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Die Logik des dickern Knüppels • Große Leuchtreklamen flackern über den Nollendorfplatz. Auf den Bürgersteigen drängen sich auch nach Einbruch der Dunkelheit noch die Menschen. Viele der kleinen Läden bleiben bis spät in den Abend geöffnet, das halbe Dutzend Cafés und Lokale ist gut gefüllt. Der »Nolli« ist einer der belebtesten Plätze des »Alten Westens«, über ihn führt eine Hauptverkehrsader zur grauen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche auf dem Auguste-Viktoria-Platz, dem von Restaurants, Hotels und Luxusläden, von Kinos und Nachtlokalen umstellten Brennpunkt des Berliner Vergnügungslebens.5

Aber auch der »Nolli« selbst mit seinen zahllosen Unterhaltungsetablissements - der Ufa-Pavillon und das Theater am Nollendorfplatz sind nur die größten - lockt am Abend Besucher aus allen Stadtteilen an.6 Unablässig rollt dichter Verkehr in alle Richtungen, zum Wittenbergplatz und zur Potsdamer Straße, von dort weiter nach Norden zum Alexanderplatz oder nach Süden zum Sportpalast oder in Richtung Osten über den Bülowplatz, wo sich das Karl-Liebknecht-Haus befindet, die kommunistische Parteizentrale. Der Lärm des nicht abreißenden Stroms von Bussen, Lastern und Personenwagen erfüllt die Luft, wird aber in Minutenabständen vom metallischen Rattern der U-Bahn übertönt, die hier überirdisch auf eisernen Stelzen in Richtung Gleisdreieck rast.

An diesem Freitagabend, es ist der 5. Dezember 1930, versammeln sich kurz nach sechs Uhr an verschiedenen Ecken des Nollendorfplatzes kleine Gruppen von Menschen. Fast alle sind Männer, die meisten von ihnen jung, kaum über achtzehn. Sie tragen das übliche, leicht ärmliche Berliner Winterzivil, dicke Wollmäntel, Schals und den obligatorischen Hut, doch geht von ihnen der Eindruck einer militärischen Formation aus. Kommandogewohnte Anführer verteilen an die Neuankömmlinge Eintrittskarten. Sie gelten für die Sieben-Uhr-Vorstellung im Mozartsaal, einem unabhängigen, zu keiner der großen Ketten gehörenden Kino. Das Plakat an seinem Eingang kündigt in großen Fraktur-Lettern an: »Im Westen nichts Neues - Von Erich Maria Remarque - Ein Tonfilm in deutscher Sprache«.

Seine Uraufführung fand hier gestern Abend vor geladenem Publikum7 statt und hinterließ »einen tiefen Eindruck«, wie der sozialdemokratische Vorwärts in der Morgenausgabe berichtet hat: »Nie ist der Krieg, nie sind die Erlebnisse einer Schulklasse und einer Kompanie so ergreifend und erschütternd geschildert worden.«8

Zu Beginn weckte die technische Perfektion bei den Zuschauern Szenenapplaus, als nach zwei Stunden und zehn Minuten der Vorhang fiel, herrschte jedoch erschüttertes Schweigen: Allzu erschreckend lieferten die neuen Mittel des Tonfilms zu den bewegten Bildern des Grauens auch die Geräusche; das Heulen der Granaten, das Grollen der fernen Einschläge, das Krachen der nahen; lange verzweifelte Angst- und Todesschreie.9 Nur ein Gedanke bleibe von der realistischen Inszenierung der Schrecken einer modernen Materialschlacht zurück, heißt es in der ausführlicheren Kritik der gerade erschienenen Abendausgabe: »Nie wieder Krieg!«10

Diese Botschaft missfällt vielen Deutschen. Seit Monaten schwelt in der öffentlichen Diskussion der Streit um die zwölf Jahre zurückliegende Niederlage. Die Frage der Kriegsschuld, der angebliche »Dolchstoß« aus der Etappe und republikanische »Novemberverbrechen« dienen als ideologische Krücken, mit denen die von der Weltwirtschaftskrise gelähmten Parteien und ihre verunsicherten Anhänger aufeinander eindreschen.

