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Guatemala und der Typ mit dem Rad

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Wir reisten ein wenig durch El Salvador, erkundeten das Land von der Küste bis in die Berge. Es hatte optisch keine wirklichen Highlights zu bieten, alles sah irgendwie gleich aus, und auf jedem saftigen, grünen Blatt lag eine Schicht aus dickem Staub. Dennoch fand ich es auf eine dreckige Art charmant. Ich war zufrieden, so wie es lief. Ich konnte Clara ein bisschen beeindrucken, als ich, ohne zu zögern, auf die Ladefläche eines Pick-ups kletterte und ihr die Hand reichte. »Das machen die hier so«, sagte ich. »Alles easy.« Es war die richtige Portion Abenteuer, häppchenweise dosiert. Mal hörten wir eine Geschichte, dass einem anderen Reisenden der Pass geklaut wurde, mal wurde der Backpacker im Bungalow neben uns von einer giftigen Spinne gebissen. Das Abenteuer war da, aber die schlechten Dinge passierten den anderen. Wenn wir reisen wollten, winkten wir einfach einem der zahllosen Busse, die im halsbrecherischen Tempo über die Straßen donnerten, und reisten für wenige Dollar durchs halbe Land. Abends liefen wir im Zentrum, völlig egal in welcher Stadt, einfach durch die Gassen, und nach wenigen Minuten bot uns jemand ein Gästezimmer an. Wenn wir Hunger hatten, war der nächste Imbiss nicht weit. Das Reisen war so einfach, und dennoch erschien es wie ein großes Abenteuer.

Doch vom Backpacking in Mittelamerika bis zu einem Leben auf den Straßen von Neuseeland war es noch ein weiter Weg. Als wir nach einer Woche die Grenze nach Guatemala bei Cara Sucia überquerten, gab mir das Schicksal einen entscheidenden Stoß.

Cara Sucia bedeutet auf Deutsch »dreckiges Gesicht« und beschreibt den Charme des Städtchens zur Genüge. Mit Chicken-Bussen fuhren wir weiter bis Antigua, der ehemaligen Hauptstadt des Landes. Sie liegt vor den Toren von Guatemala-City und wird eingerahmt von mehreren, teils aktiven Vulkanen. Das Kolonialstädtchen zählt mit seinen Pflasterstraßen, seinen halb zerfallenen Kathedralen und seinen pastellfarbenen und knallbunten Hauswänden zum UNESCO-Weltkulturerbe. Es ist der Go-to-Place für alle Reisenden in Guatemala. Es gibt Hostels an jeder Ecke, amerikanische Fast-Food-Ketten und jede Menge buchbare Action. Ich hatte gemischte Gefühle, was diese Stadt betraf. Auf der einen Seite war es verlockend, mal wieder für ein paar Tage einen etwas westlicheren Standard zu genießen. Auf der anderen Seite drängte mich mein Ehrgeiz dazu, auf jeglichen Komfort zu verzichten. Eine geführte Tour im Geländewagen zu einem Vulkan würde einen Rückschritt bedeuten im Vergleich zu einer spontanen Wanderung, die wir in den Bergen El Salvadors unternommen hatten. Und die Matratze des Gästezimmers hatte unbequem zu sein, denn nur wenn man die Knochen im Leib spürt, ist man auf derselben Ebene wie die arme, hart arbeitende Landbevölkerung. Eigentlich albern, dachte ich, als ich im Hostel meinen Rucksack auf die untere Matratze eines Etagenbettes warf. Sie sah ziemlich bequem aus. Das gefiel mir nicht. Natürlich war es albern, aber ich wollte immer nach vorn, niemals einen Schritt zurückgehen. Dieses Bett gab mir das Gefühl eines Fünf-Sterne-Urlaubs auf den Malediven. Ich grummelte missmutig vor mich hin.

»Hey!«, sagte plötzlich eine Stimme über mir. Ich hatte den jungen Mann, der im oberen Bett schlief, geweckt. Hatte ich etwa laut mit mir selbst gesprochen? Hatte ich mich schon so weit in meiner verrückten Welt verloren, dass ich nicht mal mehr bemerkte, wenn ich redete?

