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Die zweite Chance

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Ich weiß, dass ich jetzt eine andere Einstellung zu Wuschel bekommen muss. Wenn er bei uns bleiben soll, dann werde ich seine Anwesenheit mit allem Wenn und Aber akzeptieren. Ich werde in diese Aufgabe schon hineinwachsen, dafür bin ich zu gewissenhaft.

Nun haben wir uns entschieden, dass er bei uns einziehen wird und mich stimmt die Aufgabe, mich um den kleinen Hund zu kümmern, sehr positiv. Am nächsten Tag gehe ich in die Buchhandlung, besorge mir entsprechende Hundeliteratur und versinke gemütlich lesend zu Hause im Sessel. Ich nehme einen Schluck Tee und sage zu Matthias: „Hier steht, dass man dem Hund klare Regeln geben muss, sonst übernimmt er die Verantwortung. Das stresst ihn dann aber. Wichtig ist auch, nicht an einem Tag „Hüüh“ zu sagen und am anderen Tag „Hott“. Im Prinzip ist es wie bei Charly, dem hatten wir auch klare Grenzen aufgezeigt und das hatte wunderbar geklappt.“

Ich bin voller Tatendrang und weiß gar nicht, welches Buch ich zuerst verinnerlichen soll. Die Hundeerziehung ist mir im Moment genauso wichtig wie das Lernen über den Hund, was er meint, seine Mimik, seine Bedürfnisse.

„Wuschel, komm mal her. Ich muss jetzt ganz viel über dich lernen. Wir wollen es doch richtig machen, damit wir uns alle wohlfühlen.“ Er trabt auf mich zu, setzt sich schwanzwedelnd vor mich hin, und ich würde etwas dafür geben, wenn ich seine Gedanken lesen könnte. Das Feuer im Kamin knistert. Wuschel gähnt und streckt sich. Dann legt er sich hin und fällt mit einem wohligen Grunzen auf die Seite, schließt die Augen und kurze Zeit später zucken seine Pfötchen im Schlaf.

„Du kannst leider heute noch nicht bei uns bleiben, es ist noch immer ein Probewohnen.“


Ich sehe auf die Uhr, wir müssen ihn bis 18 Uhr zum Tierheim zurückbringen.

Ich hatte mit Herrn F. ausgemacht, dass wir den Hund erst im Februar zu uns holen können, denn dann ist der Umbau abgeschlossen und Wuschel kann offiziell einziehen. Wir haben als Einzugstag den 23. Februar anvisiert. Dieser Tag ist für mich leicht zu merken, da an diesem Tag meine Schwester Geburtstag hat, und da wir von Wuschel nicht wissen, wann er geboren wurde, geben wir ihm den 23.Februar als seinen Geburtstag.

Die verbleibenden zwei Stunden zu Hause genießen wir gemeinsam mit dem Hund und würden sein Hiersein am liebsten hinauszögern, aber die Uhr läuft erbarmungslos weiter. Nun wird es Zeit aufzubrechen, um ihn am Tierheim abzugeben, wenn wir uns nicht den Zorn von Herrn F. zuziehen wollen, nur weil wir unpünktlich sind. Als wir dort ankommen, begrüßt uns das übliche laute Hundegebell. Kein Wunder, dass Wuschel bereits eine heisere Stimme hat, denn jeder bellt jeden an. Die Hunde sind immer extrem aufgedreht, wenn sie wissen, dass die Gassi-Geher kommen, oder wenn es Fressen gibt. Die Lautstärke ist selbst für menschliche Ohren unangenehm. Wie muss es erst den Hundeohren ergehen? Noch im Kofferraum leine ich Wuschel an, hebe ihn aus dem Auto, gehe zur Klingel und läute.

Es kommt niemand.

Wir stehen vor der verschlossenen Tür des Tierheims und warten geduldig. Und warten und warten. Selbst Wuschel dauert es zu lange, und plötzlich erhebt er fordernd, aber nicht laut, seine Stimme und bellt.

„WAU, WAU!“

Eine Minute später, erscheint Herr F. Wir geben ihm den Hund, nicht ohne dass ich noch einmal liebevoll über Wuschels Rücken streiche.

„Mach’s gut, mein Kleiner, bis morgen.“

Auf dem Weg zu unserem Auto, sage ich zu Matthias: „Bin ich froh, wenn wir ihn zu uns nehmen! Jedes Mal dieser Abschied, er weiß doch gar nicht, wohin er nun wirk-

lich gehört? Ins Tierheim oder zu uns? Es ist ja nicht mehr lange bis zum 23. Februar.“

Matthias hängt genauso wie ich seinen Gedanken nach.

