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Novemberverbrechen • »Ich bin abends zu einer CDU-Freundin gegangen, und wir haben das bewusste Interview mit dem Schabowski im Fernsehen gesehen«, sagt Dr. Sabine Bergmann-Pohl, Präsidentin der Volkskammer und amtierendes Staatsoberhaupt der DDR. Wir sitzen in ihrem Arbeitszimmer im Ostberliner Palast der Republik. Frau Bergmann-Pohl verstand Günther Schabowski so, wie er seine Auskünfte meinte: als relativ unverbindliche Absichtserklärung, als Wechsel auf zukünftige Erleichterungen: »Privatreisen nach dem Ausland können«, sagte der SED-Sprecher und Krenz-Vertraute um 19 Uhr wörtlich, »beantragt werden. Reiseerlaubnisse werden kurzfristig erteilt.« Nicht mehr und nicht weniger.

»Ich bin ziemlich spät nach Hause gekommen«, erzählt die Präsidentin weiter, »mein Mann hat Fußball gesehen. Im Schlafzimmer steht auch ein Apparat, und ich bin davor eingeschlafen. Irgendwann wurde ich wach und habe gedacht: Was ist denn da im Fernsehen los? Ein Theater! Aber ich war im ersten Schlaf und hab‹ ausgeschaltet. Am nächsten Morgen sagt mein Sohn zu mir: ›Oma hat in der Nacht angerufen, aber ich hatte keene Lust euch zu wecken.‹ Halb sieben morgens rufe ich sie also an. Sagt sie: ›Die Mauer ist auf.‹ Ich: ›Du spinnst!‹ Sie: ›Ich war selbst da.‹ Meine Schwiegermutter ist fünfundsiebzig! Die war spontan losgefahren. Erst langsam wurde mir klar, das ist eine Sache, die kein Mensch vorausgesehen hat. Die Leute haben diese Pressemitteilung missverstanden, sind losgerannt, und die an der Grenze wussten sich keine andere Wahl mehr und haben gesagt: ›Na, nun machen wir das Ding auf.‹«

An diesem verhangenen, fast milden Novembertag waren die Straßen schwarz von Menschen, ein wogender Ozean von Leibern. Niemand hat die Demonstranten gezählt, aber die Augenzeugen sprechen von Hunderttausenden. Alle waren darauf gefasst, in die Maschinengewehrsalven der Armee zu marschieren. Die Männer in den vorderen Reihen trugen an langen Stangen befestigte Pappschilder: »Brüder, nicht schießen!« - »Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Monarchie!« - »Wir wollen Frieden und Brot!« Rote Papiernelken, Rosetten und Bänder, die von fliegenden Händlern angeboten wurden, fanden reißenden Absatz. In den hinteren Reihen aber gingen auch viele Bewaffnete mit.

Und dann geschah - nichts. Die Soldaten öffneten die Kasernentore und liefen zu den Aufständischen über, die Polizisten im Alexanderplatz-Präsidium schnallten ihre Waffen ab. Verblüfft bildeten die Demonstranten Gassen, damit die Ordnungshüter unbehelligt nach Hause gehen konnten.

Am frühen Nachmittag rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann, den die Menge bei einer wässrigen Kartoffelsuppe störte, von einem Fenster des Reichstags: »Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. Das alte Morsche ist zusammengebrochen; der Militarismus ist erledigt! Die Hohenzollern haben abgedankt! Es lebe die deutsche Republik!«

Als SPD-Chef Friedrich Ebert, der seine Suppe derweil weitergelöffelt hatte, von Scheidemanns Tat hörte, reagierte er äußerst wütend auf die unvorschriftsmäßige Eigenmächtigkeit. Fast zufällig und gleichsam um Entschuldigung bittend war die Republik ins Leben getreten - beim ersten Mal jedenfalls.

Denn um halb fünf unternahm um die Ecke vom Reichstag Karl Liebknecht, der Führer der Kommunisten, eine Reprise: »Der Tag der Revolution ist gekommen. Wir haben den Frieden erzwungen. Das Alte ist nicht mehr. In dieser Stunde proklamieren wir die freie sozialistische Republik Deutschland.« Liebknecht wies auf das Hauptportal des Berliner Schlosses und rief mit erhobener Stimme: »Wir wollen an der Stelle, wo die Kaiserstandarte wehte, die rote Fahne der freien Republik Deutschland hissen!«

Im Nachmittagswind flatterte sie dann von zahllosen Dächern der Reichshauptstadt: vom Brandenburger Tor, vom Marstall und vom Kronprinzenpalais. Diese Gebäude hatte das Volk dem Schutze der Revolution unterstellt. Bewaffnete Arbeiter hielten Wache.

