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Der Zahn ist weg

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»Er ist weg!«, schrie ich panisch. »Der Zahn ist weg!«

Pete lachte, als er zu mir herüberpaddelte. Es war dasselbe breite, schiefe Lachen, das er im Grunde allen Sorgen entgegensetzte.

»Das ist mir auch schon passiert«, grinste er.

Verdammt! Das erklärte vermutlich, warum er so schiefe Zähne hatte. Wieder fuhr ich mit der Zunge durch meinen Mund. Da, wo mein linker Schneidezahn sitzen sollte, klaffte ein tiefes Loch. Es war Zeit für Panik! Waaaaah!

In einem albernen Versuch, die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen zu finden, tauchte ich unter. Das Meer zerrte an mir, obwohl heute eigentlich ein ruhiger Tag war, doch ich befand mich nun mal mitten in der Brandung. Ich erreichte den Grund und füllte meine Hände mit Sand. Selbst in meiner Panikattacke kam ich mir dämlich vor, weil ich mich mit den Kontaktlinsen ohnehin nicht traute, unter Wasser die Augen zu öffnen. Verzweifelt stieß ich das Board von mir, als ich wieder auftauchte. Verdammtes Surfbrett!

Pete lachte wieder. »Nice smile!«, grinste er.

Keine Ahnung, woher er seine Gelassenheit nahm. Aber er hatte ja auch nicht gerade beim Surfen das Kunststück vollbracht, sich selbst einen Zahn auszuschlagen. Er war mein Kunde, den ich täglich mit zum Surfen nahm, und ich war der Clown, der ihn unterhalten durfte. Offenbar fühlte er sich blendend unterhalten. Aufgelöst paddelte ich hinaus zum Boot, kletterte an Bord und atmete erst mal durch. Wie konnte das jetzt schon wieder passieren?

Ich war dem Aufruf eines Newsletters gefolgt, der ohne mein bewusstes Zutun seinen Weg in mein E-Mail-Postfach gefunden hatte. Ein Amerikaner, der vor der Küste Panamas auf einer einsamen Insel ein Surfcamp bauen wollte, suchte freiwillige Helfer. Kost, Logis und Surfen gegen etwas Arbeit. Das Camp sollte etwas abseits der Panamericana entstehen, in der Region Quebrada de Piedra vor der Halbinsel an Panamas Südküste. Eine Region, in die man außer beim Besuch dieses Surfcamps sonst niemals einen Fuß setzen würde. Endlich, das Abenteuer! Die Nachricht kam genau zu einem Zeitpunkt, als ich drohte, des täglichen Backpackens überdrüssig zu werden. Wenn man erst mal soundsoviele Strände erlebt hat, auf soundsoviele Vulkane gestiegen ist und soundsoviele Mayaruinen erforscht hat, verliert das ganze seinen Reiz. Ich suchte eine neue Herausforderung, einen neuen Kick. Da kam die Mail gerade recht. Ich schrieb ihm umgehend zurück.

Nur wenige Tage später kam ich an. Es existierte bereits so etwas wie ein Basiscamp in der Mangrovenzone am Ufer. Gemeinsam mit zwei englischen Schreinern und zwei amerikanischen Bauarbeitern wurde ich auf die vorgelagerte Insel gebracht und arbeitete dort für ein paar Tage. Wir schliefen in Hängematten und tranken aus einer im Inselinneren gelegenen Quelle, die eher einer Pfütze glich. Das grobe Gerüst des Restaurants war bereits errichtet worden, das Dach mit Palmwedeln gedeckt, und nun war es unsere Aufgabe, so etwas wie einen Boden zu konstruieren. Ich tat so, als wüsste ich, was ich tue, bis auch der Letzte begriffen hatte, dass ich keine Ahnung vom Handwerk hatte. In einem letzten Akt der Verzweiflung drückte man mir eine Schaufel in die Hand und trug mir auf, ein Plumpsklo zu graben. Eine Stunde später war ich keinen Fuß tief in den sandigen Grund vorgedrungen, dafür war es mir aber gelungen, den Stiel des Werkzeugs in zwei Hälften zu teilen.