Als wir bei uns ankommen, erscheint uns das Haus bereits leer ohne Wuschel. Es ist unglaublich, wie schnell man sich an ein Tier gewöhnen kann.

Jetzt fiebere ich dem Hundeeinzug entgegen und zähle quasi die verbleibenden Tage bis zum 23. Februar rückwärts. Unser Umbau nimmt uns sehr in Anspruch, und wir nutzen die Zeit umso intensiver, wenn wir Wuschel für die Nacht ins Tierheim zurück gebracht haben.

Wir räumen den Dreck aus der oberen Etage weg, der alte Teppichboden muss zur Mülldeponie und Matthias rollt ihn zusammen. Ich biete mich an, diese Aufgabe zu übernehmen, er packt mir den ganzen Müll in den Kofferraum. Wir liegen gut in der Zeit, es ist Samstagnachmittag, und wenn wir alles erledigt haben, wollen wir uns auf den Weg zu Marlies, meiner Freundin machen, die heute ihren Geburtstag feiert.

Ich halte vor der Schranke der Mülldeponie, gebe meine 5 Euro für die Entsorgung ab und lasse mir zeigen, wohin ich die Teppichabschnitte entsorgen kann. Ich öffne den Kofferraum, nehme eine zusammengerollte Teppichleiste aus dem Wagen, als sich diese plötzlich, unter Spannung stehend, öffnet. Wie ein Peitschenschlag trifft sie mein Auge. Ich sehe Sterne, taumle durch den heftigen Schlag und fühle einen unglaublichen Schmerz. Ich halte mir das rechte Auge und spüre etwas Warmes zwischen meinen Fingern. Ich kann nichts mehr sehen, alles ist milchig und verschwommen. Der Mann, der mir beim Entladen geholfen hat, sieht meine Hilflosigkeit.

„Blute ich aus dem Auge?“ frage ich ihn.

„Das sieht nicht gut aus“, antwortet er mir. „Sie bluten! Soll ich einen Krankenwagen rufen?“

In mir überschlagen sich die Gedanken. Wenn ich mit dem Sanka in die Klinik gebracht werde, weiß Matthias erst nach einiger Zeit, warum ich nicht zurückkomme. Ich lehne das Angebot ab, obwohl es mir schlecht geht. Ich fahre mit dem Auto nach Hause und halte mir während der Fahrt mit der rechten Hand das Auge zu und kann nur noch einäugig gucken. Ich möchte nur noch nach Hause zu Matthias, und dann besprechen wir alles, was weiter geschehen soll.

Ich bin froh, als ich zu Hause ankomme.

„Matthias, wir sollten in die Augenklinik fahren, ich habe mir das Auge brutal verletzt. Es scheint, als ob ich Glaskrümel im Auge habe“.

Matthias kommt die Treppe runter, sieht mich an und stöhnt. „Oh, mein Gott!. Du siehst ja übel aus. Wie ist das passiert? Wahrscheinlich warst du wieder so hektisch und hast nicht richtig geguckt!“

Seinen Kommentar kann ich im Moment nicht gebrauchen. Ich berichte ihm, was und wie es passiert ist, und er macht sich heftige Vorwürfe, dass er mir nicht gesagt hat, dass die Teppichleiste unter Spannung gestanden hat.

„Du hast Glück gehabt, dass die Nägel auf der anderen Seite der Rolle waren, hättest du sie ins Auge bekommen, wäre dein Auge hin gewesen!“

Mich schaudert.

Während der Fahrt in die Klinik geht es mir gar nicht gut. Das Auge brennt unerträglich. Wir fahren ins Klinikum Süd und uns wird mitgeteilt, dass sie für Augensachen nicht zuständig sind, sondern das Klinikum Nord.

Die Höllenfahrt will kein Ende nehmen, wir müssen, um ins Klinikum Nord zu kommen quer durch Nürnberg fahren.

Endlich bin ich in der Notaufnahme. Viele, viele Menschen sitzen dort. Ich kenne es aus meinem Beruf als medizinisch-technische Assistentin. Wenn ich Bereitschaftsdienst am Wochenende hatte, ging es oft sehr hektisch zu, und die Wartezeiten auf Grund der geringeren Besetzung waren lang. Nun bin ich selbst so ein Patient, muss warten, bis sich jemand um mich kümmert. Mein Auge brennt nach wie vor.

Die Wartezeit nutze ich, um Marlies in Kenntnis zu setzten. Mit dem gesunden linken Auge erblinzelne ich ihre Telefonnummer und wähle.