»Ich kenne dich doch«, sagte der Mann und musterte mich nachdenklich. Stimmt, jetzt fiel es mir auch ein. Er hatte im Flieger nach Panama vor mir gesessen. Wir hatten nur wenige Worte miteinander gewechselt, eigentlich kein Grund, gleich ein Wiedersehensfest zu feiern. Aber ein Zufall war es schon.

»Ich bin Steffen«, sagte er.

»Du bist also von Panama nach Guatemala weitergeflogen?«, fragte ich. »Aber das ist doch schon über eine Woche her! Gefällt dir Antigua so gut, dass du länger hierbleibst?« Ein langweiliger Möchtegernabenteurer, schloss ich in Gedanken. Einer von denen, die einen Sprachkurs machten, sich einer geführten Tour auf den Vulkan anschlossen und hinterher zu Hause so taten, als hätten sie den Buschmännern das Feuer gebracht.

»Nee«, sagte Steffen. »Aber ich warte leider immer noch auf mein Gepäck. Die Idioten haben es von Panama nach Mexiko geschickt.«

»Das ist mir auch passiert! Aber meins war dann nach drei Tagen da. Hast du denn schon irgendeine Nachricht, wo es sein könnte?«

»Oh, es ist da, das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass die Hälfte meiner Ausrüstung aus den Satteltaschen geklaut wurde.«

»Satteltaschen?«, hakte ich nach. Hatte ich mich gerade verhört? Warum sollte jemand mit Satteltaschen reisen? Ich fand meinen klassischen Rucksack wesentlich praktischer.

»Ja, und sogar die Klingel haben sie mir geklaut. Ich will eigentlich mit dem Fahrrad durch Lateinamerika fahren. Aber im Augenblick müssen sich die verschiedenen Flughäfen einigen, wer von ihnen mir eine Entschädigung bezahlt. Die haben ja selbst keine Ahnung, wo das Zeug geklaut wurde. Deshalb hänge ich hier fest und vertreibe mir die Zeit mit einem Spanischkurs.«

Ein bisschen schämte ich mich für meine Vorverurteilung. Doch das Gefühl der Überheblichkeit war insgeheim Neid gewichen. Steffen wollte sich einfach am Flughafen von Guatemala City auf sein Rad schwingen und von dort durchs Land radeln? Ohne Plan, ohne Begleitung, ohne Spanisch zu können? Und dann in Guatemala City! Die Stadt hat zwar kaum mehr Einwohner als Köln, aber ansonsten nicht viel mit der ersten Welt gemeinsam. Wie leider alle Großstädte auf der kontinentverbindenden Landbrücke ist Guatemala City ein dreckiger, stinkender Moloch. Schnellstraßen winden sich mitten durch die Armenviertel, und im Gegensatz zu Köln-Porz muss man hier im Dauerstau wirklich die Knöpfchen runtermachen. Die Wellblechhütten klammern sich an die Hänge, ein bisschen wie in den Favelas in Rio, nur in umgekehrter Richtung. Denn anstatt bergauf, geht es in Guatemala tief abwärts in scheinbar bodenlose Schluchten. Immer tiefer wachsen diese Gettos in den Urwald hinein, immer weiter müssen die Ärmsten der Armen klettern, um entlang der Lebensader, die die Straße für sie darstellt, ihren Unterhalt zu erstreiten. Im zweifelhaften Ranking der Städte mit der höchsten Mordrate verpasste Guatemala City die weltweite Top Ten nur knapp. Das wusste ich allerdings alles nur aus Erzählungen, denn ich mied die Stadt, so lange ich konnte.

»Clara!«, sagte ich, als meine Freundin den Raum betrat. »Wir sollten mit Steffen einen trinken gehen.« Er faszinierte mich, das konnte ich nicht abstreiten. Etwas an seiner gelassenen Art beeindruckte mich tief.

»Die Strecke von Guatemala City nach Antigua ist heute viel sicherer als früher«, erzählte uns kurz darauf ein Einheimischer an der Bar. »Ich bin Busfahrer, ich kenne die Statistik. Im Schnitt werde ich nur noch alle 200 Fahrten überfallen.« Er lachte ein fast zahnloses Lachen.

