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Reiselust und Reisefrust

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Knapp zwei Monate später saß ich in einem Gästehaus in La Paz und fuhr mit der Zunge über die Kunststoffkrone, die mir ein Zahnarzt einen Tag, nachdem ich das Surfcamp verlassen hatte, eingesetzt hatte. Sie hielt gut so weit, trotzdem war ich frustriert. Das Internet an meinem kleinen Reiselaptop wollte nicht funktionieren, und auch sonst war irgendwie der Wurm drin. Ich war quer durch Peru gereist, hoch in die nördlichen Anden, war an der Küste zum Surfen gewesen. Die letzten Tage hatte ich in Cuzco verbracht und mir Machu Picchu angesehen. Die Stadt war schön, keine Frage, und die Ruinenstadt die spektakulärste Ansammlung alter Steine bislang. Aber irgendwie war es auch immer dasselbe.

Am Alleinreisen lag es nicht, da war ich mir sicher. Ich war allein, aber nicht einsam. Es kam zwar manchmal vor, dass ich über mehrere Tage hinweg kaum mit jemandem redete, doch auf der anderen Seite kam ich viel schneller mit anderen Reisenden ins Gespräch, als dies in einer Gruppe der Fall gewesen wäre. Und wenn mir das Gespräch auf den Sender ging, war ich auch schnell wieder allein. Nein, daran konnte es nicht liegen, dass ich frustriert war.

Weil sich mein Rechner auch beim dritten Versuch beharrlich weigerte, mit der großen weiten Welt in Verbindung zu treten, startete ich ein kleines Computerspiel, dass ich mir von einem Reisenden in Peru kopiert hatte. Es war eine billige Kopie des alten »Super Mario«-Spiels aus den Neunzigern. Früher, als ich gerade so zur Schule ging, hatte ich das Spiel tage- und nächtelang gespielt. Heute Abend war es ein willkommener Zeitvertreib. Ich drückte ein paar Tasten, und Mario flog durchs Zauberland, erlebte Abenteuer, überwand Gefahren, quer durch alle Welten. Ein bisschen wie bei mir, nur dass am Ende meiner Reise keine Prinzessin auf mich wartete.

Am späten Abend kam ein Pärchen ins Gästehaus. Sie setzten sich zu mir an den Tisch und wir begannen ein Gespräch. Sie stammten aus England und waren gerade eben von einem Berggipfel in der Nähe zurückgekehrt. Der war 6400 Meter hoch, eigentlich völlig verrückt, so was ohne Akklimatisierung zu machen. Verrückt genug jedenfalls, dass es mich hätte reizen sollen, aber irgendwie ließ es mich kalt. Die zwei reisten bereits seit über einem Jahr um die Welt, erzählten sie. Es war komisch, aber das machte mich nicht wirklich neidisch. Wie konnten sie nach all der Zeit noch über einen erklommenen Berggipfel jubeln? Aber vor allen Dingen drängte sich mir eine ganze andere Frage auf: Wie konnten die beiden immer noch glücklich miteinander sein, obwohl sie seit einem Jahr jede Minute aufeinanderhockten?

Ich musste an meine eigene Beziehung denken. Ihr Ende lag erst wenige Monate zurück. Meine Freundin war im Grunde eine tolle Frau gewesen. Ich hatte sie über ein paar Freunde auf einer Party kennengelernt. Das war zu einem Zeitpunkt, als ich meine Schüchternheit aus der Schulzeit endlich überwunden hatte und jede Party mitnahm, die sich mir bot. Ich war an diesem Abend in Flirtlaune gewesen, wie eigentlich immer, und war mit ihr ins Gespräch gekommen. Dennoch ergab sich am späteren Abend nichts. Vielleicht fand ich sie deshalb besonders interessant. Vielleicht schrieb ich ihr in der nächsten Zeit deshalb ständig Nachrichten. Bald darauf ergab sich eine unverbindliche Geschichte zwischen uns. Wir trafen uns nach der Uni, wir sahen einen Film oder kochten gemeinsam ein Abendessen. Danach schliefen wir miteinander. Wir verstanden uns gut, wir wurden Freunde. Und da nahmen die Probleme ihren Lauf. Sie wollte mehr als nur eine Sexbeziehung, ich nicht. Dabei war es längst mehr als das. Ein halbes Jahr lief das so zwischen uns, bis ich mich schließlich breitschlagen ließ. Doch in dem Moment, wo sich der Status unserer Beziehung änderte, war sie zum Scheitern verdammt. Nein, auf mich wartete niemand zu Hause. Trotzdem machte mir das Alleinsein nichts aus.

»Wo reist du als Nächstes hin?«, fragt mich der Engländer.

»Wie bitte?«, fragte ich. Er hatte mich tief aus meinen Gedanken gerissen.

»Wo soll’s von hier aus hingehen?«, wiederholte er.

»In die Salzwüste von Uyuni, dann rüber nach Chile«, antwortete ich lustlos. »Von dort habe ich ein Ticket nach Neuseeland. Weiß noch nicht, wie lange ich dortbleibe.«

Weil ich keine Gegenfrage stellte, wendete sich der Brite wieder seiner Freundin zu. Mir war das ganz recht. Heute hatte ich keine Lust auf Smalltalk.

Plötzlich poppte ein Chatfenster auf meinem Bildschirm auf. Steffen meldete sich mit einem fröhlichen »Ahoi!«. Na großartig, noch so ein Gute-Laune-Monster. Auf der anderen Seite hatte ich schon eine Weile nichts mehr von ihm gehört. Von wo aus er mir wohl gerade schrieb? Er war relativ zügig bis nach Costa Rica geradelt, so viel wusste ich noch, doch dann hatte ich den Kontakt zu ihm verloren.

