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»Seit fünfzig Jahren stehe ich als unbezahlter Statist auf der Bühne der Weltgeschichte.«

Abschied vom Kurfürstendamm • An einem sonnigen Vormittag im August 1931 unternimmt Paul Viktor Falkenberg einen Spaziergang durch den Berliner Westen, an dessen Ende nichts mehr in seinem Leben sein wird, wie es war.

Auf den Bürgersteigen herrscht das alltägliche geschäftige Treiben, auf den Terrassen der Cafés bleibt kein Tisch frei. Die Welt scheint in Ordnung. Kaum etwas im gutbürgerlichen Straßenbild deutet daraufhin, dass es ein Alltag am Rande des Abgrunds ist. Wohlstand, nicht wirtschaftliche Not zeigt sich auf den Boulevards, und doch muss inzwischen bald jedes zweite Gewerkschaftsmitglied stempeln gehen.106

Wie die meisten, die mit ihm auf dem Ku'damm promenieren, weiß der achtundzwanzigjährige Paul Falkenberg von den großen politischen Auseinandersetzungen, die der ersten deutschen Demokratie den Garaus zu machen drohen, nur aus zweiter Hand. In einer Fabrik hat er nie gearbeitet, Wahlveranstaltungen besucht er nicht, erst recht keine der Nazis. Den Völkischen Beobachter oder den Angriff in die Hand zu nehmen, käme ihm nie in den Sinn. Dafür liest er so gut wie jedes Buch, das der fortschrittliche Malik-Verlag herausbringt.

Seiner »linken« Grundeinstellung zum Trotz lebt der junge Mann, einer der ersten »Tonfilm-Schnittmeister« Deutschlands, in einer alltagsfernen, unpolitischen Welt. Er führt die Existenz eines typischen Intellektuellen der Weimarer Republik. Sein Berlin ist die Kulturkapitale Europas, tonangebend in Literatur, Theater und Film, eine Metropole der Technik und der lockeren Sitten, grell und schrill, spannend und hektisch, volkstümlich und snobistisch, lokalpatriotisch und kosmopolitisch - ein Pflaster, auf dem man, wie Elias Canetti sich erinnert, »keine zehn Schritte« ging, »ohne jemand zu begegnen, der berühmt war«.107

Draußen in den Arbeiter-Vorstädten aber herrscht bereits die Gewalt. Nazis und Kommunisten liefern sich Saalschlachten, SA-Trupps überfallen wehrlose Passanten, weil sie »rassefremd aussehen«, Woche für Woche fordern Straßenkämpfe Schwerverletzte und Tote. Der uniformierte Mob schickt sich an, die Republik zu zerstören, während die demokratischen Parteien hilflos den Rückzug üben. Einen mysteriösen Schuldigen für die soziale Misere haben die völkischen Horden längst ausgeguckt: die »jüdische Weltverschwörung«. Keiner, der von ihr faselt, weiß so recht, was oder wer das eigentlich sein soll; doch das hindert ja nicht, den Nächstbesten zu vermöbeln, der daran beteiligt sein könnte, einen von 500 000 Sündenböcken unter den 65 Millionen deutschen Bürgern,108 den Gemüsehändler mit dem dunklen Teint, den Arzt mit dem »ungermanischen« Namen zwei Straßen weiter, beliebige Passanten, deren - »jüdische« - Nase einem nicht passt.

Falkenberg findet das martialische Auftreten und die hasserfüllten Parolen der Nazis eher komisch, ihre rassistischen Ideen verschroben, ihr Brutalo-Gehabe lächerlich: »Worin ich mich ungemein getäuscht habe«, wie er an diesem Morgen auf dem Ku'damm am eigenen Leibe erfahren muss.

Plötzlich umringen ihn fünf Braunhemden. Der Nazitrupp ist mit Schlagstöcken aus dickem Malakka-Rohr bewaffnet.

»Warum hauste nicht ab nach Jerusalem!« schreit der bullige Anführer, ein uniformiertes Exemplar aus dem Bilderbuch der Brutalität, an das sich Falkenberg noch ein halbes Jahrhundert später mit fotografischer Genauigkeit erinnern wird; und auch daran, dass die Fahne seines Gegenübers weniger mit Politik als mit Alkohol zu tun hatte.

Die Nazis, etwas jünger als ihr Opfer, beginnen auf Falkenberg einzuprügeln. Keiner der zahlreichen Zuschauer kommt ihm zu Hilfe, viele Passanten zeigen Sympathie mit dem Schlägertrupp. Das ist es, was Falkenberg mehr schmerzt, als die Hiebe, die auf ihn einprasseln.

Ein Schlag trifft seinen Hut, er rollt auf die Straße. Automatisch läuft Falkenberg hinterher, lauthals um Hilfe rufend. »Das war mein Glück«, meint er später, »denn die Brüder blieben damals noch fern vom Damm, die trauten sich nicht aus dem Schatten der Bäume und Hauseingänge weg.«

Kaum hat er seinen Hut aufgehoben, hält ein Taxi neben ihm. Der Fahrer öffnet den Schlag: »Ick kenn' det schon. Wenn ick hier Jeschrei höre: Polizei, Polizei, komm ick rum, dann weeß ick, dass hier wieder so 'n Ding läuft, und ick krieg' gleich 'ne Fuhre.«

Reise in die Verlorengegangenheit

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