»Siehst du«, sagte Steffen strahlend. »Das bedeutet, man hat eine Chance von 199 zu eins, dass alles glattläuft, wenn man aus Guatemala City rausfährt.«

»Aber du bist auf einem Fahrrad!«, protestierte ich. »Und allein! Sobald du an einer Kreuzung stehst, bist du ein leichtes Opfer! Und außerdem!« Ich rechnete kurz nach. »Also, Señor«, fuhr ich auf Spanisch fort. »Wenn Sie alle 200 Fahrten überfallen werden, und täglich so circa acht Fahrten machen. Dann bedeutet das doch, dass Sie …«

»Nur noch etwa alle sechs Wochen überfallen werde. Sí, Señor! Wie ich schon sagte, die Strecke ist wesentlich sicherer geworden.«

Ich fühlte mich völlig überfordert von so viel Unbekümmertheit. Vielleicht, weil mir selbst einmal mehr bewusst wurde, was ich doch für ein Angsthase war. Oder weil ich hin- und hergerissen war, ob ich Steffen für seinen Mut bewundern oder beneiden sollte. Aber nie im Leben hätte ich mich das getraut.

»Warum willst du überhaupt mit dem Fahrrad fahren?«, fragte ich ihn schließlich. »Das Reisen in den Chicken-Bussen kostet fast nichts, und die Unterkünfte sind bequemer, als jeden Abend ein Zelt aufzubauen.«

»Es geht mir nicht um das Fahren an sich«, entgegnete Steffen. »Es geht mir um die Geschichten, die am Wegesrand liegen. Kannst du dir vorstellen, was man da alles erlebt? Ich bin mir sicher, dass die Menschen ganz anders mit mir umgehen werden als mit gewöhnlichen Reisenden. Ich werde das Land auf eine Art kennenlernen, wie es ein normaler Tourist nie könnte.«

Ich konnte es mir nicht wirklich vorstellen, nein. Und es traf mich, wie Steffen von gewöhnlichen Reisenden sprach. Es klang nicht abwertend aus seinem Mund, doch es klang abwertend in meinen Ohren. Für ihn musste ich das sein, was für mich ein Pauschaltourist war. Jemand, der dem Abenteuer lieber vom Pool aus zuwinkte, anstatt sich selbst hineinzustürzen. Dieser Gedanke nagte an mir wie ein Marder am Bremskabel. Man wusste noch nicht wie und wann, doch irgendwann würde deswegen etwas passieren.

Clara und ich setzten unsere Reise schon bald fort, doch ich blieb mit Steffen in Kontakt. Und während wir mit Bussen, Booten und zu Fuß Vulkane erklommen, Maya-Ruinen erforschten und die Abgeschiedenheit des Rio Dulce entdeckten, begann Steffen bald doch noch sein Abenteuer auf dem Fahrrad.

Er fuhr grob die Panamericana hinab. Ausgerechnet die Panamericana, die mich in meiner Not so hart und herzlich durchgeschüttelt hatte! Eine Höllenstraße, auf der niemand einfach nur fährt, sondern grundsätzlich immerzu überholt. Es scheint keinen Moment zu geben, in dem nicht gerade in Sichtweite ein Fahrer um Haaresbreite dem Tod entrinnt. Die Panamericana ist also ungefähr die letzte Straße, auf der man Fahrrad fahren möchte. Ich hielt Steffen nach wie vor für verrückt, aber es hielt sich inzwischen die Waage mit einer großen Portion Respekt.

Er schrieb mir von seinen Begegnungen mit den einfachen Bauern, die ihn ansprachen und die er kaum verstand, mit denen er sich mit Händen und Füßen verständigte und irgendwie darauf einigte, sein Zelt auf ihrem Grund aufstellen zu dürfen. Denen er auf den Feldern half und die ihm dafür zeigten, wie man in den Seen Fische fing. Ich konnte förmlich herauslesen, wie Steffens Augen leuchteten, wenn er mir im Chat von seinen neuesten Abenteuern berichtete. Was ich zu dem Zeitpunkt schon wusste, war, dass ich seine Radreise unbedingt weiterverfolgen würde. Was allerdings noch in meinem Unterbewusstsein schlummerte, war die Entscheidung, mich selbst schon bald auf eine solche Reise zu begeben.