Die Rechten, voran die Nazis, hetzen immer offener zu einem Angriffskrieg, der dem »Vaterland« seine »alte Größe« wiedergeben soll. Und derlei Parolen finden in den Monaten nach dem »Schwarzen Freitag« an der New Yorker Börse mehr Anklang denn je. Die Industrieproduktion ist drastisch gesunken. Millionen Frauen und Männer sind arbeitslos. Am Horizont ziehen Gewalt, Brutalität, Massenmord herauf. Vor zwei Monaten, im September 1930, haben die Deutschen die NSDAP zur zweitstärksten Reichstagsfraktion gewählt. Als erster Nationalsozialist ist in Thüringen Wilhelm Frick, den die Alliierten 1946 als Kriegsverbrecher hinrichten werden, zum Minister ernannt und auf eine Verfassung vereidigt worden, deren Abschaffung er betreibt. Im Ausland wächst die Beunruhigung. Schon damals, drei Jahre vor Hitlers Machtübernahme, baut Frankreich die Maginotlinie aus, weil es einen deutschen Überfall befürchten muss.

Aber es ist auch eine Zeit, in der die Gegenkräfte noch einmal Anlauf nehmen, die Geschichte zu wenden. Künstler, Wissenschaftler und Filmemacher beginnen, sich für den Frieden zu engagieren. Die Mehrheit der Deutschen will keinen neuen Krieg. Erich Maria Remarque trifft daher mit seinem Roman »Im Westen nichts Neues« die Stimmung eines großen Publikums. Das pazifistische Werk, 1929 erschienen, wird binnen weniger Monate zu einem der größten Bucherfolge der Weimarer Republik und darüber hinaus ein internationaler Bestseller. Die Auseinandersetzung um seine Verfilmung demonstriert mit aller Deutlichkeit, welches Schicksal der Kultur unter Hitlers Herrschaft zugedacht ist - und wie wenig die Gegner der Nazis deren Macht- und Zerstörungswillen entgegenzusetzen haben.

Seit Tagen bereits wettert die Presse des rechtsnationalen Medienzaren Hugenberg, Herr zugleich über die Ufa, gegen den »würdelosen Hetzfilm«. Das Auswärtige Amt hat zwar erklärt, dass Milestones Werk »Mut, Tapferkeit und Standhaftigkeit des deutschen Heeres im Weltkriege zeige«, das Reichswehrministerium hingegen verlangt ultimativ das Verbot des Hollywood-Streifens, da er angeblich das Ansehen desselben Heeres verunglimpfe.11 Das geltende Zensurgesetz allerdings ermöglicht eine solche Indizierung nicht.12

Kurz vor sieben Uhr, als sich über dreihundert junge Männer am Eingang des Mozartsaals versammelt haben, fahren mehrere Reichstagsabgeordnete der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei vor, unter ihnen auch der oberste Propagandachef und Berliner Gauleiter Dr. Joseph Goebbels.13 Den Medien als Instrument politischer Einflussnahme gehört seine besondere Aufmerksamkeit. Für die Nazis ist das Kino, wie später der »Hauptstellenleiter der Reichspropagandaleitung der NSDAP« schreibt, die »volkstümlichste Kunstform des zwanzigsten Jahrhunderts, die gerade wegen ihrer flüssigen und leichten Ausdrucksweise, durch das Zusammenwirken von Optik und Akustik die Menschen bannt und ihre Herzen durch das gemeinsame Erleben höher schlagen lässt«14.

Während seine Getreuen das Kino füllen, spaziert Goebbels noch eine Weile vor den großen Portalen und marmorverzierten Aufgängen der grauen Gründerzeitgebäude auf und ab, deren vergangener Glanz unter Rußschichten versunken ist. »Ein Horst von Betonadlern mit Balkonen wie Brüsten« - so hat Stephen Spender, zu Besuch in Berlin, erschreckt den trostlosen Anblick beschrieben, den die heruntergekommenen Fassaden des Nollendorfplatzes damals bieten.15 Erst nachdem das Licht im Kino endgültig gelöscht ist und der Hauptfilm begonnen hat, nimmt Goebbels, der zukünftige »Eroberer Berlins«, den Platz in seiner Loge ein.16

