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Ankunft und Planung Im Hier und Jetzt

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Der Flughafen von Santiago war sauber gewesen. Groß, hell und freundlich. Chile gilt als Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen Südamerikas, und insbesondere die Geschäftszentren der Hauptstadt stehen Metropolen wie London, Paris oder New York in nichts nach. Den letzten Abend hatte ich mit meiner Bekannten bei einem guten Wein auf dem Balkon einer modernen Stadtwohnung verbracht. Das Ganze hätte ebenso gut in Europa stattfinden können.

Dennoch habe ich erst jetzt das Gefühl, die erste Welt wieder erreicht zu haben. Woran liegt es? Vielleicht am Kommerz, der mich in Form von lebensechten Trollstatuen aus den »Herr der Ringe«-Filmen begrüßt. Vielleicht auch daran, dass die Menschen wieder mehr aussehen wie ich. Oder ist es der Duft? Jedenfalls fühle ich mich gleich ein Stück weit zu Hause. Ich nehme einen tiefen Zug und reihe mich in die Schlange vor der Passkontrolle ein. Ich bin zurück, nach vielen Jahren, im Land der langen weißen Wolke. Ich bin am Ziel meiner Träume, dem wahren Grund für meine Reise, das weiß ich jetzt: Ich bin im Hier und Jetzt.

Gespannt warte ich darauf, dass sich mir die Schleusen öffnen, dass man mich einlässt ins Paradies am Ende der Welt, in meine Reise, mein Abenteuer. Im Landeanflug hatte ich im Halbschlaf die Lichter der größten Stadt des Landes betrachtet. Auckland ist groß, nicht nur für neuseeländische Verhältnisse. Mit 1,4 Millionen Einwohnern ist die Stadt so groß wie München. Flächenmäßig schlägt sie die bayerische Landeshauptstadt allerdings um das Fünfzehnfache. Dafür gibt es vor allen Dingen einen simplen Grund: Es gibt ausreichend Platz.

Als die europäischen Siedler die Stadt gründeten, errichteten sie ihre Häuser in einem Gebiet, das von mehreren Siedlungen der Māori bereits gut erschlossen war. Die geografische Lage war ideal: Weniger als zwei Kilometer trennten die beiden Küsten des Landes an der engsten Stelle voneinander. Das muss man sich mal vorstellen: Innerhalb von dreißig Minuten kann man von der Ostküste zur Westküste schlendern. Zum Brötchenholen am Sonntagmorgen mal eben das gesamte Land durchqueren.

Die Siedlung der Weißen breitete sich zügig aus und verdrängte die Māori nach Süden. Auckland wuchs aufgrund seiner geografischen Lage zum wichtigsten Wirtschaftshafen und war zwischenzeitlich sogar die Hauptstadt des Landes. Trotz des schnellen Wachstums schien es an Platz jedoch nie zu mangeln. Das veranschaulicht am besten der Besiedlungsplan nach der Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929. Damals baute die Regierung günstige Unterkünfte für bedürftige Arbeiter. Sie errichteten schlichte, einstöckige Holzhäuser auf streng eingeteilten ein viertel Acre großen Parzellen. Ein viertel Acre sind gut 1000 Quadratmeter. In Worten: tausend. Das war der Platz, der für eine Sozialwohnung vorgesehen war. Und jeder bekam ein ganzes, frei stehendes Haus. Man möge sich mal vorstellen, was man für ein Grundstück dieser Fläche in München bezahlen müsste. In Auckland hingegen werden die Stadtbilder vieler Viertel bis heute durch diese Bebauungspolitik geprägt. Das führt dazu, dass die Bevölkerungsdichte der Stadt mit 290 Einwohnern pro Quadratkilometer so dünn ist, wie die von Deutschland im Durchschnitt.

Müde räkle ich mich. Während ich mich in der Schlange langsam nach vorn arbeite, versuche ich, die vom Flug geschundenen Glieder ein wenig zu dehnen. Es geht nur langsam voran, denn die Kontrollen sind intensiv. Neuseeland hat so ziemlich die striktesten Bestimmungen, was den Import von Lebensmitteln betrifft. Ich weiß von einem anderen Reisenden, dass ein nicht deklarierter Apfelbutz in der Handtasche zu 200 Dollar Strafe führen kann. Die Einfuhr von Samen, Pflanzen und Tieren ist nur unter strengsten Auflagen zulässig. Als ich vor zehn Jahren als Schüler das Land besuchte, schickten meine Eltern in der Vorweihnachtszeit ein kleines Präsent an meine Gastfamilie. In dem Paket enthalten waren ein paar handgefertigte Strohsterne, wie man sie in Deutschland gern in den Christbaum hängt. Der Zoll hatte kein Problem damit, die Sterne durchzulassen – allerdings erst nach eingehender Hitzebehandlung. Man kann sich in etwa vorstellen, in welchem Zustand die Sterne letztlich bei uns ankamen. Die traurigen Überreste taugten dann nur noch zum Düngen des Gartens. Das Land bemüht sich, mit strengen Importbestimmungen sein einzigartiges Ökosystem vor weiteren Gefährdungen zu bewahren. Daher durchsuche ich lieber noch mal meinen Rucksack nach Butterbrotresten und Bananenschalen.