Zugleich aber machte sich so etwas wie Ratlosigkeit breit. Was war nun noch zu tun? Zielloses Gedränge bestimmte den Abend, Verbrüderung, gedämpfte Volksfeststimmung. 92

»Da«, sagt Sabine Bergmann-Pohl und deutet auf ein links gelegenes Stück Fassade, das beim Abriss des Schlosses durch die SED-Regierung verschont wurde: »Von dem Balkon aus hat am 9. November 1918 Karl Liebknecht die Republik ausgerufen. Dort ist jetzt mein Amtssitz als amtierender Ministerpräsident.«

Kurz nach elf Uhr am Vormittag des 9. November - es war der Jahrestag von Napoleons Staatsstreich im Brumaire des Jahres 1799 - zogen zwei- bis dreitausend Mann vom Bürgerbräukeller am Südufer der Isar in Richtung Stadtmitte. Adolf Hitler marschierte in der ersten Reihe, mit ihm General Ludendorff und Hermann Göring. Die meisten Männer waren bewaffnet, Hitler selbst hielt eine Pistole in der Hand. Nur die Anführer wussten, dass damit ein letzter verzweifelter Versuch unternommen wurde, durch Bluff den schon fehlgeschlagenen Putsch doch noch in einen Sieg zu verwandeln.

In den Straßen drängten sich die Menschenmassen. Als der Zug die Ludwigbrücke erreicht hatte, lief einer der Nationalsozialisten voraus und rief dem Polizeioffizier zu: »Nicht schießen! Ludendorff und Hitler kommen!« Gleichzeitig schrie Hitler: »Ergebt euch!«

In diesem Augenblick fiel ein Schuss, und gleich darauf fegte ein Hagel von Geschossen über die Straße. Als erster wurde ein Mann getroffen, der mit Adolf Hitler Arm in Arm gegangen war. Hitler fiel, entweder von seinem Begleiter mit herabgezogen oder Deckung suchend.

Alles war in Verwirrung, ein Nazi-Führer lehnte sich gegen eine Hauswand und weinte hysterisch. Die Mehrheit der Prominenz, Hitler vorneweg, floh im Feuer. Nur Göring und ein anderer Nazi-Führer wurden verletzt. Die übrigen Verwundeten und auch die sechzehn toten Putschisten hatten sich auf dem Marsch in den hinteren Reihen befunden. Sie waren den Schüssen der Polizei ausgesetzt gewesen, weil ihre Führer sofort Deckung gesucht hatten. 93

Es ist kurz nach elf, Donnerstagabend. Ich liege im Bett und vergnüge mich damit, durch die Fernsehkanäle zu flippen. Eine Sondermeldung unterbricht das Programm von AFN, dem amerikanischen Militärsender: Die Mauer sei gefallen. In den ZDF-Nachrichten ist davon keineswegs die Rede gewesen. Die Amis haben mal wieder alles falsch verstanden. Außenpolitik fünf. Fleißig, aber untalentiert, man kennt das.

Im Dritten läuft eine Talkshow, die meine Programmzeitschrift nicht verzeichnet. Der Moderator scheint leicht angeshakert. Einer der Gäste ist der Berliner Bürgermeister Momper, und der erhebt sich jetzt, beim x-ten Drüberflippen, gerade von seinem Stuhl. Ein Skandal!? Ich flippe zurück.

Der Gesprächsleiter nuschelt irgend etwas von Verständnis für die Situation. Momper sagt, er müsse zu den Übergängen, da sei die Hölle los.

Ich stehe auf, ziehe mich an und mache mich auf den Weg. Die nächstgelegene Kontrollstelle ist die Invalidenstraße.

»Berlin Nr. 234404 9.11.2355 - An alle Stapo-Stellen und Stapo-Leitstellen / An Leiter oder Stellvertreter ... Es ist vorzubereiten die Festnahme von etwa 20000-30000 Juden im Reiche. Es sind auszuwählen vor allem vermögende Juden. Nähere Anordnungen ergehen noch im Laufe dieser Nacht. ... Gestapo II Müller.« 94

Stunden später, am Abend des 9. November 1938, polterte ein SA-Scharführer in das Schlafzimmer einer jüdischen Familie. Dr. Goldstein und seine Frau standen, aufgeschreckt durch den Lärm und die Auseinandersetzung vor der Tür, schon neben ihren Betten.

»Ich bin angewiesen«, sagte der Scharführer zögernd, die Pistole in der Hand, »einen schweren Auftrag durchzuführen.«

Ruhig antwortete Frau Goldstein: »Mein Herr, schießen Sie, bitte, gut!« und da schoss er. 95

Kurz vor Mitternacht trete ich aus der Haustür. Auf Alt-Moabit kommen mir zahllose Fußgänger entgegen. Nicht nur ihre Menge um diese Uhrzeit ist ungewöhnlich. Auch in ihrer Kleidung und in ihren Bewegungen irritiert mich etwas, das ich nicht auf Anhieb einordnen kann. Die Menschen strömen aus der Richtung des Gefängnisses in der Lehrter Straße, und ich habe plötzlich den unsinnigen Gedanken, ein Massenausbruch könnte stattgefunden haben. Vor dem ersten Trupp wechsele ich spontan vom Bürgersteig auf die Fahrbahn und bleibe dort, bis ich meinen wenige Meter weiter geparkten Wagen erreiche.

