Читать книгу Reise in die Verlorengegangenheit - Gundolf S. Freyermuth - Страница 10

5

Оглавление

»Soviel Humanität, soviel Menschlichkeit wie man bei den emigrierten deutschen Juden antrifft, kann man in Deutschland mit der Laterne suchen ...« 55

Eine Kultur wandert aus • Hunderttausende56 mussten Deutschland verlassen, als die Nazis 1933 ihre blutige Jagd begannen.57 Auch die Elite der deutschen Kultur rettete sich ins Exil. Ein in der deutschen Geschichte einmaliger Exodus an Talent und Wissen, an Erfahrungen und an handwerklichem Können setzte ein. Kaum ein Schriftsteller von Rang mochte den Nazis dienen; die künstlerische Avantgarde floh den Zensurterror, die Bauhäusler ebenso wie die Neutöner; die Teams ganzer Filmproduktionen fanden sich fast vollständig in Hollywood ein, komplette Forschungsinstitute siedelten in die USA um, über die Hälfte aller Ordinarien emigrierte, unter den dreitausend Spitzenwissenschaftlern, die Deutschland den Rücken kehrten, waren allein vierundzwanzig Nobelpreisträger.

Die Namensliste derer, die das Exil der Unterwerfung unter das NS-Regime vorzogen oder die von den Nazis verjagt wurden, liest sich wie ein »Who was who?« der deutschsprachigen Intelligenz. Nur in Gestalt eines Lexikons ließe sich diese unfreiwillige »Bewegung« adäquat erfassen. Bemerkenswert an einem solchen Kompendium wäre, dass es mit gleichem Recht zwei gänzlich verschiedene Titel tragen könnte. Etwa: »Die Anti-Nazi-Emigration 1930-50« oder »Kulturfahrplan 1930-50«.

Denn mag die Liste der gebildeten Emigranten, die aus politischen Gründen das Land verlassen mussten, auch zu keiner Zeit kurz gewesen sein, für die kürzesten tausend Jahre, die Deutschland bislang erlebte, ist sie gewiß am längsten. Anders als in früheren Zeiten politischer Repression emigrierten vor dem deutschen Faschismus nicht nur einzelne Intellektuelle und Künstler - eine ganze Kultur wanderte aus.

In ein Lexikon der Exilanten aus dem deutschsprachigen Kulturraum, die während der dreißiger und vierziger Jahre in den USA lebten, wären - neben vielen anderen - aufzunehmen die:

– Schriftsteller / Drehbuchautoren / Verleger: Raoul Auernheimer, Vicki Baum, Richard Beer-Hofmann, Franz Blei, Bert Brecht, Hermann Broch, Alfred Döblin, Albert Ehrenstein, Lion Feuchtwanger, Gottfried Bermann Fischer, Bruno Frank, Leonhard Frank, George Froeschel, Curt Goetz, Claire Goll, Ivan Goll, Oskar Maria Graf, Martin Gumpert, Hans Habe, Wieland Herzfelde, Stefan Heym, Felix Jackson (i.e. Joachimson), Alfred Kantorowicz, Hermann Kesten, Frederick Kohner, Annette Kolb, Fritz H. Landshoff, Leo Lania, Stefan Lorant, Emil Ludwig, Erika Mann, Heinrich Mann, Klaus Mann, Thomas Mann, Hans Marchwitza, Ludwig Marcuse, Walter Mehring, Franz Molnar, Alfred Neumann, Hertha Pauli, Alfred Polgar, Walter Reisch, Erich Maria Remarque, Curt Riess, Roda Roda, Hans Sahl, Curt Siodmak, Robert Thoeren, Ernst Toller, Friedrich Torberg, Franz Ullstein, Hermann Ullstein, Fritz von Unruh, Berthold Viertel, Salka Viertel, Karl Vollmoeller, Franz Carl Weiskopf, Franz Werfel, Kurt Wolff, Carl Zuckmayer;

– Bildenden Künstler / Fotografen / Architekten: Josef Albers, Max Beckmann, Erwin Blumenfeldt, Alfred Eisenstaedt, Max Ernst, Lyonel Feininger, Walter Gropius, George Grosz, André Kertesz, Ludwig Mies van der Rohe, László Moholy-Nagy, Martin Munkacsi;

Komponisten / Dirigenten / Virtuosen: Béla Bartók, Paul Dessau, Hanns Eisler, Paul Hindemith, Friedrich Hollaender, Wladimir Horowitz, Emmerich Kálmán, Erich Kleiber, Otto Klemperer, Erich Wolfgang Korngold, Ernst Krenek, Artur Schnabel, Arnold Schönberg, Rudolf Serkin, Max Steiner, Robert Stolz, Ernst Toch, Bruno Walter, Franz Waxman (i.e. Wachsmann), Kurt Weill;