Also wurde mir der Job eines Surfguides zugeteilt, der mit den Kunden, die im Basiscamp schliefen, zwei- oder dreimal täglich die Küste nach den fettesten Wellen absuchte.

Es war kein schlechtes Arrangement. Ich durfte entscheiden, an welchem traumhaften Strand dieses unbewohnten Küstenabschnitts wir surfen würden. Wir fuhren mit dem Boot raus, wann immer es die Tide zuließ, fuhren die Küste hinunter, bis wir eine schön laufende Welle fanden. Und während meine Klienten und ich unseren Spaß hatten, ankerte der Captain draußen im Meer und angelte unser Abendessen. Und es war Weihnachten. Weihnachten unter Palmen. Nie im Leben hätte ich mir vor zwei Monaten ein solches Fest erträumen können.

Hatte ich gesagt, es war nicht schlecht? Es war großartig! Bis diese Sache mit dem Zahn passierte. Es zog unangenehm an meinem offen liegenden Nerv mit jedem Atemzug, den ich tat. Ich sah meinen zwei amerikanischen Klienten zu, wie sie weitersurften, und versuchte, meine Situation einzuordnen. Ich war gemeinsam mit Pete eine kleine verwaschene Welle entlanggesurft und war an ihrem Ende vom Brett gesprungen. So wie ich es schon tausendmal gemacht hatte. Nur dieses Mal hatte sich das Brett ungünstig gedreht, als ich unter Wasser war, und deutete mit seiner Spitze genau auf die Stelle, wo ich auftauchen musste. Und als ich mit den Beinen schlug, um wieder nach oben zu kommen, spannte sich die an meinem Bein befestigte Leash. Genau in dem Moment, als ich die Wasseroberfläche durchdrang und nach Luft schnappte, schoss das Brett nach vorn. Ich sah es noch, als ich die Augen öffnete, doch ich hatte keine Chance zu reagieren. Und vorbei war es mit meinem Zahnpastalächeln. Da soll noch mal einer sagen, Wasser habe keine Balken. Hat es schon, wenn man versucht, auf einem zu surfen.

»Das hätte auch ins Auge gehen können«, scherzte unser Captain und zeigte mir stolz die zwei Fische, die er in der Zwischenzeit geangelt hatte.

Lustiger Kerl, wirklich. Ich wusste gar nicht, dass ich auch für die anderen Arbeiter den Clown gab. Was sollte ich jetzt tun? Vorsichtig tastete ich mit der Zunge nach der Lücke. Ein bisschen was war noch übrig vom Zahn, fast die Hälfte sogar. Und wenn man es genau betrachtete, lag der Nerv gar nicht frei. Nur fast. Ein Zahnrest lag noch darüber.

»Gran barbacoa esta noche!«, freute sich der Captain und schlug sogleich pantomimisch vor, wie ich mit schräg gelegtem Kopf möglicherweise auch ein wenig essen konnte.

Das hatte ich nun davon, nach unorthodoxen Abenteuern zu suchen. Ich hatte hart mit mir zu kämpfen. Sollte ich einfach ignorieren, dass meine Zunge ständig in Leere fuhr, und so tun, als fände ich das Ganze so witzig wie Pete und die anderen? Wenn man drüber nachdachte, war dieser Schönheitsfehler auch ein klein wenig cool. Extrem cool, um genau zu sein!

