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»Am Anfang hat man das alles nicht so ernst genommen.« 1

Achtundsiebzig Umzugskisten • Tief atmend und hartrhythmig dröhnt Deutsch-Rock in der Luft, die sich zwischen den hohen Wänden des berlinisch verwahrlosten Fabrikkomplexes gefangen hat. Woher die Musik kommt, aus welchem der dunklen Schächte, die ins Innere der Lager und Büros führen, lässt sich nicht ausmachen.

»Hier entlang!« sagt der dünne Mann, dessen Empfehlungen mir in New York und Los Angeles die Türen geöffnet haben und der mich nun - Charon, dem Fährmann ins Totenreich, gleich - in die provisorischen Katakomben des deutschen Exils geleiten will. Während Gero Gandert mit der rechten Hand unkonzentriert in seiner Aktentasche nach den Schlüsseln wühlt, weist mir seine linke mit ebenso unruhigen Bewegungen den Weg.

Der Komplex des ehemaligen Luftfahrtgerätewerkes, das zum Siemens-Konzern gehörte, liegt an der Spandauer Streitstraße. »Fast schon in Hamburg« hieß es, bis die Mauer fiel und sich das wüste Niemandsland links und rechts der Transitstrecke über Nacht in wertvolle Immobilien verwandelte.

Zwischen den Gebäudeflügeln, die den Fabrikhof begrenzen, und den kleinen Flachbauten, die in seiner weiten Mitte den Eindruck von Leere und Nutzlosigkeit bekämpfen, parken dicht an dicht Wagen der unteren Mittelklasse. Ganz weit vorne, im linken Inneneck, dort, wohin die Sonne nur als Schatten dringt, hieven vier schwergewichtige Arbeiter, schwitzend und stöhnend, noch schwergewichtigere Lasten auf einen blauen Transporter. Außer ihnen und uns ist an diesem Frühlingsmorgen auf dem weiten Gelände kein menschliches Wesen. Von dem, was zur Stunde in »Berlin« geschieht, wie die Spandauer seit alters her die nahe City nennen, lässt die Abgeschiedenheit in dem stillen, von der Einmauerung gelassenen Winkel nichts spüren.

Über den hohen alten Bäumen scheint der Himmel nur freundlich. Zehn Kilometer weiter, rund um die Gedächtniskirche und über dem Brandenburger Tor, strahlt er lauter sonnige Versprechungen ins Blaue, die die Jahreszeit auf Dauer gar nicht halten kann. Hektische Aufbruchsstimmung herrscht dort im Jahre eins nach der Wende. Gründerzeiten allüberall.

In der Etappe des Vereinigungszuges ist Umverteilung im vollen Gange. Claims werden abgesteckt, zögerliche Mitspieler abgeschüttelt und Konkurrenten ausgestochen. Das Geschäftsinteresse stürmt voran, die Gedanken stolpern hinterher. Wer zuletzt kommt, zahlt am meisten. In verschwiegenen Nebenräumen feilschen vorausschauende Museumsdirektoren und besorgte Institutsleiter um Archivbestände, Zusammenlegungen, Pfründe. Verlagsscouts und Rockpromoter, Kunst- und Antiquitätenexperten, Musik- und Filmproduzenten, alle handeln und rasen im Rausch kommender Abschlüsse um die Wette. Zukünftige Gewinne werden gefeiert, wie sie gerade einfallen, auf Kater komm raus.

Entlegene Nischen haben es da für ein paar historische Stunden besser. Die vier Arbeiter lassen die Lasten, wo sie sind, und machen erst mal Pause. Sind die Tage im Schutze der Mauer auch gezählt, noch ruht die Fabrikidylle im subventionierten Abseits, noch existiert das jahrzehntealte Halbstadt-Gemisch, wie es öffentlich-dienstlich werkelt und döst. Als einzige Laute klingen wieder aus der Ferne der Hallen Deutsch-Rock-Rhythmen.