Die ersten Sonnenstrahlen des beginnenden Sommermorgens brechen durch die Glasfront am Ausgang. Langsam nähere ich mich der letzten Hürde, dem Grenzbeamten an der Passkontrolle. Der wirkt eigentlich gar nicht so mürrisch, wie es die frühe Uhrzeit und die strengen Kontrollen nahelegen würden. Ich sehe ihn lachen und feixen, und als ich endlich an der Reihe bin, strahlt er mich freundschaftlich an.

»Wo kommst du her, Buddy?«, fragt er mich enthusiastisch.

»Aus Deutschland, Sir«, antworte ich höflich.

»Jetzt gerade?«

»Nein, aus Chile.«

»Sweet.« Er nimmt meinen Reisepass und studiert aufmerksam die Stempel. »Cooler Trip, Mate. Da bist du ja ganz schön rumgekommen.« Mit jeder Seite, die er umblättert, und jedem Land, das er entziffern kann, zieht er anerkennend die Augenbrauen ein Stückchen höher. Sieben Länder habe ich in weniger als vier Monaten bereist. »Und warum kommst du jetzt nach Neuseeland?«, fragt er schließlich.

»Urlaub«, sage ich und bemühe mich um ein höfliches Lächeln. Irgendwie macht der Typ den Anschein, als sei er selbst gerade im Urlaub. Als sei die Kontrolle Einreisender das Erfüllendste, was man sich in seinem Leben ausmalen kann. Wie kann man so früh am Morgen nur so euphorisch sein?

»Abgefahren! Unglaublich! Und was hast du so vor hier bei uns? Ein paar Lefts in Raglan catchen? Ein paar Tubes reiten? Hang Ten? Oder vielleicht einen Haka mit den Hobbits tanzen? Kiwis auf Stewart Island suchen? Oder hoch nach Northland und kiffen, bis du Sterne siehst?« Er haut einen weiteren Stempel in den Pass und reicht ihn mir zurück. Den Stempel. Ich darf rein. Dennoch bleibe ich für den Augenblick zurückhaltend.

»Wie meinen?«, frage ich vorsichtig.

»Das Zeug wächst da wild.« Er zwinkert verschwörerisch. »Ich hab bald Schichtende. Lust, einen durchzuziehen?«

Manchmal bereue ich es, dass ich keinen Kaffee trinke. Einen Moment später bin ich mir schon nicht mehr so sicher, ob er das eben wirklich gesagt hat. Möglich, dass mir meine Müdigkeit einen Streich spielt oder mein Hörverständnis, zumal ich gerade erst das Gefühl hatte, einigermaßen Spanisch zu sprechen. Die Umstellung auf Englisch gelingt mir wohl doch nicht auf Knopfdruck. Grundsätzlich bestätigt sich aber die Erinnerung an meinen letzten Aufenthalt: Kiwis – so nennen sich die Einwohner Neuseelands augenzwinkernd selbst – sind entspannte Menschen. Selbst Sicherheitsbeamte am Flughafen.

Er schickt mich noch durch eine Wanne mit Desinfektionsmittel, um die Keime Südamerikas von den Sohlen zu waschen, und dann bin ich offiziell im Land. Erneut öffnet sich die Schleuse, und der klimatisierte Flughafen wirft mich in die ersten Sonnenstrahlen eines herrlichen neuseeländischen Sommermorgens. Unwillkürlich verharre ich einen Moment und atme tief ein. Dieser Duft! Neuseeland hat diesen ganz bestimmten Duft, den ich noch von vor zehn Jahren in der Nase habe. Sofort spüre ich eine seltene nostalgische Rührung in mir. Erinnerungen an meine Zeit als Austauschschüler übermannen mich. Wie ich mit sechzehn, vor nunmehr zehn Jahren, ängstlich und allein aus dem Flughafen trat, nur mit einem T-Shirt der Organisation als Erkennungszeichen. Und wie herzlich mich dieses Land damals aufnahm, durch die Leitung des Austauschprogramms, mit wortwörtlich offenen Armen. Sofort sind diese Empfindungen wieder da. Ich bin wieder da. Herrlich!

Vielleicht haben auch nur ein paar findige Marketingstrategen diese wohlriechende Akazienart in die Flughafenauffahrt gepflanzt, um eine emotionale Verbindung mit der Einreise herzustellen. In jedem Fall katapultiert mich mein olfaktorisches Gedächtnis um zehn Jahre zurück.