– Theater- und Filmregisseure / Produzenten: Curtis (i.e. Kurt) Bernhardt, Erich Charell, Michael Curtiz (i.e. Kertész), Paul Czinner, Paul Falkenberg, Leopold Jessner, Paul Kohner, Fritz Kortner, Henry Koster (i.e. Hermann Kosterlitz), Fritz Lang, Anatole Litvak, Ernst Lubitsch, Max Ophüls, Gerd Oswald, Richard Oswald, Erwin Piscator, Erich Pommer, John Pommer, Otto Preminger, Arnold Pressburger, Gottfried Reinhardt, Max Reinhardt, Wolfgang Reinhardt, Robert Siodmak, Douglas Sirk (i.e. Detlef Sierck), Samuel P. Spiegel, Erich von Stroheim, William Thiele, Billy Wilder, William Wyler, Fred Zinnemann;

– Sänger / Schauspieler: Gitta Alpar, Betty Ammann, Siegfried Arno, Alfred Bassermann, Elisabeth Bergner, Curt Bois, Felix Bressart, Ernst Deutsch, Marlene Dietrich, Martha Eggert, Carl Esmond, Valeska Gert, Alexander Granach, Dolly Haas, Ludwig Hardt, Lilian Harvey, Paul Henreid (i.e. von Hernried), Oskar Homolka, Jan Kiepura, Martin Kosleck, Hedy Lamarr (i.e. Hedwig Kiesler), Francis Lederer, Lotte Lenya, Peter Lorre, Fritzi Massary, Grete Mosheim, Lotte Palfi, Luise Rainer, Ludwig Stoessel, Szöke Szakall, Helene Thimig, Hans Heinrich von Twardowski, Conrad Veidt, Helene Weigel, Wolfgang Zilzer;

– Geistes- und Naturwissenschaftler: Theodor W. Adorno, Richard Alewyn, Günther Anders, Hannah Arendt, Hans Bethe, Bruno Bettelheim, Ernst Bloch, Ernst Cassirer, Albert Einstein, Erik Erikson, Walther Friedlaender, Erich Fromm, Peter Gay, Hans Gerth, Kurt Goedel, Max Horkheimer, Siegfried Kracauer, Paul Lazarsfeld, Leo Löwenthal, Golo Mann, Herbert Marcuse, Ludwig Marcuse, Franz Neumann, Johann von Neumann, Henry Pachter, Erwin Panofsky, Kurt Pinthus, Wilhelm Reich, Hans Reichenbach, Leo Szilard, Edward Teller, Paul Tillich, Max Wertheimer, Karl August Wittfogel.

Über die weitreichenden Folgen der Vertreibung aus Deutschland und Europa urteilte Thomas Mann bereits 1941 ebenso selbstbewusst wie klarsichtig: Dieser Kultur-Exodus bedeute »eine neuartige Form des Exils, wesentlich verschieden von früheren dem Sinne nach; es hat direkt zu tun mit der Auflösung der Nationen und der Vereinheitlichung der Welt. Ich bin einfach ›bedeutender‹ als die in Deutschland sitzen gebliebenen Esel, die mich für eine verlorene Existenz halten.«58

Nicht anders beschrieb Theodor W. Adorno, ebenfalls aus der klaren Perspektive des Emigranten, kurz nach dem Ende des deutschen Faschismus dessen Hinterlassenschaft: »Dem Dritten Reich ist kein Kunstwerk, kein gedankliches Gebilde gelungen, dass auch nur der armseligen liberalistischen Forderung nach ›Niveau‹ hätte Genüge tun können. Der Abbau der Humanität und die Konservierung der Geistesgüter waren so wenig vereinbar wie Luftschutzkeller und Storchennest, und die kämpferisch erneuerte Kultur sah schon am ersten Tag aus wie die Städte an ihrem letzten, ein Schutthaufen.«

Aber nicht allein die künstlerische und intellektuelle Elite ging der deutschen Kultur verloren. Vernichtet wurde ebenfalls das Publikum, das in Berlin den sozialen Nährboden der Weimarer Avantgarde gebildet hatte. Ohne den finanziellen wie ideologischen Rückhalt in dieser großstädtischen Schicht eines »geistigen Mittelstandes«, in der jüdische Deutsche einen überproportional hohen Anteil stellten, hätte es zur vielgerühmten »kulturellen Blüte«, zu der breiten Entfaltung des Literatur- und Theater-, Film- und Musiklebens nicht kommen können.60 Der Exodus der »unbekannten Emigranten« war daher von nicht minder verheerender Wirkung. In welch hohem Maße das soziale Umfeld Quantität wie Qualität der kulturellen Produktivität mitbestimmte, wurde spätestens durch seinen Verlust deutlich: in den Mangelerscheinungen des Exils ebenso wie später, nach dem Ende des Faschismus, in der Vielzahl vergeblicher Versuche, den Bann des herbeigemordeten Provinzialismus zu brechen.