»Wo treibst du dich rum?«, schrieb ich.

»In der Karibik«, antwortete er. Das war nicht gerade eine präzise Angabe.

»Auf den Bocas del Toro?«, schrieb ich ein wenig ungeduldig. Auf dem Archipel auf der karibischen Seite Panamas hatte ich Silvester verbracht, das war inzwischen sechs Wochen her. Mit dem Fahrrad könnte Steffen inzwischen ebenso weit gelangt sein. Doch da war er nicht. Um es kurz zu machen, er war nicht mal mehr in Mittelamerika.

»Jamaika«, schrieb er. Verblüfft ordnete ich in Gedanken die Weltkarte. Mir war keine Route bekannt, auf der man per Fahrrad Jamaika erreichen konnte, und in der Kürze der Zeit schon gar nicht. Hatte er am Ende seine Radreise aufgegeben und war geflogen?

»Mit dem Boot«, schob er hinterher.

Wie bitte? Wie war das denn passiert? Steffen ließ mich zappeln, und während ich überlegte, ob man in Costa Rica ein einfaches Tourenrad wohl gegen ein Segelboot eintauschen konnte, spürte ich, wie Steffen am anderen Ende des Internets schelmisch grinste. Verdammtes Gute-Laune-Monster! Aber ich war neugierig geworden.

»Jetzt erzähl schon!«, schrieb ich. So ein verdammter Strolch, dass er mich warten ließ. Doch während ich noch nach einem Ohrfeigen-Smiley suchte, schrieb Steffen schon, was passiert war.

Er war bis Costa Rica geradelt. Dort hatte er schließlich Puerto Limón erreicht, eine Hafenstadt an der Karibikküste, und war in einer Kneipe mit einem amerikanischen Segler ins Gespräch gekommen. Der Segler verbrachte die Wintermonate auf seinem Katamaran zwischen den USA und dem mittelamerikanischen Festland und ließ sich von einer der zahllosen Inseln zur nächsten im wahrsten Sinne des Wortes treiben, gone with the wind. Er fand Steffens Art zu reisen irgendwie interessant, und ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass es andersrum genauso war. Also heuerte Steffen auf seinem Katamaran als Skipper an. Kostenfrei natürlich. Arbeit gegen Kost und Logis. Im Gegensatz zu diesem Coup kam mir mein Deal in Panama mit dem Surfcamp vor wie Pulverkaffee neben dem frisch gerösteten Produkt eines Vollautomaten.

»Wie konnte das passieren?«, schrieb ich neidisch. »Wie kannst du so viel Glück haben?« Gebannt wartete ich auf seine Antwort. Ich meine, ernsthaft: Wer setzt sich denn bitte in eine Hafenkneipe, kommt mit seinem Tischnachbarn ins Gespräch und segelt am nächsten Tag durch die Karibik? Wie geht denn so was?

»Karma«, schrieb Steffen schließlich. Arsch, dachte ich.

Aber ich begriff, was er meinte. Er hatte das Abenteuer gesucht, und es hatte ihn gefunden. Er hatte seine Leidenschaft investiert und dafür viele eindrückliche Erfahrungen zurückbekommen. Er hatte die Welt umarmt und sie ihn. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus, dachte ich. So wie ich dem Ruf einer E-Mail gefolgt war, die irrtümlich in meinem Postfach gelandet war, und dafür das bislang größte Abenteuer meiner Reise gefunden hatte. Ich hatte dadurch zwar einen Zahn verloren, aber die vielleicht aufregendste Geschichte meines Lebens erlebt. Im Grunde suchte ich seither nur etwas, das diese Erfahrung toppen konnte. Deswegen war ich seit Wochen so lustlos. Weil ich tagaus, tagein denselben Backpackermist erlebte. Und dann wusste ich, was ich tun würde.

Ich würde mir in Neuseeland ein Fahrrad kaufen. Ich würde auf der Straße leben. Ich würde mein Essen selber kochen. Ich würde mit so wenig auskommen, wie es nur menschenmöglich war, und ich würde so viele Abenteuer erleben, wie man in einem Leben unterbringen konnte. Ich würde von den Bergen schreien und die Welt umarmen. Und die Welt würde mich umarmen.

So war es, und so würde es sein. Genug des Zauderns! Vom Pauschaltourismus hatte ich mich längst emanzipiert, doch nun genügte mir auch das Backpacking nicht mehr. Endlich weg von den üblichen Touristenrouten! Bis Santiago würde ich noch auf ausgetretenen Pfaden wandeln, doch danach würde ich neue erschaffen.

Ich reiste durch das bolivianische Altiplano, hinüber in die Atacamawüste nach Chile. Von dort war ich in einem Tag in Santiago. Zum Glück lebte meine alte Bekannte noch dort, und sie bot mir Obdach für meine letzte Nacht.

»Ich reise nach Neuseeland«, verkündete ich stolz. »Und ich werde dort das Land mit dem Fahrrad bereisen.«

»Allein?«, fragte meine Bekannte.

»Ich reise gern allein«, entgegnete ich. »So kann man die Reise intensiver wahrnehmen. So lebt man viel bewusster in der Gegenwart.«

Und so nahm ich es mir vor. In dem Moment, wo ich einen Fuß auf Neuseelands Boden setzen würde, würde ich ankommen. Im ultimativen Abenteuer. Nicht auf dem Weg, sondern permanent im Ziel. Endlich, langsam. Endlich bei mir selbst. Im Hier und Jetzt.

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