Derselbe Grund, der mich heute hierherführt, trieb mich auch damals schon an: Ich wollte schon immer alles ein wenig extremer machen als die anderen. Daher entschied ich mich gegen einen Auslandsaufenthalt in den USA und wählte das am weitesten entfernte Land der Welt. Das war noch vor dem ersten »Herr der Ringe«-Filme. Bevor Neuseeland in deutschen Kinosälen in Werbespots mit den landschaftlichen Highlights des Landes warb. Ich kannte damals niemanden, der jemals so weit gereist war. Niemanden, der je in Neuseeland gewesen wäre. Und ich hatte völlig falsche Vorstellungen von dem Land. Mein naives sechszehnjähriges Ich verband es mit dem Süden, und im Süden war es warm. Natürlich hatte ich schon mal was vom Äquator gehört und von den Wendekreisen der Sonne. Dennoch: Die Südsee lag nicht weit entfernt von Neuseeland, zumindest von Mitteleuropa aus betrachtet, und Australien war gleich um die Ecke. Ich rechnete also mit subtropischen Temperaturen. Wie überrascht ich damals doch war, als ich im Juli in Auckland landete und der Rasen mit Reif überzogen war! Und wie einsam und verloren ich mich fühlte, als ich mit zehn anderen Austauschschülern in einem engen Van auf dem Highway One gen Süden fuhr, während der Fahrer gut gelaunt bei offenem Fenster trotz Eiseskälte ein Liedchen trällerte. Damals wie heute hatte ich nur eine lange Hose dabei. Denn damals wie heute hatte ich irrtümlich angenommen, den Sommer für ein Jahr lang nicht zu verlassen. Doch nun ist es bereits Ende Februar, der letzte Sommermonat auf der Südhalbkugel neigt sich. Und ich will noch mindestens zehn Wochen bleiben.

Manche Dinge ändern sich nie, denke ich schmunzelnd und steige als Letzter in den Bus. Wir durchqueren ein paar Straßenzüge, die noch immer dem Bebauungsplan von 1929 entsprechen. Die Häuser haben hier weder einen Keller noch ein Obergeschoss. Warum auch, wenn doch so viel Platz ist. Für so ein Grundstück müsste ich in Oberbayern ein paar Millionen hinblättern. Hier wird es von mittellosen Studenten bewohnt. Kurz darauf befinden wir uns bereits auf dem Highway One, der wichtigsten Nord-Süd-Verbindung des Landes. Versonnen betrachte ich die vorbeiziehende Landschaft. Auckland ist Teil des Pazifischen Feuerrings, die Stadt liegt verteilt auf fast fünfzig erloschenen Vulkanen. Heute sind viele der erkalteten Hügel zur besseren Bebauung abgetragen, doch noch immer ist gut zu erkennen, wie bergig die Region trotz der schmalen Landbrücke zwischen den Küsten ist.

Einmal kurz streifen wir die Küste am Pahurehure Inlet, einer der zahllosen Buchten im Stadtgebiet. Auckland bietet vermutlich mehr Zugang zum Wasser als jede andere Stadt der Welt. Allein der Haupthafen im Stadtzentrum nahe der berühmten Harbour Bridge und dem Sky Tower bietet Platz für 1400 Segelboote. Das sind mehr als in jedem anderen Hafen der gesamten südlichen Hemisphäre. Tatsächlich gibt es weltweit keine andere Stadt, in der es mehr Boote pro Einwohner gibt. Daher trägt Auckland auch den Beinamen »City of Sails«.

Als wir uns ein gutes Stück südlich der Metropolregion befinden, stelle ich fest, dass der Highway inzwischen in beiden Fahrtrichtungen zweispurig ausgebaut ist. Vor zehn Jahren gab es nur eine Spur pro Richtung. Alle zehn oder zwanzig Kilometer führte die Schnellstraße mitten durch eine kleine Ortschaft. Es gab keine Ausfahrten im Sinne von deutschen Autobahnen. Der Verkehr drosselte einfach ein wenig die Geschwindigkeit. Wer abbiegen musste, blieb einfach stehen und wartete, bis sich eine Lücke auftat. Wer einkaufen wollte, hielt auf dem Seitenstreifen vor dem örtlichen Supermarkt. Es war nicht zuletzt dieser provinzielle Charme, der dafür sorgte, dass ich mich in Neuseeland verliebte.

Heute gibt es Umgehungsstraßen. Das enttäuscht mich ein wenig. Gut, der Highway One ist immerhin die meistbefahrene Straße des Landes, aber das Verkehrsaufkommen entspricht bestenfalls dem einer mittelgroßen deutschen Landstraße. Doch offensichtlich hat der Fortschritt in den letzten zehn Jahren auch vor Neuseeland nicht Halt gemacht. Ich bin gespannt zu sehen, was sich noch alles verändert hat.

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