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»Erinnerungen lassen sich nicht in Schubladen und Fächern aufbewahren, sondern in ihnen verflicht sich unauflöslich das Vergangene mit dem Gegenwärtigen.« 76

Café Kohner • Die Klimaanlage brummt lauter denn je. Auf den Fenstern steht die Nachmittagssonne. Unsere Sandwichs haben wir aufgegessen und dazu viel wunderbar wässrigen amerikanischen Kaffee getrunken.

»Seit fünfzig Jahren ist John Huston mein Klient, ich mag ihn sehr, er ist ein wunderbarer Mann. Nie haben wir einen Vertrag geschlossen, das läuft alles auf Handschlag.« Paul Kohner sitzt an dem kleinen Tisch im hinteren Teil des Büros. »Als ich John kennenlernte, war er noch Schriftsteller«, sagt er, »und Schriftsteller gab es damals in Hollywood eine unerhörte Menge! Vor allem Europäer.«

Zu dieser Vielfalt hat Paul Kohner selbst nicht unwesentlich beigetragen. Als Ende 1939 die Nachrichten von der verzweifelten Lage der in Südfrankreich von den Nazis eingekesselten Autoren - darunter Lion Feuchtwanger, Alfred Döblin, Walter Mehring und Heinrich Mann - nach Kalifornien drangen, überredete Kohner persönlich die Bosse der vier größten Produktionsfirmen, den in der Regel filmunerfahrenen Schriftstellern sogenannte »Notverträge« zu geben. Diese Anstellungen waren zwar auf ein Jahr beschränkt und äußerst niedrig dotiert. Durch sie gelangten die Flüchtlinge jedoch in den Besitz der lebensrettenden amerikanischen Einreisevisen. Sie wiederum ermöglichten die Ausreise aus Frankreich und den Transit durch Franco-Spanien und Portugal.77 Paul Kohner half so entscheidend mit, einen nicht unerheblichen Teil der deutschsprachigen literarischen Elite vor KZ und Vernichtung zu retten.

»Ich ging zu MGM, zu Louis B. Mayer«, erzählt der alte Mann, »und erklärte ihm unseren Plan: ›Wenn Sie bereit sind, in der Woche für zehn Schriftsteller je hundert Dollar zu geben, bekommen Sie die Leute für zweiundfünfzigtausend Dollar im Jahr. Was immer die auch schreiben, gehört Ihnen. Wenn Sie nur ein oder zwei Manuskripte davon gebrauchen können, haben Sie schon das ganze Geld wieder rein.‹ Mayer hat gleich zugesagt. Dann ging ich weiter zu Warner Brothers, zu Fox und zur Columbia. Da saß der Harry Cohn, der war der schwierigste: ›Ach, ich nehme nur fünf Schriftsteller‹, sagte der. Sagte ich: ›Du bekommst zehn oder gar keinen.‹ Auf die Art haben wir damals vierzig deutsche, ungarische, österreichische Schriftsteller in den Studios untergebracht.«

Es ist inzwischen früher Nachmittag, und Paul Kohner macht einen leicht erschöpften Eindruck. Doch das Erzähltalent des alten Herrn lässt sich von physischer Schwäche nicht beeindrucken. Amüsiert erinnert er sich, wie Thomas Mann ein Jahr lang kein Wort mit ihm gesprochen hat, weil der oberste Dichterfürst dieses Neuen Weimar am Pazifik zu der Feier von Albert Bassermanns achtzigstem Geburtstag nicht eingeladen worden war, die in Kohners Haus stattfand. Ein paar Minuten später höre ich von einem Treffen mit dem mysteriösen Klienten, der B. Traven war, sich aber als dessen Cousin ausgab; kurz darauf von den Begegnungen mit Bert Brecht, der Kohner nie recht geheuer erschien.

»Paul Kohners freundlich-helle Agentur am Sunset Boulevard«, schrieb die New Yorker Emigrantenzeitung Aufbau am 4. Oktober 1940 in einer Hollywood-Reportage, »ist von morgens bis abends eine Art Treffpunkt der Träger all jener Namen, die einst in fetten Lettern die Feuilletons und Theaternachrichten Deutschlands, Oesterreichs, Ungarns und der Tschechoslowakei, ja zum Teil auch die von Paris und London zierten.«

»Einmal habe ich die Deutschen dann wunderbar bestohlen«, freut sich Kohner, »das war eine gute Tat, schließlich hatten wir ja Krieg.«

Mit weiten Gesten beschreibt er, wie eines Morgens Nelly Mann zu ihm kam und ihn um Hilfe für ihren Ehemann bat, der mittellos und abhängig von den Unterstützungen seines Bruders Thomas in Hollywood lebte: Heinrich Mann sei kurz davor, sich das Leben zu nehmen! Der Autor des »Professor Unrat«!