»Damit hast du niemals Probleme, mit Frauen ins Gespräch zu kommen«, scherzte Pete beim Barbecue am Abend und hatte damit vielleicht sogar recht. Es war jedenfalls bislang die eindrucksvollste Geschichte, die ich auf meiner Reise erlebt hatte. Ähnlich wie die Radlerin aus San Salvador hatte ich nun immer eine gute Anekdote, um ein Gespräch zu eröffnen. Sobald ich meinen Mund aufmachte, war ich die interessanteste Person im Raum. Es war kurz vor Silvester, und ich wusste von ein paar Leuten, die auf der Karibikseite von Panama feiern würden. Es wäre doch ziemlich lässig, wenn ich dort mit meiner Zahnlücke auftauchte, als gäbe es nichts Besonderes. Ich könnte Frauen anmachen und ihnen erzählen, ich sei kanadischer Eishockeyspieler oder so was. Vielleicht sprang dadurch ja sogar der eine oder andere Vorteil für mich heraus. Morgen würde ich dorthin fahren.

Ein letztes Mal setzte ich mich auf mein Bett im Arbeiterquartier und klappte das Laptop auf. Ich erheiterte meine Freunde in Deutschland, indem ich ein Foto meines Siegerlächelns auf Face-book hochlud. Dann öffnete ich unschlüssig eine Suchseite für Flüge und überlegte. Es war höchste Zeit, das nächste Ziel zu definieren. Das übernächste, um genau zu sein, denn in ein paar Wochen hatte ich einen Flug nach Peru, und ich wollte vorsichtshalber vorher einen Flug buchen, der mich von diesem Kontinent wieder wegbrachte. Ich hatte gehört, dass einige Länder bei der Einreise einen Nachweis verlangten, dass man es auch wieder verlassen würde. Also wo wollte ich anschließend hin?

Weiter nach Westen, so viel war klar. Letztlich war der einzige Flug, der für mich infrage kam, der von Santiago de Chile über Neuseeland nach Sydney, Australien. Nur wusste ich gar nicht, was ich da eigentlich sollte. Freunde hätten ursprünglich zu der Zeit in Australien sein wollen. Sie wollten dort ein Auto kaufen und ein wenig umherreisen. Denen hätte ich mich gern angeschlossen, doch sie hatten kurzfristig ihre Reisepläne abgesagt. Und allein war mir Australien schlichtweg zu teuer. Ich hatte ein Budget von fünfoder sechshundert Euro im Monat. Höchstens zwanzig Euro am Tag also. In Australien käme ich damit nicht weit, wenn ich allein reiste und in Hostels schlief.

Nachdenklich fuhr ich mir mit der Zunge durch die Zahnlücke. Für Neuseeland sah meine Prognose auch nicht viel besser aus. Zwar kannte ich das Land, da ich mit sechzehn ein halbes Jahr dort zur Schule gegangen war, und ich würde vermutlich meine Gastfamilie von damals besuchen können. Es würde sicher ein herzliches Wiedersehen geben, nach all den Jahren. Doch was dann? Das Land erschien mir zum einen viel zu teuer und zum Zweiten wie ein ziemlich langweiliges Ziel verglichen mit den Ländern, die ich bis dahin bereist hätte. Ich zögerte.

Nachdenklich betrachtete ich meine Zahnlücke auf dem Facebook-Foto. »Hui, das sieht fies aus«, hatte ein Freund daruntergeschrieben. In dem Moment poppte ein Chatfenster auf. »Kommst du klar?«, fragte mein Bruder. »Warst du schon beim Zahnarzt?«

Ziemlich negativ eigentlich, dafür, dass ich das Foto als Witz gepostet hatte. Doch mit einem Schauer erkannte ich, dass sie recht hatten. Dass ich nicht verwegen aussah, sondern so, als lebte ich unter einer Brücke. Mein Mut zur Lücke war definitiv fehl am Platz. War ich eigentlich bescheuert? Wie konnte ich das nur witzig finden? Ich würde nie wieder in einen Apfel beißen können, verdammt! Ich hatte Mut mit Übermut verwechselt und meine Furcht durch Dummheit ersetzt. Furchtsam zu sein kann dir das Leben retten. Oder ein schönes Lächeln. Ich buchte den Flug nach Neuseeland, sicher ist sicher. Und am nächsten Morgen würde ich als Allererstes einen Zahnarzt aufsuchen.

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