»Fünfzehn Zentner Papier!« sagt Gero Gandert, und seine Stimme vibriert vor Begeisterung. »Wochenlang habe ich in dem Keller unterm Sunset Boulevard gehockt und sortiert ... Alles erste Sahne! Ein Schatz!«

Auf den schmutzig grauen Fabrikfassaden laufen Überputzleitungen und enden kopfhoch in klobigen Schaltern; Unkraut überwuchert die Steine des Gehwegs. Im hintersten Eck des Innenhofs, wo sich leere Holzkisten und Pappstücke rund um einen halboffenen, überquellenden Abfallcontainer stapeln, bleibt zwischen einem Maschendrahtzaun und dem Müll ein schmaler Weg zur Eingangstür.

»Einen Wassereinbruch hat es gegeben«, erzählt Gandert, während er wieder nach dem Schlüssel wühlt, »und wir mussten das Material direkt von Los Angeles zur Deutschen Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung in Frankfurt schicken lassen. Dort ist es, ich zögere, wenn ich das Wort in diesem Zusammenhang ausspreche, ›begast‹ worden. Um die Schimmelsporen abzutöten.«

Unser Aufstieg endet im ersten Stock vor einer verdreckten Metalltür mit Milchglasscheiben. Neben dem weißen Klingelknopf steckt eine Visitenkarte, auf ihr prangt das schwarze Scherenschnitt-Logo einer altertümlichen Kamera: Stiftung Deutsche Kinemathek.

Die Stahltür öffnet sich auf eine mehrere hundert Quadratmeter große Lagerhalle. Ihre riesigen Glasscheiben hat man, um die Exponate vor Tageslicht zu schützen, mit Folie verklebt. Ein Gewirr von Metallregalen verstellt die halbdunkle Fläche. Auf ihnen stapeln sich bis kurz unter die hohe Decke Kostüme und Requisiten, Bücher und Schneidevorrichtungen, Tausende von Filmbüchsen und Dutzende von Kameras aus den Anfängen der Kinematographie. Zur Hälfte verschwinden ihre Konturen im Dunkel der Halle, zur anderen Hälfte vergolden einzelne Sonnenstrahlen, die durch Lücken in den Fensterabdeckungen dringen, die seltsamen Preziosen.

»Ich gehe mal vorneweg«, sagt mein Cicerone, als hätte er, seit ich ihn kenne, je etwas anderes getan.

Gleich links droht ein Plakat zu Fritz Langs »M«: »Dein Mörder sieht Dich an«, weiter hinten lockt hoch oben in einem Regal ein Karton mit der Auszeichnung: »Leuchtschrift: Arbeit macht frei«. Im Zwielicht stoße ich gegen eine Kiste, bei deren Inhalt es sich um »Ballkleider und SS-Mäntel« handelt. Gewalt und Schrecken der Vergangenheit sind in der muffigen Halle allgegenwärtig.

»Wir sammeln und konservieren alles«, sagt Gandert, »worin sich die Geschichte des Films materialisiert.«

Doch cineastisches Fachinteresse hat mich nicht hierher geführt. Mein Ziel ist eine Regalfront im hinteren Teil der Halle. Von den unzähligen Umzugs- und Mineralwasserkisten, aus denen das Magazin zu einem Großteil besteht - »Wir haben kein Geld. Um alte Fotos und Filmprogramme zu verstauen, mussten wir uns von einer Firma Hunderte von Apollinaris-Kartons erbetteln ...« -, unterscheiden sich die dreiundzwanzig Regalmeter Pappcontainer, die dort lagern, sofort durch die amerikanische Aufschrift »Racket Storage System«, Copyright Illinois.

»Fünfzehn Zentner! Briefe, Telegramme, Verträge ...« Kaum dass er die achtundsiebzig amerikanischen Umzugskisten erblickt, bricht der sonst so solide Gero Gandert, im bürgerlichen Beruf Abteilungsleiter der (West-)Berliner Kinemathek, in die exaltierten Gesten eines leidenschaftlichen Großwildjägers aus, der die Trophäe seines Lebens herzeigt.