»Natürlich hatte er alle Rechte an dem Roman längst verkauft. Aber wer wollte das in diesen Zeiten nachprüfen? Also haben wir einen Vertrag geschlossen, über ein mexikanisches Remake des ›blauen Engel‹.«

Ob der Film gedreht wurde? Kohner wendet die Handflächen nach außen und verzieht spöttisch die Mundwinkel: »Keine Ahnung. Aber Heinrich Mann konnte eine Weile von dem Geld existieren.«

Ein Foto, das bei Gelegenheit des historischen Geschäftsabschlusses aufgenommen wurde, zeigt den jugendlichen Agenten an der Seite eines würdigen älteren Herrn, der sich aus dem 19. Jahrhundert in die Moderne verirrt zu haben scheint und - physiognomisch dem Professor Unrat gleichend - an Kohners kalifornischem Schreibtisch den Vertrag unterzeichnet.

»Also hat er sich nicht das Leben genommen«, lacht Kohner, doch sein Gesicht wird sofort ernst: »Dafür wenig später die Nelly. Der konnte keiner mehr helfen.«

»Wie wurde bestimmt, wer Unterstützung vom European Film Fund bekam und in welcher Höhe?«, frage ich.

»Ach, das lief alles recht informell und problemlos ab«, sagt Kohner. »Wir trafen uns während des Krieges jedes Wochenende bei dem einen oder anderen in der Wohnung. Meistens bei uns zu Hause. Wir hatten einen richtigen Kaffeeklatsch. Da kam, wer kommen wollte. Das Haus war am Sonntag voll von Menschen. Meine Frau hat das natürlich nicht immer begeistert, aber es musste halt sein. Man trank seine Tasse Kaffee, aß seinen Kuchen, Pflaumenkuchen oder Krapfen, was es gerade gab, und unterhielt sich darüber, wer neu eingetroffen war, wer Hilfe nötig hatte.«

Paul Kohner steht auf und geht mit weiten, steifen Schritten zwischen Schreibtisch und Besucherecke auf und ab.

»Ob jemand verheiratet war, ob er Kinder hatte, davon hing eben die Höhe der Unterstützung ab. Gewöhnlich konnte man mit fünfundzwanzig Dollar in der Woche ganz gut auskommen. Damals kostete ein Burger im Hamburger Hamlet nebenan nur zehn Cents, nicht wahr ...«

»Wie lange hat der Hilfsfond existiert?«

»Den habe ich nie eingehen lassen«, sagt Kohner. »Warum auch? Hilfe brauchen irgendwelche Menschen immer.«

Nach dem Ende des Krieges schickte der European Film Fund gar Geld nach Deutschland, etwa an die Schauspielerin Henny Porten, die in Not geraten war.

»Wenn die Leute sich anständig verhalten hatten, als die Nazis kamen, haben wir das durchaus gemacht«, sagt Kohner. Er lässt, am Ende der kurzen Wanderung, sich leicht stöhnend in das Besuchersofa sinken. »Heute unterstützen wir ältere Filmleute hier in Kalifornien, das sind oft schon die Kinder der Emigranten von damals, viele ohne richtige Altersversorgung, nicht wahr ... Kein Vergleich natürlich zu den Kriegsjahren, da brauchten ja Hunderte Hilfe, manchmal war das ganze Büro voll mit Leuten, die einem die schrecklichsten Geschichten aus Europa erzählten ...«

»Wann sind Sie das erste Mal nach dem Krieg wieder nach Deutschland gekommen?«

»1951, und zwar widerwillig«, sagt Kohner, ohne überlegen zu müssen. »Ich wollte eigentlich keinem Deutschen die Hand reichen. Weil man nie wusste, was der während der Nazizeit gemacht hatte. Aber ich musste mein Geschäft weiterführen, und es gab schließlich auch einen Haufen anständige Leute.«

Bis in die achtziger Jahre blieb Paul Kohner der Brücken-Kopf der deutschsprachigen Schauspieler und Regisseure in Hollywood. Zu seinen Nachkriegsklienten zählten im Laufe der Jahre O. W. Fischer und Hildegard Knef, Senta Berger und Oscar Werner, Heinz Rühmann, Horst Buchholz, Curd Jürgens, Gert Fröbe und Bernhard Wicki.