Den Film kann schwerlich einer der organisierten Besucher bereits kennen, doch sehen wollen sie ihn nicht. Schon nach wenigen Minuten setzen die ersten Störungen ein. Die jungen Männer, die sich jetzt lautstark als SA-Leute zu erkennen geben, brüllen »Juden raus« und: »Hitler vor den Toren!« - eine Parole, die peinlich die klassische Halb-Bildung des Propagandachefs verrät. 17Hannibal, der einst ad portas drohte, war es bekanntlich nicht vergönnt, über die römische Hauptstadt zu herrschen; und das ist es ja wohl kaum, was die Randalierer für Hitler und Berlin prognostizieren wollen.18

Auf der Leinwand tobt derweil furchterregend der Erste Weltkrieg: Die Angehörigen der Schulklasse, die sich nach einer nationalistischen Brandrede ihres Lehrers geschlossen »freiwillig« meldeten, verlieren beim ersten Einsatz im Menschen wie Material verschlingenden Grabenkampf der Westfront teils ihr Leben, teils ihre Illusionen. Ausgerechnet den Heißhunger, den die geschockten Halbwüchsigen daraufhin in der Etappe entwickeln, nimmt Goebbels zum Anlass, den Skandal zu erklären.

»So benimmt sich kein deutscher Soldat!« schreit er aufspringend - und gibt seinen Getreuen damit das Signal. Vom Rang werden Tanzmäuse und weiße Ratten ins Parkett geworfen. Tumult bricht aus, das Licht geht an, die Vorstellung muss unterbrochen werden. NS-Führer steigen abwechselnd auf die Sitze und brüllen Ansprachen.

Vor der vereinten Belästigung durch Viecher und Parolen ergreift eine Mehrheit des Publikums die Flucht. Drei, vier Stinkbomben fliegen, die Fliehenden werden von den SA-Leuten brutal attackiert. Schließlich erscheint ein Zug Schutzpolizei und schafft die Randalierer unter Knüppeleinsatz aus dem Saal - wobei ein übermäßiges Arsenal weiterer Stinkbomben sichergestellt wird, die man, wohl aus Gründen der Selbstschonung, nicht geworfen hat.19

Auf dem inzwischen abgeriegelten Nollendorfplatz setzen die Nazis ihre Aktion fort.20 Vor seinen Anhängern hält Goebbels, unter reichlicher Verwendung antisemitischer Parolen, eine geifernde Rede gegen Buch und Film.21 Die Zuhörer jubeln, schwenken die Hüte und leisten den Tschako-geschützten Polizeitruppen so hartnäckig Widerstand, dass die Neun-Uhr-Vorstellung abgesagt werden muss. Das Chaos ist perfekt. Menschenmassen verstopfen die Straßen, die Breschen, die die Gummiknüppel der Überfallkommandos schlagen, schließen sich Sekunden später wieder, der Verkehr staut sich in alle Himmelsrichtungen.

»Kein Mensch wusste, worum es ging«, schreibt Arnolt Bronnen, einst ein enger Freund Brechts, damals NS-Kampfgenosse und nach dem Krieg wieder Kommunist: »Es gab Radau, weil diesen Menschen, welche Goebbels kommandierte, Radau als etwas Schönes erschien und weil Goebbels in geschickter Weise die Instinkte der Masse gegen die Snobs und Pelzmantel-Dämchen vom Kurfürstendamm einzusetzen verstand.«22

Zwischen einzelnen SA-Leuten und verhinderten Kinobesuchern kommt es zu erregten Debatten. Ein Augenzeuge muss empört, aber hilflos erleben, wie die »15- bis 18jährigen Burschen, die zur Zeit, als wir im Dreck und Schlamm die Grenzen der Heimat wieder und wieder schützten, noch in den Windeln lagen«23, die realistische Darstellung des Krieges und der Leiden seiner Opfer verspotten.

An diesem Dezemberabend beginnt eine Kraftprobe um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, in deren Verlauf die Republik auf einem sehr symbolischen Schauplatz eine Niederlage erleiden wird; eine kleine Niederlage zwar, aber in ihr zeichnen sich modellhaft bereits die Konturen der großen ab.