Was für die Zeitgenossen hunderttausendfaches Scheitern von Lebensplänen bedeutete, Verfolgung, Leiden, Lebensgefahr und nur zu oft Tod, stellt sich unter der Perspektive einer vergleichsweise unbeteiligten Nachwelt - auch - als Teil eines breiten »Kulturaustauschs« dar, der den deutschen Verlust in anderen Teilen der Welt als Gewinn erscheinen lässt.

Die meisten Flüchtlinge blieben zunächst im europäischen Ausland, in Paris und Wien, Prag und London. Überraschend wenige zogen auf Anhieb die USA in Betracht. Man wollte nicht allzu weit von Deutschland fort. Denn dass der »braune Spuk« lange andauern könnte, mochte kaum einer glauben.

»Wenn ich die Hoffnung aufgegeben hätte, wär ich schon in Amerika«, diese Ansicht äußerte Heinrich Mann noch 1938;61 ohne lebensbedrohende Not Abschied von Europa zu nehmen, kam ihm nicht in den Sinn.

Doch der Vormarsch faschistischer Diktaturen machte keinen Halt - autoritäre Regimes herrschten Mitte der dreißiger Jahre außer in Deutschland und Italien bereits in Portugal, Griechenland, Polen, Jugoslawien, Bulgarien und Österreich. 1939, nach der Niederlage des republikanischen Spanien, waren elf europäische Staaten unter der Kontrolle faschistischer oder halbfaschistischer Regierungen.62 Kurz darauf begannen Hitlers Armeen, in deren Etappe die Gestapo reiste, die heimatlosen Flüchtlinge weiter vor sich herzutreiben, sie aus den wenigen noch freien Ländern der Alten Welt zu verjagen, aus der Tschechoslowakei und Dänemark, aus Holland und schließlich aus Frankreich - bis die Neue Welt, als hätten die faschistischen Jäger den konservativen Mythos von der Westwanderung der Kultur parodieren wollen, zur fast letzten Zuflucht wurde.

Auch Heinrich Mann musste 1940, bald siebzigjährig, zu Fuß die Pyrenäen überqueren und sich nach Lissabon durchschlagen, weil Amerika zur einzigen Hoffnung geworden war, die er noch hegen konnte, als vom Nordkap bis Sizilien, von Amsterdam bis zum Ural die Totenkopf-Truppen wüteten.

Zehntausende gelangten in die Vereinigten Staaten, bis 1941 die Falle Europa endgültig zuschnappte. Es war eine einzigartige Invasion von Geistesarbeitern.

»Seit nach dem Fall von Konstantinopel im Jahr 1453 Gelehrte in großer Zahl nach Westeuropa geströmt waren«, schreibt der Literaturwissenschaftler James K. Lyon, »hatte die Welt keine so umfängliche, plötzliche Bereicherung einer Kultur auf Kosten einer anderen erlebt.«63

Ein einziges Mal wurde, für die zwölf Jahre des »Tausendjährigen Reiches«, der Einfluss der deutschen Kultur auf die USA größer als umgekehrt. Der Zugewinn an geistigem Potential half, Rückständigkeit und puritanische Enge im amerikanischen Kulturleben zu überwinden, die noch in den zwanziger Jahren Schriftsteller wie Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald oder Henry Miller ins Pariser »Exil« geführt hatten.

Die Aufnahme, die man der europäischen Elite in Amerika bereitete, schildert Tom Wolfe in seiner Tirade gegen das Bauhaus ironisch als triumphalen Einzug »weißer Götter«; ihrer Überlegenheit ergab sich die heimische Intelligenz, geplagt vom Kolonialkomplex, wehr- und willenlos: die Architektur wie die Malerei, die »ernste« Musik wie die Wissenschaften in toto, deren Prägung durch das Exil in einzelnen Disziplinen bis heute zu spüren ist.64

Nicht minder groß wurde der Einfluss der Flüchtlinge auf die populäre US-Kultur, wobei hier jedoch nicht die Betonung des ganz Anderen, sondern eine Assimilation den Erfolg ausmachte, die es manchem der Ankömmlinge erlaubte, wohl ausgestattet mit europäischen Erfahrungen, »amerikanischer« zu produzieren, als born citizens selbst es vermochten. Zur Dominanz Hollywoods trugen Emigranten ebenso bei wie dazu, dass der amerikanische Journalismus dem deutschen und französischen den Rang ablief; ein Beispiel ist der kometenhafte Aufstieg der 1936 gegründeten Illustrierten Life, nach dem Vorbild der Münchner und der Berliner Illustrierten konzipiert.

