Читать книгу Der zweite Weltkrieg - Guido Knopp - Страница 6
ОглавлениеDER GRENZBRUCH
Es ist ein Foto, das zum Symbol für die Entfesselung eines mörderischen Weltenbrands wurde: Soldaten in deutscher Uniform, die mit sichtlichem Vergnügen und triumphierender Überheblichkeit eine Grenzschranke mit dem rotweißen polnischen Adler zerschmettern. 1. September 1939: Mit einer gemeinschaftlichen Hauruckaktion beginnt in der Nähe von Danzig Hitlers Krieg – und die Unterwerfung einer Nation, die nach dem Willen des »Führers« auf dem Kehrichthaufen der Geschichte landen sollte.
Nur wenige Kilometer entfernt hatte in den frühen Morgenstunden dieses Tages das deutsche Kriegsschiff »Schleswig-Holstein« das Feuer auf die Westerplatte eröffnet – eine Landzunge mit polnischen Munitionsdepots gegenüber dem Hafen von Danzig. Wenig später schlug überall an der deutsch- polnischen Grenze die deutsche Artillerie los, überquerten die ersten Einheiten der Wehrmacht ohne Kriegserklärung die Grenzlinie.
Gegen zehn Uhr vormittags dann trat Hitler in feldgrauer Uniform – jenem Rock, der ihm »der heiligste und teuerste« sei – vor das Reichstagsplenum in Berlin. Er sprach von den Qualen des »Versailler Diktats«, stilisierte sich zum friedliebenden Staatsmann, der allein wegen der Unvernunft seiner Feinde nun zum letzten Mittel greifen müsse. Dann berichtete er von Zwischenfällen, die sich in der Nacht an der Grenze zu Polen ereignet hätten, um schließlich auszurufen: »Polen hat den Kampf gegen die Freie Stadt Danzig entfesselt! Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch durch reguläre Soldaten geschossen. Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!«
Es waren gleich zwei Lügen, die der »Führer« damit in die Welt setzte. Die eine unterlief ihm – unbewusst – im sprichwörtlichen Eifer des Gefechts. Der deutsche Angriff hatte schon früher begonnen. Es war genau 4:47 Uhr, als Kapitän zur See Gustav Kleikamp an Bord der »Schleswig-Holstein« den Befehl »Feuererlaubnis« gegeben hatte. Die zweite Lüge war eine bewusste Täuschung der Öffentlichkeit: Es werde zurückgeschossen, so die Behauptung, die nun in vielerlei Variationen wiederholt wurde. Dabei waren es die Deutschen selbst gewesen, die das Feuer eröffnet hatten.
Bis hierhin hatte der Diktator seine außenpolitischen Ziele stets ohne Krieg erreichen können: Die Besetzung des entmilitarisierten Rheinlands, der »Anschluss« Österreichs, die »Heimholung« des Sudentenlands, die »Erledigung der Rest-Tschechei« – spektakuläre Vabanquespiele, geglückt durch ein Gemisch aus unverhohlenen Drohungen und massivem Druck, verbunden mit der Kriegsunlust seiner im »Appeasement« befangenen Gegner, die militärisch und politisch nicht in der Lage waren, einer Gewaltaktion mit Gegengewalt zu begegnen.
Die »Vergewaltigung Prags« jedoch wurde zum Wendepunkt: Neben Großbritannien gab nun auch Frankreich Polen ein uneingeschränktes Beistandsversprechen – man wollte nicht weiter tatenlos zusehen, wie sich Hitler den Kontinent unter den Nagel riss. Die britisch-französische Garantieerklärung für Warschau verzögerte den Waffengang nur noch einmal – aufhalten konnte sie ihn nicht mehr. Mit derUnterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts vom 23. August 1939 hatte Hitler im Osten dann endgültig freie Hand für seinen Krieg.
FREIE STADT DANZIG
Nach dem Ersten Weltkrieg war Danzig zum Freistaat erklärt worden, der dem Völkerbund direkt unterstand und in dem Polen gewisse wirtschaftliche Privilegien besaß. Die Bevölkerung bestand zu über 90 Prozent aus Deutschen, von denen die meisten nach 1933 Anhänger der NSDAP waren. Westlich von Danzig erhielt Polen einen Landstrich bis zur Ostsee zugesprochen, der ihm einen eigenen Zugang zum Meer garantierte. Dieser sogenannte »Korridor« trennte Danzig, aber auch die Provinz Ostpreußen, vom Reichsgebiet, und wurde zu einem permanenten Zankapfel zwischen Deutschland und Polen.
