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Ngāruawāhia

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Eine Stunde südlich von Auckland, kurz vor Hamilton, hält der Busfahrer in einem kleinen Ort namens Ngāruawāhia. Dieser Zungenbrecher von einem Ortsnamen ist mein Stopp. Aufgeregt, gleichermaßen nervös wie voller Vorfreude, nehme ich meinen Rucksack und eile zur Tür. Hier bin ich vor zehn Jahren zur Schule gegangen. Hier lebt nach wie vor meine Gastfamilie von damals. Vor wenigen Wochen erst, als ich mir das Ticket für den Flug kaufte, trat ich nach langer Zeit wieder mit ihnen in Kontakt. Ich schrieb ihnen, dass ich kommen würde. Sie zögerten nicht einen Augenblick und luden mich umgehend zu sich ein.

Die Tür schwingt auf – und Evelyn grinst mir vom Parkplatz aus entgegen. Eine herzliche Umarmung später ist alles so vertraut wie vor zehn Jahren. Evelyn ist eine Frau im besten Alter mit einem schelmischen Lachen und kurzen braunen Haaren, in die sich immer mehr grauen Strähnen mischen. Sie hat vier eigene Kinder großgezogen, die inzwischen über das gesamte Land und die Welt verteilt leben – und unzählige Pflegekinder.

In Neuseeland gibt es keine Waisenhäuser, sondern es gibt Familien wie die von Evelyn und ihrem Ehemann Dave, die Kindern in Not ein Heim auf Zeit bieten. Meist sind dies Kinder von Alkoholikern oder anderen Suchtkranken, die sich in Therapie befinden, oder eben Vollwaisen. Ich erinnere mich schon auf der Heimfahrt an das ständige Tohuwabohu, das in ihrem Haus herrschte. Zeitweise waren wir bis zu elf Kinder auf einmal. Und natürlich waren nicht nur Sonnenscheine darunter, das ist bei dem seelischen Rucksack, den solche Kinder mit sich herumtragen, klar. Manche waren verträumte Einzelgänger, die mit sich selbst redeten, andere schüchtern, aber enorm höflich – und manche neigten zu Gewalttaten und unvorhersehbaren Wutausbrüchen. Ich erinnere mich an einen Zwölfjährigen, der öfter Beschwerdebriefe von den Lehrern mit nach Hause brachte als Hausaufgaben. Oder einen erst vierjährigen Bub, der leider nie richtig zu sprechen gelernt hatte und sich nur Aufmerksamkeit zu verschaffen wusste, indem er seinen Nebenmann in den Arm biss.

Mit liebevoller Strenge manövrierten Dave und Evelyn dieses Schiff voller Verrückter durch Kindheit und Pubertät. Wir Älteren wurden mit in die Verantwortung genommen, und so wurden ihre leiblichen Kinder – die etwa in meinem Alter waren – zwangsweise schneller erwachsen als die meisten Teenager. Auch ich wurde von Anfang an als vollverantwortliches Familienmitglied eingespannt – und teilte die Zeit auf dem Trampolin so fair wie möglich ein: Erst ich, dann alle anderen. Hey, was will man erwarten, wenn man die Verantwortung über das Trampolin einem Sechzehnjährigen überträgt?

»Wie viele Kinder habt ihr gerade?«, frage ich Evelyn.

»Och, fast gar keine. Nur vier«, lacht sie.

Das klingt tatsächlich ganz entspannt. Ihre eigenen Kinder sind alle ausgezogen, und so betreuen sie derzeit nur vier Pflegekinder im Alter von zwei bis zwölf Jahren.

»Die Zeiten, in denen wir immer Ja sagen konnten, sind vorbei. Wir werden auch älter.«

Aber nicht minder umtriebig, wie ich bald feststelle. Dave, Evelyns Ehemann, dessen Brille so groß wie sein Herz ist, hat schon immer ein erfinderisches Leben geführt, und er scheint nicht vorzuhaben, damit aufzuhören. Er war schon Besitzer mehrerer Fish-&-Chips-Buden, hat bei der Gemeinde gearbeitet und stellt aktuell Kinderspielzeug aus Holz in Eigenarbeit her. In seinem Garten hielt er sich damals, vor zehn Jahren, ein gutes Dutzend Hühner, drei Rinder (mit den unheilschwangeren Namen Schnitzel, Rump Steak und Filet Mignon) und sechs Emus. Jawohl, Emus. Die stammen zwar eigentlich aus Australien, schmecken aber auch in Neuseeland hervorragend. Obwohl seine Familie nie wirklich wohlhabend war, erfüllte er mit seinem Erfindergeist doch stets alle Bedürfnisse und mehr. Die Hälfte des damaligen Hauses bestand aus nicht mehr als Pressspanwänden, weil er aufgrund der Vielzahl an Kindern, die es bevölkerten, mal eben einen Ostflügel in Eigenregie anbaute. Das Dach war dicht und die nicht isolierten Wände warm genug, zumindest für Neuseeland.

»Wie geht’s dir, Kumpel?«, begrüßt er mich, als wir in den Hof fahren, als wäre ich nur mal eben ein paar Wochen weg gewesen. »Darf ich dir unser Weihnachtsessen vorstellen?« Er führt mich zu einem selbst gebauten Gehege, in dem sich sechs putzige Ferkel tummeln. Sie quieken vergnügt, als ich mich zu ihnen hinunterbeuge. »Ich habe ihnen noch gar keine Namen gegeben«, bemerkt Dave. »Andererseits sollten sich die Kinder besser eh nicht zu sehr an sie gewöhnen. Trotzdem, vielleicht sollte ich sie wenigstens nach Schinken und Braten unterteilen.« Nachdenklich reibt er sich das bärtige Kinn. Er hat den Humor einer Person vom Lande, aber mir gefällt seine trockene Art. Am Ende geht er doch respektvoll mit seinen Tieren um und bringt seinen Kindern bei, das Fleisch aus eigener Aufzucht zu schätzen.

Dave und Evelyn weisen mir sogleich das schönste Zimmer im Haus zu und weigern sich, eine finanzielle Kompensation für meine Zeit bei ihnen zu akzeptieren.

»Wie lange bleibst du denn?«, fragt Dave ohne eine Spur von Hintersinn.

Ich hoffe, alle Ausrüstung innerhalb einer Woche zusammenzubringen, sage ich vorsichtig. Ob es wohl möglich wäre, dass ich so lange bei ihnen bliebe?

»Klar«, sagt er und steck dabei so viel Selbstverständnis in dieses eine Wort, dass es mir tatsächlich mein schlechtes Gewissen nimmt. Diese beiden Menschen sind so warmherzig und tiefenentspannt, wie man es sich nur für sich selbst wünschen kann. Und das trotz ihres chaotischen Lebens.

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