Die nächsten Tage wird der Anti-Kriegsfilm unter Polizeischutz laufen, während draußen auf dem Nollendorfplatz Straßenschlachten toben;24 mit dem voraussehbaren Erfolg, dass die Vorstellungen dank der Krawalle ausverkauft sind.25 Doch eine Lösung im freien Spiel der Kräfte ist es nicht, die Goebbels anstrebt. Er lässt seine Sturmabteilungen auf das obrigkeitsstaatliche Verbot des pazifistischen Werks hin randalieren.

Am Sonntagabend dauern die Gewalttätigkeiten der »fanatischen Pöbelgarde unter der Führung eines klumpfüßigen Psychopathen«, wie Carl von Ossietzky in der Weltbühne schreibt,26 bis nach Mitternacht27 an, so dass die »Deutschland erwache«-Rufe für den einen oder anderen Anwohner durchaus praktische Konsequenzen haben.28

»Jeder, der diesen Film ansieht, ist ein Verräter an der deutschen Sache«, schimpft ein NS-Agitator vor dem Lichtspieltheater - und gibt im gleichen Atemzug freimütig zu, dass er das Werk, das er so brutal bekämpft, nicht kennt und nicht kennen will.

»Kopfschüttelnd geht man weiter«, schreibt im Stil eines distanzierten Flaneurs der Berichterstatter des Berliner Tageblatt: »Leben wir im Jahre 1930 und hat sich nichts geändert? Alle, die noch bei Verstand geblieben sind, wenden sich von dieser Kulturschande betroffen ab.«29

Unglücklicherweise ist das, knapp zwei Jahre, viele Tote und ein paar Übergangsregierungen vor der nationalsozialistischen Machtübernahme, nicht mehr die absolute Mehrheit. Die sächsische und thüringische Landesregierung sowie Braunschweig stellen Verbotsanträge gegen »Im Westen nichts Neues«. Gleichzeitig wird bekannt, dass die Reichsregierung unter Kanzler Brüning, falls notwendig, eine Gesetzesnovelle einbringen will, um eine Indizierung des Films zu ermöglichen. Entsetzt vermerkt ein liberaler Leitartikler, »dass es ›bürgerliche‹ Parteien gibt, die im Schatten der nationalsozialistischen Phraseologie sich selber nicht mehr ›national‹ genug vorkommen und eine Art Wettlauf mit dem Rechtsradikalismus beginnen ... Anscheinend glaubt man, aller Erfahrung zum Trotz, in diesen Kreisen immer noch, dass schlaue Nachgiebigkeit und Taktik weiter führt, als entschlossener Widerstand.«30

Bereits der folgende Abend beweist den zweifelhaften Erfolg solchen Taktierens: Die Masse der Bürgerkrieger hat sich auf sechstausend Mann erhöht, die Unruhen eskalieren, Passanten werden im Dutzend krankenhausreif geschlagen. Die Schutzpolizisten geben mehrfach Warnschüsse ab, um der Lage Herr zu bleiben, lassen dem Straßenterror jedoch weitgehend seinen Lauf - die Beamten der zuständigen Sportpalast-Einheit sind seit sieben Tagen ununterbrochen gegen NS- und KP-Krawalle im Einsatz, sie sind übermüdet und, wie sich bei manch anderer Gelegenheit zeigt, wohl auch grundsätzlich nicht übermäßig motiviert.31 Der keineswegs wilde, sondern wohlorganisierte Mob zieht, Fensterscheiben einwerfend und Geschäfte plündernd, vom Nollendorfplatz über den Wittenbergplatz zum Fehrbelliner Platz, wo Gauleiter Goebbels sich bei einem weiteren seiner Hass- und Hetzauftritte austobt.32

Montagmorgen verkündet der Polizeipräsident von Berlin ein Demonstrationsverbot, das ab vierzehn Uhr gilt. Bis nächsten Donnerstag, den 12. Dezember, will die Film-Oberprüfstelle, auf die von der Regierung Brüning heftiger Druck ausgeübt wird, Vertreter des Auswärtigen Amtes und des Reichswehrministeriums anhören33 und dann über die Verbotsanträge entscheiden.34 Es wird bekannt, dass Hugenberg in einem persönlichen Telegramm an den Reichspräsidenten Hindenburg35 um Unterstützung im Krieg gegen den friedensfördernden Film gebeten hat. Das gesamte Kabinett lässt sich »Im Westen nichts Neues« vorführen.36