1938 war das Sudetenland der Hebel gewesen, den Hitler im Fall der Tschechoslowakei benutzt hatte. Jetzt war diese Rolle der Freien Stadt Danzig und den Deutschen im sogenannten »Korridor« zugefallen, die seit 1920 im polnischen Staat lebten. Unablässig hatte die deutsche Propaganda seit Frühjahr 1939 angebliche Gewaltakte gegen die deutsche Minderheit in Polen angeprangert, deren Schutz das Reich zu gewährleisten habe. Zudem müsse dem Selbstbestimmungsrecht der Danziger Bevölkerung Rechnung getragen und der Anschluss an das Reich vollzogen werden. Intern freilich sprach Hitler Klartext: »Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um die Erweiterung des Lebensraumes im Osten und Sicherstellung der Ernährung.«
Er werde »propagandistischen Anlass zur Auslösung des Krieges geben, gleichgültig, ob glaubhaft«, so der Diktator zynisch. Der Sieger werde später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt habe oder nicht. Der Auftrag für die hinterhältige Köpenickiade ging an Reinhard Heydrich, Chef des Sicherheitsdienstes der SS. Um zwanzig Uhr am Abend des 31. August stürmten fünf SS-Männer unter dem Kommando von SS-Sturmbannführer Alfred Naujocks den grenznahen deutschen Radiosender Gleiwitz. Die Angestellten wurden niedergeschlagen und gefesselt, wenig später unterbrachen die Männer die laufende Sendung. Einer von ihnen verlas über ein Notmikrofon in polnischer Sprache einen Aufruf zum Widerstand gegen die Deutschen. Feuerstöße aus Maschinengewehren beendeten das gespenstische Schauspiel. Zurück blieb der Leichnam eines am Vortag verhafteten polnischstämmigen Oberschlesiers, der als Beweis für den angeblichen polnischen Überfall herhalten musste.
Die meisten Deutschen schliefen noch fest, als der Krieg in den Morgenstunden des ersten Septembertags begann. Nur die Grenzbewohner im Osten hörten den Lärm der Geschütze und der Flugzeugmotoren. In Blitzkriegsmanier drangen die deutschen Panzerverbände tief auf polnisches Territorium vor, in ihrem Schatten folgte die Infanterie. Görings Luftwaffe bombardierte Verkehrsknotenpunkte und Flugplätze in ganz Polen. Die polnische Armee war den weit überlegenen deutschen Truppen ausgeliefert.
Auch aus Danzig selbst überschritten deutsche Infanterieeinheiten die Grenzen zum polnischen »Korridor«. Deutsche Soldaten im entmilitarisierten Danzig? Eigentlich gab es sie gar nicht. Offiziell firmierten sie als »Landespolizisten«: Vier Bataillone, rekrutiert aus militärisch ausgebildeten Studenten der Danziger Hochschulen sowie Wehrmachtreservisten, die man in den Monaten zuvor heimlich in die Stadt verfrachtet hatte. An ihren Uniformen fehlt das sonst übliche Hoheitsabzeichen, der »Wehrmachtadler« über der rechten Brusttasche.
Als am frühen Nachmittag dieses Schicksalstages Soldaten der »Landespolizei« aus Danzig in Richtung des polnischen Gdynia (Gdingen) marschierten, entstand das berühmte Foto. Der damals 21-jährige Werner Thimm war einer von ihnen. Seine Batterie war bereits am Morgen auf polnisches Territorium vorgerückt. Er wurde dann aber mit dem bespannten Fuhrwerk seines Infanteriegeschützes zurück zur Kaserne nach Danzig-Langfuhr geschickt, um Munition zu holen. An der Grenzübergangsstelle bei Kolibki hielt ihn eine Gruppe deutscher Landespolizisten auf: »Die riefen fröhlich: ›Komm doch mal runter, du kannst uns helfen, hier wird fotografiert.‹ Die Lage war ruhig, aber man hörte den Gefechtslärm von der Westerplatte. Ich sah PK-Leute mit Kameras. Dann wurden wir von ihnen an der Schranke arrangiert. Und mit einem ›Hau ruck!‹ zerbrachen wir den Schlagbaum – das war nicht schwer, denn er war bis auf einen kleinen Rest durchgesägt. Ich habe das eher lächerlich empfunden. Doch vielleicht dachten die anderen, dass sie etwas Bedeutungsvolles taten.«
Der »Grenzbruch« als propagandagerechte Inszenierung: Damit war auch schon am Anfang dieses Krieges die Wahrheit das erste Opfer auf dem Schlachtfeld der Propaganda.