* * *

Nach drei Wochen zwischen Dschungel, Karibik und Mayaruinen musste Clara wieder abreisen. In nur eineinhalb Tagen reisten wir von der honduranischen Karibikküste in klapprigen gelben Bussen auf die andere Seite der Berge bis kurz vor den Pazifischen Ozean, zurück zum Flughafen San Salvadors. Stunde um Stunde kurvten wir durch die Berge, in vier oder fünf verschiedenen Bussen, jeweils vom Startpunkt bis zur Endhaltestelle. Während dieser Zeit hatte ich ziemlich miese Laune, denn Clara hätte ihren Flug ebenso gut von Tegucigalpa buchen können, oder sogar von San Pedro Sula, und das sogar zu einem günstigeren Preis. Drauf geschissen, dass San Pedro Sula die offiziell gefährlichste Stadt der Welt ist, mit einer doppelt so hohen Mordrate wie Guatemala City. Ich hätte diese zweitägige Bustortur sofort gegen eine Nacht in San Pedro Sula eingetauscht, so mies gelaunt war ich nach zehn Stunden im Bus.

Clara musste das spüren, doch sie ließ sich nichts anmerken, denn es war ihr wichtig, dass ich sie begleitete. Da ich aber im unmittelbaren Anschluss ein paar Tage auf Utila verbringen wollte, einer Insel vor der honduranischen Küste, würde ich nach ihrem Abflug den gesamten Weg zurückfahren müssen. Einmal quer über die Kontinentalbrücke und zurück – dieser Umstand war doch Grund genug, schlechte Laune zu haben, oder? Wenn ich Hunger habe oder erschöpft bin, kann ich ziemlich selbstgerecht sein. Und in diesem Fall saßen wir nun schon seit Stunden ohne Proviant in einem völlig überfüllten Bus, aber dieser blöde Flieger wartete nicht auf uns.

Erst als der Flughafen endlich ausgeschildert war, wurde mir schlagartig bewusst, woher meine miese Stimmung wirklich rührte. Ich hatte Schiss!

Ab dem Moment, in dem Clara durch die Passkontrolle marschierte, würde ich allein sein. Für elfeinhalb Monate. Gut, ich hatte eine alte Freundin in Santiago de Chile, aber die war im Augenblick gefühlt so weit weg, wie sie es auch tatsächlich war: am anderen Ende des südamerikanischen Kontinents. Ich war für das gesamte nächste Jahr allein. Jede Krise, sei sie körperlich, seelisch oder finanziell, würde ich allein meistern müssen. Mit einem Mal hatte ich eine Heidenangst. Am liebsten wollte ich Clara gar nicht gehen lassen. Ich war ohnehin kein Mann für Abschiede, wollte mich eher heimlich, still und leise aus dem Staub machen und wäre in diesem Moment am liebsten in Honduras geblieben. Und nun zog es sich endlos in die Länge, bis ihr Flug endlich ging. Über die Berge, über die Grenze, fast bis zum anderen Ozean, bis zum Flughafen von San Salvador. Wir redeten über das Studium, über unsere Freundschaft, über die Zukunft. Wir lagen auf der Wiese vor dem Check-in-Gebäude und warteten.

Und plötzlich war sie weg. Auf dem Weg zurück in die USA, zu ihrer Familie, zurück in vertraute Kulturen. Und ich stand allein unter einer Palme auf dem Parkplatz des hässlichsten Flughafens der Welt und sah, wie ihr Flugzeug abhob und schließlich aus meiner Sicht verschwand. Ein Kloß drückte auf meine Kehle so groß wie die Papayas, die überall an den Bäumen hingen. Leider schmeckte er nicht so gut.

Wie sollte ich allein überhaupt zurechtkommen? War mein Spanisch wirklich gut genug? Was, wenn ich meine Kreditkarte verlor, wer würde mir aushelfen? Ich hatte nun alle Zeit und alle Freiheiten der Welt. Nur – wie sollte ich sie nutzen? Ich musste an Steffen denken, der seit ein paar Wochen allein mit dem Fahrrad unterwegs war, und meine Bewunderung für ihn wuchs ins Unermessliche. Unter dieser verdammten Palme vor diesem verdammten Flughafen fühlte ich mich so klein wie noch nie in meinem Leben.