Trotz deutlicher Warnungen aus dem Ausland mehren sich die Zeichen für ein bevorstehendes Verbot. Der Kommentator des Berliner Tageblatt, der ausführlich darlegt, dass nach der bestehenden Rechtslage die Zensur nicht eingreifen dürfte, befürchtet: »Wenn die Mannen und Jungens des Herrn Dr. Goebbels in diesem einen Fall ihre destruktiven Ziele erreichen, werden sie bald einen zweiten, dritten und zehnten Fall konstruieren ...«37

Angesichts des NS-Terrors entwickelt sich die Entscheidung über den Antikriegsfilm zu einer prinzipiellen Frage, zu einem Exempel. Die weitreichenden Folgen der möglichen Indizierung des kritischen Unterhaltungswerks, das unter anderen politischen Umständen nur ein gutes oder schlechtes Geschäft gewesen wäre, erkennen die Zeitgenossen durchaus. Theodor Wolff, einflussreicher Chefredakteur des Berliner Tageblatt und Emigrant in spe, wird die Verschwörung des Staates gegen seine eigenen Gesetze und Grundsätze, die sich im Dezember 1930 vor aller Augen abspielt, an ihrem Ende mit der Dreyfus-Affäre vergleichen: Beide Fälle waren, schreibt er bereits am Sonntag nach der Entscheidung, ein »Prüfstein für die moralischen und geistigen Zustände in einem Staat, für die Kraft oder die Schwäche des Rechtsempfindens und des Wahrheitssinnes und für den Charakter der Regierenden«38.

Wie er empfinden damals nicht viele. »Die Unterschätzung der Gefahr, die da mit täglich wachsender Gewalt herauf kam, in allen Kreisen des Bürgertums, die Juden nicht ausgenommen, war erschreckend und deprimierte mich tief«,39 erinnert sich der Verleger Gottfried Bermann Fischer. »Das liberale Bürgertum hatte nichts Positives mehr vorzubringen und zeigte sich hilflos gegenüber der mächtigen, mit Fanfaren und Standarten vorwärtsstürmenden Propaganda der Gegenseite, die den Massen das Blaue vom Himmel versprach.«40 Carl Zuckmayer, der sich bis dahin allen politischen Organisationen ferngehalten hatte, entschließt sich nun zum Engagement: »Zu wenig und zu spät, so scheint es mir, war auch das was wir, die deutschen Intellektuellen dieser Zeit, versucht haben.« Sein erster Schritt: Er spricht »in einer großen Versammlung im ›Preußischen Herrenhaus‹ gegen die politische Zwangszensur«.

Am Donnerstag erobert dann die Entscheidung der Oberprüfstelle die Titelseiten der Berliner Tageszeitungen. »Filmverbot - Terrorsieg!« lautet die Schlagzeile des Vorwärts. Und der Leitartikler des Berliner Tageblatt resümiert resignierend: »Das Verbot des Films ›Im Westen nichts Neues‹ ist nicht auf Grund des Gesetzes erfolgt. Es ist auf Kommando der Straße ergangen ...41 Auch diese Affäre, die längst aus dem Kinobereich in das Gebiet der großen, inneren Politik hinübergegriffen hat, zeigt wieder mit erschreckender Deutlichkeit, dass die einzige Gefahr, die Deutschland bedroht, nicht das nationalsozialistische Wachstum und Maulheldentum ist, sondern die Schlappheit, Nachgiebigkeit und Bedenklichkeit des sogenannten ›Bürgertums‹.«42

Um die Niederlage der Republik aufzuhalten, die sich im Triumph der NS-Gewalt abzeichnete, fordert der Pazifist Carl von Ossietzky jetzt aktiven Widerstand: »Die liberale Feigheit, die sich selbst für Vernunft halten möchte, hat ausgelitten. Der Faschismus ist nur auf der Straße zu schlagen. Gegen die nationalsozialistische Gesindelpartei gibt es nur die Logik des dickern Knüppels, zu ihrer Zähmung nur eine Pädagogik: A une corsaire - corsaire et demi!«43

Doch der Kampf geht nicht auf der Straße weiter, er schleppt sich ein Vierteljahr im Parlament dahin und wird dort verloren.