Ganderts Stolz allerdings ist gerechtfertigt. Die Kartons bergen Blatt an Blatt alte Freunde und Feinde, Berühmte und Vergessene - eine imaginäre Versammlung des deutschen Exils. Ohne Aufsehen sind, vertreten gewissermaßen durch Werke und persönliche Dokumente, die Verbannten nach ihrem Tod in die Stadt zurückgekehrt, aus der sie einst vertrieben wurden und in der man sie nie wieder einbürgerte - unerlöste Schatten, für die wir einen endgültigen Platz in der deutschen Geschichte noch nicht gefunden haben.

Alle, die du hier siehst, sind unbestattet und hilflos. / Dort, der Ferge, ist Charon. Begraben sind jene, die fahren. / Keinen fährt er, bevor an ihrem Ort die Gebeine / Ruhen, vom schaudernden Ufer auf dumpfen Fluten hinüber. / Hundert Jahre irren und schweifen sie hier am Gestade. / Dann erst ist ihnen vergönnt, die ersehnten Gewässer zu schauen. 2

»Drehbücher, unveröffentlichte Manuskripte, Hilferufe und Dankschreiben«, schwärmt Gandert: »Von Lion Feuchtwanger und Franz Werfel, von Heinrich, Klaus und Thomas Mann, von Günther Anders und Max Reinhardt, von Ernst Lubitsch, Peter Lorre, Kortner und Lang, von Remarque, Wilder, Eisler oder Zuckmayer. Sagen Sie einen Namen, er ist dabei: die Elite der Weimarer Kultur, die Besten, die sich vor den Nazis retten konnten. Die größte zusammenhängende Sammlung des deutschen Filmexils, soweit ich weiß ...«

Was im vorläufigen Archiv seiner Auswertung harrt, offenbart jedoch mehr als filmhistorische Details. Der Schatz vom Sunset Boulevard birgt Aufklärung über sämtliche Bereiche der von den Nazis ausgetriebenen Kultur, das gesamte Spektrum dessen, was in der Weimarer Republik »modern« war. Denn als erst in Deutschland, dann in Europa kein Überleben mehr war, bot Hollywood ein schützendes Dach, unter das sich, wenn auch oft sehr widerwillig, Künstler und Intellektuelle verschiedenster Provenienz flüchteten. Der Film, für den die älteren Bereiche der Kulturproduktion gewissermaßen zuliefern, zog Theaterschauspieler und -regisseure ebenso an wie Musiker und Maler, Fotografen und Philosophen, Journalisten und Lyriker, Modedesigner und Romanciers. In der ökonomischen Not des Exils wurde das Hollywood-Kino zur goldstrahlenden Sonne, um die alle anderen Künste planetengleich kreisten.

Wir zerren zwei der Kisten aus dem Regal und schleppen sie gemeinsam ans Licht des einzigen nicht verdunkelten Fensters. »European Relief Fund, Vermischtes« steht auf einem Deckel.

»Also«, sagt Gandert, »ich greife jetzt mal blind hinein.« Beide Hände graben tief in das vergilbte Papier. »Hier finden Sie«, verspricht er, von lautem Geraschel begleitet, »eine lebendige, bewegende Chronik des Exils mit vielen in der Forschung unbekannten Einzelheiten: Berichte über die Stationen der Flucht, die bürokratischen Probleme, die Versuche, in den verschiedenen Ländern Fuß zu fassen, Bewerbungsschreiben, Honorarabrechnungen, Lebensläufe, Werklisten ... Allein die Autographen sind von unschätzbarem Wert!« Ganderts Hände tauchen mit einem Stapel Briefe wieder auf. Seine Augen fliegen über die krakelige Tintenschrift. »Glück gehabt«, strahlt er, »wir sind sofort auf etwas Besonderes gestoßen.«

Triumphierend hält er mir einen Luftpostumschlag hin. Adressiert ist er, wie die meisten Schriftstücke in dem Karton, an »Mr. Paul Kohner ...«

Reise in die Verlorengegangenheit

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