Ich fuhr mit einem Bus – dieses Mal tauchte einer auf – zurück zur Hauptstadt, um dort die Nacht zu verbringen. Einsam und gedankenleer starrte ich aus dem Fenster. Ich fühlte mich ausgelaugt. Nicht mehr ganz so ängstlich wie noch vorhin, aber Vorfreude fühlte sich definitiv anders an. Das hatte ich mir anders ausgemalt, als ich das Ticket gebucht hatte. Ich hatte gedacht, dass ich stärker sei. Irgendwann setzte ich meine Kopfhörer auf und hörte Musik, um mich abzulenken. Irgendwelche Sommermusik. Energiegeladen, gitarrenlastig. Volle Pulle. Ich atmete tief ein. Ein Mann betrat den Bus, schob sich mit einem Korb voller Pupusas durch die Reihen. Warum nicht?, dachte ich und kaufte einen der gefüllten Maisfladen.

Und plötzlich, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen und beschloss, dort zu bleiben. Mit einem Mal erkannte ich das Gute am Alleinreisen, ich sah die Vorzüge, die sich mir boten: Ich konnte Musik hören, wann ich wollte, reisen, wohin ich wollte, essen, wann ich Hunger hatte. Und ich konnte meine Ruhe haben, wenn mir danach war, und würde sicher auch jemanden zum Reden finden, wenn ich Lust darauf hatte. Ich reise gern allein, beschloss ich. Weil ich tun und lassen kann, was ich will. Unbewusst war das Lächeln zu einem breiten Grinsen geworden. Jawohl, dachte ich. Ich reise gern allein.

Vom unerwarteten Enthusiasmus beschwingt, suchte ich eine hospedaje für die Nacht in San Salvador. Das Schicksal würde es gut mit mir meinen, beschloss ich. Ich müsste mich nur mutig allen Herausforderungen stellen.

* * *

Ohne dass ich es ahnte, war das Schicksal in dem Gasthaus, für das ich mich schließlich entschied, bereits anwesend und streckte mir seinen Hintern entgegen. Es steckte in einer Radlerhose und spannte sich gefährlich über seinen gesammelten Erfahrungen. Eine mittelalte Dame ragte aus der Hose hervor, gebückt und pfeifend. Sie kramte in den Satteltaschen eines stattlichen Trekkingrads. Als sie mich endlich bemerkte, richtete sie sich auf, um mich vorbeizulassen.

»Oh, hello«, grüßte sie höflich. Sie hatte ihr Rad in den kühlen Flur der hospedaje gerollt und schien sich erst mal sortieren zu müssen. Offensichtlich war sie eben erst eingetroffen. Ich fragte sie, wo sie gerade herkam.

»Aus London«, antwortete sie fröhlich, als sei das der Name der Stadt gleich nebenan.

»Muss ein langer Tag gewesen sein«, hätte ich antworten sollen. Stattdessen glotzte ich wie eine Kuh beim Melken und versuchte einzuordnen, wer von uns beiden plemplem war.

Sie lachte über meinen Gesichtsausdruck. Aber sie blieb dabei und erzählte mir ihre Geschichte: Anderthalb Jahre zuvor sei sie aufgebrochen, durch Europa und Asien geradelt, immer weiter, bis sie schließlich in Peking das Meer erreicht habe. Dort, so erfuhr ich, hatte sie sich einen Flug nach Alaska gekauft, im Sommer dieses Jahres. Seither befand sie sich auf der Reise nach Feuerland. Wenn sie schon Europa und Asien mit dem Fahrrad durchquerte, warum nicht mal noch eben den amerikanischen Kontinent auf dem längsten möglichen Weg?

Ich war tief beeindruckt. Die Frau war sicherlich über fünfzig. Ihre Radhose war so weit, dass ich sie als Handtuch hätte verwenden können (allerdings lieber nicht in diesem Moment), und dazu passte auch der dazugehörige Hintern. Die gute Frau sah alles andere als sportlich aus. Zudem reiste sie allein und sprach kaum ein Wort Spanisch. Trotzdem schien sie bei bester Laune und Gesundheit zu sein und insgesamt so weit ganz gut voranzukommen. Etwa 30.000 Kilometer habe sie bereits auf dem Tacho, erzählte sie.