»Der Kinoabend war eine tolle Sache«, sagt Paul Kohner. »Aber genauso unglaublich waren die Verhandlungen im Reichstag. Ich konnte es kaum mitansehen.«

Den Antrag auf Freigabe des Films, den die KPD schließlich in ungewohnter Allianz mit Hollywood einbringt, stimmen die »demokratischen« Parteien, SPD eingeschlossen, im März 1931 nieder.44 »Im Westen nichts Neues« bleibt sinnigerweise im Inland verboten, weil er »das deutsche Ansehen im Ausland gefährde«.

Dort jedoch läuft das pazifistische Meisterwerk, für das Paul Kohner auch insofern die Verantwortung trägt, als er Erich Maria Remarque bei Carl Laemmle in Hollywood einführte und die Verfilmung anregte, seit sechs Monaten unbeanstandet und spielt Millionen ein. Seine ästhetischen Qualitäten, die mancher deutsche Kritiker gering schätzte, werden überraschend einhellig gepriesen, selbst Eisenstein hält Milestones Werk für »eine gute Doktorarbeit«,45 und die Academy of Motion Picture Arts verleiht ihm den Oscar als bestem Film des Jahres.

Wie weit die symbolische Bedeutung des nationalsozialistischen Triumphes reichen wird, hat geradezu prophetisch ein Kommentator des Vorwärts bereits am Tag des Verbots beschworen: Er erkennt den Beginn eines »Entscheidungskampfs«, »dessen Ausgang das Schicksal des deutschen Volkes für lange Zeit, vielleicht für Jahrzehnte bestimmen wird«46.

In den folgenden Wochen nimmt der Straßenterror der Nazis dramatisch zu. Christopher Isherwood, der Anfang Dezember 1930 in die Nollendorfstraße gezogen ist, beobachtet, dass zu den Opfern der Gewalt nicht nur politische Gegner gehören, die unter den Augen der Polizei malträtiert werden, sondern beliebige Passanten, die von Geburt an mit einer zu großen Nase und zu dunklen Haaren bedacht sind. Auch der gezielte Terror gegen prominente Künstler und Intellektuelle beginnt, ohne dass der Staat Schutz bieten würde.

»Hör zu, du jüdisches Schwein, morgen nacht werden wir kommen und dich und deine Brut abschlachten!«

Anrufe wie dieser gehen nicht nur bei George Grosz regelmäßig ein. Eine Freundin erinnert sich an seine Reaktion:

»Ja, kommt nur«, brüllt Grosz in den Hörer. »Ich habe zwei Pistolen, meine Frau hat auch zwei, und mein Freund Uli hat einen Spazierstock mit einem Bajonett! Wir werden euch schon zeigen, was ein Haken ist.«47

Ungeachtet dieser Antwort ist sich der Künstler bewusst, dass er auf verlorenem Posten kämpft. »Ich war natürlich kein unschuldiges Kindlein und wusste, wie es um Deutschland bestellt war«, schreibt er in seinen Memoiren. »Es war deutlich wie der Fußboden Risse bekam, wie diese und jene Wand zu wackeln begann ... Es war wie vor der Premiere eines großen Dramas oder wie vor dem Beginn einer Schlacht. Man räusperte sich überall und sah immer wieder nervös nach der Uhr, denn in der Zeitung stand täglich, es sei nun ganz kurz vor zwölf.«48

Wie Erich Maria Remarque und Albert Einstein, wie Max Ernst, Oskar Kokoschka49 und andere politisch besonders exponierte Personen zieht George Grosz es verständlicherweise vor, die fünfundzwanzig Monate, die der Republik noch bleiben, zu einem Großteil im Ausland zu verbringen.

Das Exil vor dem Exil beginnt.

Reise in die Verlorengegangenheit

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