damals ja nicht ahnen, dass ich nur wenige Monate später mein gesamtes Hab und Gut auf einem Gepäckträger durch Neuseeland transportieren würde.

Doch da bin ich nun. Hinter mir ein Hang und vor mir der nächste. Zu meiner Rechten rollen die Wellen der Tasmanischen See so wild herein, dass jeder Schlag auf die Küste wie Donner zu mir heraufrollt. Links verstecken sich die höchsten Gipfel der Südalpen im Nebel. Im ständigen Wechselspiel der Wolken wirken die steilen Hänge wie das Tor zu einer anderen Welt. Wobei die schroffe Schönheit der Westküste mich heute nicht berühren kann. Zumindest dringt sie nicht bis in meine Seele vor, nur an meinem Fahrrad rüttelt und zerrt sie mit ihren Elementen, als wollen mich diese verschlingen und nie wieder loslassen. Die Schönheit berührt mich nicht, aber sie wirft mich um.

Jetzt beginnt es auch noch zu regnen. Doch lieber fahre ich durch den Regen, als dass ich wie ein begossener Pudel am Straßenrand stehe. Meine Regenjacke habe ich ohnehin schon an, also fahre ich einfach weiter. Es ist die einzige Jacke, die ich dabeihabe. Ihre Nähte lösen sich auf, die Versiegelungen haben sich schon lange verabschiedet, und trotz der Kälte klebt sie an meinem verschwitzten Rücken, denn sie ist so atmungsaktiv wie ein Fisch in der Wüste.

Jetzt schwitze ich sie voll, während von oben der Regen auf mich herunterprasselt. Wasser von beiden Seiten. Und dieser Berg hat es in sich. Seit Wochen habe ich das Gefühl, dass ich nichts anderes tue, als Berge zu bezwingen. Ich bin inzwischen etwa 2000 Kilometer gefahren und bewältige mühelos 100 Kilometer am Tag. Flaches Terrain ist rar in diesem Land, und ich bin es gewohnt, dass Anstieg auf Anstieg folgt. Aber dieser hier schafft mich. Wieder drängt sich mir unweigerlich diese Frage auf: Warum tue ich mir das an?

Ich könnte längst gutes Geld verdienen. Drei Monate Reisen hätten vielleicht doch genügt, warum bin ich noch immer unterwegs? Ich könnte den Frühling in Deutschland genießen. Doch anstatt mich an den länger werdenden Tagen der Nordhalbkugel zu erfreuen, kämpfe ich mich durch den neuseeländischen Herbst. Ich lebe auf der Straße. Nachts idealerweise neben ihr oder auch darunter, wenn sich eine schützende Brücke findet. Ich wasche mich in Flüssen und koche mein Essen auf einem wackeligen Campinggerät. Wenn ich durch eine größere Stadt fahre, stocke ich meine Vorräte auf. Wenn ich mal mit Menschen ins Gespräch komme, bin ich nach kurzer Zeit heiser, denn meine Stimmbänder haben sich längst an das Schweigen gewöhnt. Und wenn ich dann mal die Gelegenheit finde, mit der Welt, die ich zu Hause zurückließ, in Kontakt zu treten, dann lese ich von Studienfreunden, die längst die Weichen für ihre Karriere gestellt haben. Darum müsste ich mich auch mal kümmern. Ein Einstieg bei einem der großen Energieversorger wäre vielleicht nicht schlecht. Warum zögere ich es hinaus, indem ich den Arsch der Welt mit meinem Arsch auf dem Fahrrad erkunde?

Nach dem Abschluss des Diploms erschien es mir wie die letzte Gelegenheit vor der Rente, noch mal ein Abenteuer zu erleben. Einmal um die Welt, dem Sommer hinterher. Sommer, denke ich sehnsüchtig. Das war der Plan gewesen. Was mache ich also im neuseeländischen Herbst ohne eine ordentliche Jacke, auf einem Fahrrad in diesem unwirtlichen Landstrich?

Ich kämpfe gegen den Wunsch an, das hier alles abzubrechen. Das Fahrrad die Klippe hinunterzustoßen und zum nächsten Flughafen zu trampen. Mich dort in ein warmes Hotel einzubuchen und am nächsten Tag nach Hause zu fliegen. Ich könnte für ein paar Monate bei meinen Eltern unterkommen und bald mein eigenes Geld verdienen. Endlich finanziell unabhängig sein. Endlich eine eigene Wohnung haben. Endlich arbeiten.

Nein!, denke ich unvermittelt. Das will ich nicht!

Mit einem Mal wird mir klar, dass diese Reise viel mehr ist als ein letztes großes Abenteuer. Ich will kein Ingenieur sein. Ich will keinen Job im Büro. Ich will nicht von jetzt an bis zur Rente jeden Tag am Schreibtisch sitzen und immerfort dasselbe machen. Ich will nicht nach Hause zurück!

Plötzlich beginne ich zu schreien. Ich schreie gegen den Regen, gegen den Berg, ich schreie dieses Leben in Grund und Boden. Wieder und wieder platzt es aus mir heraus, dass der Regen erschrocken zurückzuweichen scheint. Der gesamte Frust, der sich in mir aufgestaut hat, bahnt sich seinen Weg nach oben. Ich schreie, bis mir die Luft zum Radfahren fehlt. Schreie im Nirgendwo, die niemand hört außer ich selbst. Die Wolken verschlucken den letzten Ton, bevor er vom Berg widerhallt. Dieser verfluchte Berg, der nicht enden will, diese durchnässte Kleidung, die mich und meine Stimmung nach unten zieht. Und das Leben, das mich zu Hause erwartet. Darum, denke ich bei mir. Darum tue ich mir das an.

Doch diese Erkenntnis bringt keine Erleichterung, im Gegenteil. Mit einem Mal spüre ich eine riesige Panik vor meiner Rückkehr. Und die Frage nach dem Warum weicht der Frage nach dem Wie. Wie konnte es nur so weit kommen?

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