Sie hatte diese Unterhaltung schon öfter geführt, vermutlich um die 500 Mal. Mit jedem Kilometer, den sie sich von ihrer Heimat entfernt hatte, wurde ihre Geschichte beeindruckender. Und sie schien jeden dieser Kilometer zu genießen.

Ich musste zugeben, das war kein schlechter Aufhänger für ein Gespräch. Für den Rest ihres Lebens würde es ihr an Geschichten beim Smalltalk gewiss nicht mangeln. Ich fragte sie, ob es denn gar keine Gefahren gegeben habe auf ihrer Reise. Immerhin dürfte das eine oder andere instabile Land darunter gewesen sein.

»Irak, Iran, das sind wunderschöne Länder«, schwärmte sie. »Und die Menschen sind so unglaublich gastfreundlich.« In Pakistan sei ihr einmal die Tasche mit ihrem Werkzeug gestohlen worden. »Aber«, sagte sie, »das war Pech. Das hätte ebenso gut schon in England passieren können.« Daraufhin hatte sie alles in einem britischen Online-Shop nachbestellt und mehrere Wochen gewartet, bis die Ausrüstung eintraf.

»Das dürfte eine ganze Weile gedauert haben«, sage ich. Sie zuckte mit den Schultern.

»Zeit ist eigentlich nicht mein Problem.«

Ich lachte und nickte verständig, denn Zeit hatte ich schließlich auch. Und dennoch konnte ich mir in dem Moment noch nicht einmal ansatzweise vorstellen, was sie damit eigentlich meinte. Denn ich war einfach in ein Flugzeug gestiegen, um weniger als einen Tag später auf einem anderen Kontinent, acht Zeitzonen entfernt, in einem Pool zu liegen und die Zeit zu genießen, während ich andere Menschen dafür arbeiten ließ, mein Gepäck wiederzufinden. Das war kaum drei Wochen her gewesen, in demselben Land, in dem ich mich immer noch befand, beinahe sogar in derselben Stadt. Diese Frau hingegen, wie sie vor mir stand in ihrer Radlerhose und mit dem Dreck der Panamericana auf der Stirn, kam aus derselben Ecke der Welt wie ich, zumindest von unserem derzeitigen Stand-punkt aus betrachtet. Doch sie hatte sich jeden Meter des Weges erarbeitet. Ihre Zeit war eine völlig andere als meine. Der Weg ist wohl das Ziel, dachte ich, ohne die Bedeutung des Satzes wirklich zu begreifen.

»Macht es denn Spaß?«, fragte ich. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, wie man anderthalb Jahre Vergnügen an der immer gleichen Tätigkeit haben konnte. Musste das nicht bald ziemlich eintönig werden?

»Oh, unwahrscheinlichen Spaß sogar«, strahlte die Frau. »Wissen Sie, man reist viel bewusster, wenn man langsam reist. Ich bin manchmal überrascht, was mir auf dem Sattel für Gedanken kommen. Da hat man mal Zeit, über Dinge nachzudenken, die sonst auf der Strecke bleiben. Und zugleich nimmt man seine Umgebung viel intensiver wahr, als wenn man nur aus dem Fenster eines Autos schaut. Zu Hause habe ich zwanzig Jahre lang meine Kinder großgezogen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe meine Kinder, aber ich war pausenlos am planen. Den morgigen Tag, das nächste Abendessen, den nächsten Familienurlaub. Nie hatte ich Zeit, mal so richtig den Nachmittag zu genießen. Nie hatte ich Zeit, mal auf das zu hören, was ich wollte. Aber beim Fahrradfahren ist das anders. Da kann man den Moment so richtig genießen. Da lebt man mal so richtig im Hier und Jetzt.«

Nachdenklich kratzte ich mich am Bauch. Ich begriff schon, was sie sagte, aber ich verstand sie nicht wirklich. Ich war eigentlich froh, dass ich immer etwas zu tun hatte, dass es immer etwas zu organisieren gab. Das hielt mich auf Trab.

Doch ihre strahlenden Augen ließen mich nicht mehr los. Mir war zwar nicht ganz klar, was sie so zum Leuchten brachte, doch ich wünschte es mir für mich ebenfalls. Also beschloss ich, in Zukunft unorthodoxeren Reiseweisen gegenüber aufgeschlossener zu sein.

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