Das Ende der kulturellen Vorherrschaft Europas war nur ein kleiner Teil seines Niedergangs als politisches und wirtschaftliches Zentrum. »Hitler sei der beste Handlanger des Triumphes der amerikanischen Kultur«, spottete Claire Goll, die den Faschismus in New York überlebte.65 Und prophetisch klagte Thomas Mann in seinem kalifornischen Exil, nach dem Krieg würden die Europäer nurmehr »Graeculi« sein, machtlos wie einst die gebildeten Griechen im römischen Weltreich.66

Mitte der vierziger Jahre holte die Wirklichkeit diese Befürchtung ein: New York rückte unangefochten zur Finanzmetropole der westlichen Welt auf und auch zum Zentrum des Kunsthandels; Hollywood regierte unbestritten als kosmopolitische Filmhauptstadt; die US-Universitäten hatten sich in Kapitalen der Forschung verwandelt. In den USA und nicht länger in Europa lag von nun an das Zentrum des intellektuellen und künstlerischen Fortschritts - nicht nur, aber vor allem dank der Emigranten.

Verloren haben durch den Naziterror im historischen Saldo daher nicht allein die Hitler-Flüchtlinge ihre Heimat. dass die Einbuße für die Nachfolgestaaten des Dritten Reiches zu einem großen Teil irreversibel blieb, zeigte sich mit jedem Nachkriegsjahr deutlicher. Gegangen war »eine Minorität, von deren Verlust wir uns nie erholt haben«, wie Hans Magnus Enzensberger noch in den achtziger Jahren feststellte.67 Seit ihrem Bestehen ist die Bundesrepublik, auch darin Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches, für die Barbarei der nationalsozialistischen Diktatur mit Enge und Rückständigkeit gestraft. Eine Tradition war zerstört, die sich nicht so umstandslos wieder instandsetzen ließ wie die zerbombten Innenstädte. Anders als nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs fehlten nach der Befreiung vom Naziregime zu viele Köpfe für einen auch intellektuellen Wiederaufbau.

»Ein Ende fand«, schreibt der Historiker Horst Möller, »die zu kulturellen Leistungen von Rang führende deutsch-jüdische Symbiose, die in ihrer Größe und Eigenart unwiederbringlich ist. Verzögert wurde in nicht wenigen künstlerischen und wissenschaftlichen Disziplinen die Rezeption neuer Methoden, Ergebnisse und Stilformen - manchmal für nahezu zwanzig weitere Jahre -, und das konnte nicht ohne Wirkung auf die Entwicklung von Literatur, Kunst und Wissenschaft bleiben.«68

Das Zerstörungswerk beschränkte sich zudem nicht auf den deutschen Sprachraum. So europäisch der Faschismus herrschte, so umfassend war auch der Schaden, den er hinterließ. Die Diktaturen von Franco und Salazar, die ihre Macht unmittelbar Mussolini und Hitler dankten, überlebten deren Untergang um ein Vierteljahrhundert. Eine weitere direkte Folge von Faschismus und Krieg war schließlich die Kasernierung des Ostens, die diesen Teil Europas für noch längere Zeit sowohl vom ökonomischen Fortschritt als auch von der Freiheit des kulturellen Lebens abschnitt. Gerade aus den Zerfallsgebieten der k.u.k.-Monarchie aber waren im ersten Drittel des Jahrhunderts entscheidende Impulse für das intellektuelle Leben in den mitteleuropäischen Metropolen gekommen.

»Europa, womit ich den kulturellen Mittelpunkt der westlichen Moderne meine, wo auch immer ihre Künstler geografisch tatsächlich angesiedelt sein mögen, wurde in der Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Museum«, resümiert der Kulturwissenschaftler Ferenc Fehér in einem Abgesang auf den alten Kontinent: »›Europäische Kultur‹ ist weiterhin ein Teil von uns, sie strahlt mit dem Glanz vergangener Hochkulturen, aber sie ist ein Ausstellungsgegenstand, der vorgeführt wird, und repräsentiert keine kulturell vorwärtstreibende Kraft mehr. Die europäische Kultur hat zahlreiche Besucher, aber keine Nachfolger ...«69

Denen, die es bei einem anderen Verlauf der Geschichte hätten werden sollen, blieben nach dem großen Exodus, in die Welt verstreut, nur Werke, die sich überlebten, und Überlebende, die dahinstarben.

Reise in die Verlorengegangenheit

Подняться наверх