»Ich möchte nicht«, sagt Paul Kohner, als ich mich verabschieden will, »dass unser Gespräch traurig endet.« Er lacht verschmitzt. »Ich kenne das nämlich schon. Die Leute hören sich an, was ich zu erzählen habe, und hinterher denken sie, ich wäre ein trauriger Mensch. Dabei ist alles ziemlich lange her, und außerdem waren auch die verzweifeltsten Flüchtlinge nicht den ganzen lieben langen Tag traurig.«

Der alte Mann geht zu seinem Schreibtisch und greift zielsicher in einen der Papierstapel.

»Deshalb habe ich von zu Hause etwas mitgebracht, ein Gedicht, das Anfang der vierziger Jahre ein Emigrant für mich geschrieben hat. Der Verfasser nannte sich Osso van Eyss, das Gedicht heißt ›Zweisilbige Ballade‹, und wenn Sie es mir erlauben, möchte ich das jetzt vorlesen ...«

Paul Kohner setzt sich vor dem Plakat zu »SOS Eisberg« in Positur, Ernst Udets überlebensgroßer wilder Schopf und Leni Riefenstahls theatralisch-entschlossene Miene überragen ihn um einen Kopf. Mit amüsierter Stimme beginnt er zu deklamieren: »Der A- / donis / Kohn hieß. / Viele / schwüle / Ziele / hatt' er, / da der / Vorhang / vor hang ... / Tiefer / griff er / in den / linden, / harten, / zarten / Dusen- / Busen / Misses / Lissies / Und die / Gundie / presst er / fester, / haschte, / naschte / süße / Küsse, / zwickte, / drückte / ihre / Niere ... / Später / brach er / auf dann, / kauft dann / bei dem / Seiden- / Schneider / Kleider, / Rosen, / Dosen, / Zipper- / Slipper, / Tanzschuh, / Handschuh, / Reitdress, / Nightdress ... / Ein Kohn - / kein Kohn ...«

Nachtrag. Den Optionsvertrag, mit dem er das Archiv in seinem Keller nicht an eine der zahlreichen amerikanischen Universitäten verkaufte, die sich um den Schatz vom Sunset Boulevard bemühten, sondern an die Berliner Kinemathek, hat Paul Kohner im Dezember 1987, zweieinhalb Jahre nach unserem Treffen, in seinem Büro unterschrieben. Bevor es allerdings zu der geplanten feierlichen Übergabe in Westberlin kommen konnte, erhielt ich Post, »from another Paul Kohner client«:

»Der 20. März 1988 war ein strahlend schöner Frühlingssonntag, wie er kalifornischer nicht geht«, schrieb der Schauspieler und Rockmusiker Reiner Schoene: »Wer sich der Aussegnungshalle des Jewish Hillside Memorial Cemetery näherte, hörte beerdigungsuntypische Klänge, nämlich Wiener-Walzer-Dreiviertel-Takte. Eher heiter. Neben dem Sarg stand eine amerikanische Flagge aus blauen, weißen und roten Nelken, als wehende Fahne arrangiert. Erst dachten wir: Das ist die hauseigene Flagge; aber dann wurde dieses starspangled banner mit zum Grabe getragen, es war also speziell für Paul Kohner ge-ikebanat worden. Den Patriotismus der alten Immigranten finde ich allerdings sehr verständlich. Amerika war ja, mehr als wir es uns heute vorstellen können, die NEUE HEIMAT ...

In der Halle, rundum vier gläserne Wände, nebenan der San-Diego-Freeway, der 405er, gab's dann vier Reden: ein Journalist von der Los Angeles Times sprach, danach Gary Salt, der neue Agentur-Owner, und zum Schluss Kohners Kinder Pancho und Susan. Auch eher heiter. Wenn man Paul nicht sehr gut gekannt hatte, jetzt lernte man ihn kennen. In der Trauergemeinde saßen reichlich deutsche und österreichische Altemigranten. Viele Yamakas auf den Häuptern. Unter den sechs Sargträgern waren Billy Wilder und Charles Bronson ...

Während wir an Walter Kohner, dem letzten der drei Kohner brothers, und der gesamten family vorbeischritten, Hände drückten und Worte sagten, spielte »La Paloma«. Es war eine würdevolle und angemessene Feier, aber eben auch eine ungewöhnlich heitere. Ein Mann trat seine letzte Reise an, der ein langes, erfolgreiches Leben gelebt hatte, you know, nicht wahr ...«

Reise in die Verlorengegangenheit

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