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Ein geheimnisvoller Todesfall

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Der Tod war kein seltener Gast zu jener Zeit in den Trümmern von Königsberg. Nach Bombenangriffen und Belagerung, Standgerichten und Häuserkämpfen, nach Hunger, Verwüstung und Vergeltung war die alte ostpreußische Krönungsfeste in jeder Hinsicht ruiniert. Menschenleben zählten nicht mehr viel.

So nahm auch kaum jemand Notiz, als am 7. Dezember 1945 Alfred Rohde starb – ein frühzeitig gealterter, kranker Mann, der dem eklatanten Versorgungsnotstand zum Opfer fiel, wie so viele der verbliebenen Stadtbewohner. »Typhus« stand in seinem Totenschein, eine Krankheit, vom Hunger gezeugt, die ohne ausreichende Medikamente in vielen Fällen tödlich verlief. Wenige Tage später folgte Rohdes Frau ihrem Mann ins Grab, auch sie überlebte die Zeit der Entbehrungen nicht. Ein tragisches Schicksal – eines unter Abertausenden in einem Panoptikum von Unrecht und Grausamkeit.

Und doch sollte sich dieser Todesfall als besonders dramatisch erweisen, hatte er doch unabsehbare Folgen, die bis in die Gegenwart reichen. Denn der unscheinbare Beamte Dr. Alfred Rohde nahm ein Geheimnis mit ins Grab, das außer ihm niemand aufzulösen vermochte und bis heute nicht vermag.

Der langjährige Direktor der Königsberger Kunstsammlungen war von Amts wegen Hüter des legendären Bernsteinzimmers. Nachdem die deutsche Besatzungsmacht das weltberühmte Wandgetäfel 1941 aus dem Katharinenpalast bei St. Petersburg entführt und nach Königsberg verfrachtet hatte, stand es unter der besonderen Obhut des Bernsteinkenners. Er ließ die kostbaren Wandverzierungen, in Kisten verpackt, vor Bombenangriffen in Sicherheit bringen. Und nur er konnte verlässlich Auskunft darüber geben, was in den Turbulenzen des Jahres 1945 weiter mit ihnen geschah. Wurden sie noch, wie ursprünglich geplant, aus der belagerten Stadt abtransportiert? Fielen sie dem Feuer von Luftangriffen, Artilleriegeschossen oder Siegesfeiern zum Opfer? Wurden sie verbunkert, vergraben oder verschüttet? Kein Dokument überlieferte eine eindeutige Antwort, keine Zeugenaussage erbrachte einen schlüssigen Beweis. Einzig der Schatzwächter Rohde hütete nach Kriegsende die ganze Wahrheit über das Schicksal des Bernsteinzimmers – bis zu seinem überraschenden Tod.

Kein Wunder, dass sich bald schon die Legenden rankten. Rohde habe Selbstmord begangen, sei gar von finsteren Mächten ermordet worden, um den Standort des Bernsteinzimmers im Verborgenen zu halten. Der Arzt, der seinen Tod bescheinigt hatte, sei unmittelbar darauf aus der Stadt verschwunden, mehr noch: Als Rohdes Grab geöffnet wurde, um die Todesursache zu überprüfen, sei kein Leichnam aufzufinden gewesen, das Rätsel seines plötzlichen Ablebens somit weiter offen.

Auf der Grundlage der verfügbaren Belege und Zeugenaussagen, etwa der behandelnden Krankenschwester, entlarven sich all diese immer wieder gern kolportierten Gruselgeschichten unzweifelhaft als Märchen. Die Verschwörungstheorien mochten gleichwohl nie verstummen.