„Hallo Marlies, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag! Alles Gute für dich!“ Dabei halte ich mir die Hand mit dem Taschentuch vor das Auge. „Ich muss dir leider mitteilen, dass wir nicht kommen können. Ich habe mir mein Auge verletzt!“

Ordnung muss sein. Wir sind schließlich eingeladen, also habe ich die Pflicht, wenn wir nicht können, abzusagen. Matthias war wegen meiner Anmeldeformulare beschäftigt, sonst hätte er diesen Anruf getätigt.

Ich berichte ihr, was passiert ist und höre aus dem Telefonhörer nur ein mitfühlendes „Oh, Gott, oh, Gott!“

„Ich melde mich wieder bei dir. Ich muss aufhören. Ich bin aufgerufen worden. Tschüss.“

Ich gehe zu dem Untersuchungsraum, in dem eine junge Ärztin auf mich wartet. Ich schildere ihr das Erlebte. Sie sieht sich das lädierte Auge an, und an ihrer Mimik erkenne ich, dass es nicht gut aussieht.

„Ich muss Ihnen eine Betäubung geben, damit ich die Fremdkörper entfernen kann“.

Ich lege den Kopf zurück, und sie betäubt das Auge. Trotz der lokalen Narkose spüre ich jede Handhabung. Es tut höllisch weh, als sie mir mit der Pinzette einen Fremdkörper nach dem anderen aus dem Auge zieht. Es ist die reinste Folter. Mir rinnt der Angstschweiß den Rücken runter. Endlich ist die Prozedur beendet, und sie verkündet mir die Diagnose.

„Das Augenbindegewebe ist gerissen und es muss wahrscheinlich genäht werden. Dazu muss ich Sie stationär aufnehmen. Ich melde Sie auf der Station 14 an und werde später noch einmal eine Untersuchung an Ihrem Auge vornehmen. Sollte sich der Augendruck erhöhen, müssen wir sofort handeln. Ihr Auge hat bei dem Schlag quasi eine Gehirnerschütterung erhalten. Es ist am ersten Tag ganz wichtig, alles unter Kontrolle zu haben.“

Wie begossene Pudel gehen Matthias und ich auf die Station 14, und mir wird das Zimmer gezeigt.

Mir ist zum Heulen zu Mute.

„Na, dann werde ich mal nach Hause fahren und dir deine Sachen holen. Wuschel-Spaziergang fällt heute aus!“

Stunden später kommt Matthias zurück, voll bepackt mit meinen Sachen. Wir wissen nicht, wie lange ich bleiben muss. Was würde ich für einen Gassi-Rundgang geben, anstatt hier zu liegen.

Die Schwester betritt das Zimmer und verabreicht mir eine Augensalbe, damit die Schwellung und die Entzündung abebbt. Dann bekomme ich einen Augendeckel.

„Ich sehe aus wie ein einäugiger Pirat. Fehlt nur der Totenkopf auf der Mütze und die Metallhand.“

„Zum Scherzen biste ja wieder aufgelegt!“

„Na ja, Galgenhumor, weil ich an der momentanen Situation leider nichts ändern kann. Du kannst aber nach Hause fahren, spät genug ist es geworden und außerdem fange ich an, müde zu werden durch die ganze Aufregung“.

Matthias verabschiedet sich, und ich versuche zu schlafen. Lange denke ich noch an diesen Tag und ärgere mich im Nachhinein über meine Ungeschicklichkeit auf der Mülldeponie. Matthias hatte sich große Vorwürfe gemacht, dass er mir nicht gesagt hatte, dass die Teppichleiste eine Eigendynamik entwickeln kann. So vergeht die Nacht, mir ist kalt, und ich bin froh, dass ich mir den Bademantel über den dünnen Bettbezug legen kann. In der Nacht schlafe ich mehr schlecht als recht.

Bei der Visite bekomme ich die Empfehlung, weiterhin unter Beobachtung im Krankenhaus zu bleiben. Falls etwas passieren sollte, kann ich gleich versorgt werden. Das leuchtet mir ein und ich stimme zu.

Während meines Aufenthaltes denke ich viel an Wuschel. Wenn er bei uns ist, müssen wir jemanden kennen, der ihn nehmen könnte, wenn uns mal gesundheitlich etwas zu stößt. Bloß wen? Bringen wir ihn zur Betreuung ins Tierheim? Da kennt er das Personal und als Übergangslösung wäre es nicht schlecht. Aber, wenn er im Tierheim ist, weiß er dann, dass es nur zur Betreuung ist, und denkt er nicht, dass er wieder abgeschoben wird?

Wuschel, vom Streuner zum Champion

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