Die Geschichte der Suche nach dem verlorenen Schatz aus Bernstein ist reich an modernen Mythen dieser Art. Wie kaum ein anderes Rätsel der Geschichte setzt der schillernde Stoff Fantasien frei. Sein mysteriöses Verschwinden hat das Bernsteinzimmer erst richtig berühmt gemacht. Schon den Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts galt es als das »achte Weltwunder«. Die Wände des etwa hundert Quadratmeter großen Saales waren rundum mit zierlichen Dekorationen, weich glänzenden Mosaiken und ganzen Gemälden aus Bernstein verkleidet, zu deren Herstellung fünf bis zehn Tonnen Rohmaterial verbraucht wurden. Akanthusranken und Rosetten, blitzendes Kristall, glitzernde Lüster und funkelnde Leuchter trugen zum Zauber einer einzigartigen Schatz-Kammer bei, dem sich kaum ein Betrachter entziehen konnte. »Der Stil des Bernsteinzimmers ist ein Gemisch aus Barock und Rokoko und ein wahres Wunder«, begeisterte sich 1912 der russische Kunsthistoriker Sergej N. Wilkowskij, »nicht nur wegen des hohen Materialwertes, der kunstvollen Schnitzereien und der Leichtigkeit der Formen, sondern hauptsächlich wegen des schönen, bald dunklen, bald hellen, aber immer warmen Tons des Bernsteins, der dem ganzen Zimmer einen unaussprechlichen Reiz verleiht.« Der Kenner fasste damit den Eindruck der meisten Besucher des Saales in Worte, die sich von der Wirkung des leuchtenden Gesteins verzaubern ließen.

Dass dieses auf einen Wert von 125 Millionen Dollar geschätzte Wunder-Werk unwiederbringlich verschollen sein sollte, damit mochten sich Generationen von Schatzsuchern nicht abfinden. An die hundert Versionen über den Verbleib der Holzkisten mit dem erlesenen Inhalt zählt die Chronik bis heute, und es kommen weiter neue hinzu. In Bunkeranlagen Thüringens wurde das verschollene Tafelwerk ebenso vermutet wie in Schiffsbäuchen auf dem Grund der Ostsee, in verschütteten Stollen Niedersachsens ebenso wie in ostpreußischen Sümpfen. Kellergruften von Schlössern, Burgen oder Kirchen im Osten wie im Westen Europas orteten Augenzeugen als potenzielle Fundorte, bis in die Schweiz, sogar in die Vereinigten Staaten von Amerika soll der Wandschmuck der Zaren geraten sein.

Beteiligt an der Großfahndung waren Kunstexperten, Historiker, Abenteurer, Detektive, Grabungsprofis, enthusiastische Amateure, verbohrte Psychopathen, Politiker wie auch Geheimdienste in Ost und West. Viele Ingredienzien eines Kriminalromans hafteten der Geschichte des verlorenen Schatzes an oder wurden in sie hineingemengt: Spionage, Verschwörungen, Adelsverbindungen, Nazi-Seilschaften, Kalter Krieg, Verrat, sogar Mord. Wildeste Spekulationen wucherten über den Verbleib der Kammer ebenso, wie scharfsinnige Argumentationsketten entworfen wurden.

Doch nicht nur akademische Gedankenspiele setzten die Schatzgräber in Gang, sondern auch Schaufelräder, Bagger, Spitzhacken und Spaten, die an Dutzenden vermeintlicher Fundstellen die Erde aufwühlten, zugemauerte Eingänge durchbrachen, verschüttete Gänge freilegten. Tiefseetaucher durchleuchteten den Rumpf längst versunkener Fregatten aus dem Zweiten Weltkrieg. Keine der Grabungen und Tauchausflüge hat auch nur Bruchstücke des prominenten Objektes zu Tage gefördert. Und dennoch ist die Aussicht, die verborgenen Überreste dereinst noch zu bergen, keineswegs absurd. Ein Beweis für die restlose Vernichtung des Bernsteinzimmers ist bisher gleichfalls ausgeblieben. Der Tatendrang der Kunstfahnder ist ebenso ungebrochen wie die Faszination des goldgelben Schimmergesteins.

Das Bernsteinzimmer

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