Trotz der Fernsehszenen, die mich aus dem Bett gelockt haben, verfalle ich erst im Stau vor dem Übergang Invalidenstraße auf den Gedanken, dass es sich bei den Menschen, die die Straßen bevölkern und von denen viele mit schnellen Schritten in Richtung City marschieren, nicht nur um West-, sondern bereits auch um Ostberliner handeln könnte. Die Vorstellung allein scheint mir - aufgewachsen in der Zeit nach dem Mauerbau - vollständig verrückt.

In Berlin beginnt der Pogrom gegen 1 Uhr nachts. Fachgerecht hat man zuvor die jüdischen Hauptgebäude isoliert, die Telefonleitungen abgeschnitten, die Strom- und Heizanlagen abgestellt. Die Polizei leitet den Verkehr um. Ordnung herrscht, als sieben große Synagogen der Hauptstadt in Brand gesetzt werden, darunter die in der Fasanenstraße.

»Warum spritzen Sie nicht«, ruft der herbeigeeilte Oberkantor Davidsohn den Feuerwehrleuten zu, die mit leeren Schläuchen dastehen.

»Was wollen Sie denn hier?« erwidert der Feuerwehrhauptmann. »Sie werden hier nur totgeschlagen.«

»Ich war an dieser Synagoge 27 Jahre tätig.«

»Tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen, wir sind nur hier, um die Nachbarhäuser zu schützen.«

»Um Gottes Willen, ich möchte wenigstens noch das Nötigste heraussuchen.«

Doch plötzlich sieht der Kantor den Synagogenpförtner Wolfsohn blutüberströmt im Hemd in den Hof laufen. Da der Pförtner sich weigert, die Schlüssel auszuhändigen, wird er bis aufs Blut geprügelt.

SA- und SS-Männer gießen aus großen Kanistern Benzin in die Flammen. Bald brennt auch das Innere der Synagoge lichterloh.

»Bis fünf Uhr früh«, erinnert sich Davidsohn, »stand ich dabei, dann rückte die Feuerwehr ab, das Feuer verglimmte, und ich sagte ›Kaddisch‹.« 96

Jedes dritte Fahrzeug auf den nächtlichen Straßen ist ein Wartburg oder Trabbi. Man traut seinen Augen nicht. »Die Grenzen sind offen, die Ostberliner sind in der Stadt«, meldet der RIAS.

An die Invalidenstraße führt kein freier Weg mehr. Im Radio heißt es, dort fänden Freudenfeiern statt. Wer mir entgegenkommt, ist in euphorischer Eile.

»Wo wollen Sie hin?«

»Zum Ku'damm«, sagt die Frau.

»Immer geradeaus«, sagt ihr Mann.

»Hauptsache drüben«, brüllt einer, der im Laufschritt vorbeizischt.

Auf der Entlastungsstraße und der Straße des 17. Juni staut sich der Verkehr. Tausende wollen zum Brandenburger Tor. Kolonnen von Fußgängern ziehen durch den Tiergarten. Eine eigentümliche Hysterie liegt in der Luft. Vier dunkelblaue S-Klasse-Mercedesse zischen mit Polizeibegleitung an mir vorbei.

Nach einem längeren Fußmarsch hole ich die Wagen wieder ein. Sie stehen in der abgesperrten Zone vor dem Brandenburger Tor. Auf einer improvisierten Bühne probt Tom Brokaw, einer der drei Top-US-Anchor-Men seinen Auftritt. Er soll live in die New Yorker Abendnachrichten geschaltet werden. Deutsche Fernsehteams sind nicht zu sehen. Polizisten auch nicht. Über Tausend Menschen dürften es sein, die sich jetzt um die Bühne drängeln.

Ich steige über eine Absperrung, von der ich denke, dass die TV-Leute sie errichtet haben. Dutzende machen es mir nach. Jetzt haben wir die Mauer am Brandenburger Tor erreicht. Ich drehe mich um. Ein paar Meter hinter mir steht stumm und bewegungslos ein Polizist im üblichen Thermogrün. Eher schüchtern. Ein wenig so, als gehöre er gar nicht dazu, als sei er aus Versehen hierher geraten.

»Was hat der denn für ›ne komische Kappe?« fragt die Frau neben mir.

Das Ding ist feuerrot und eindeutig nicht westlicher Herkunft.

»Ick gloob', wir sind im Osten, wa?« sagt die Frau.

»Irre«, sag' ich.

Auf der Bühne werden die Scheinwerfer angeschmissen. Tom Brokaw stellt sich in Positur, mit dem Rücken zum Brandenburger Tor.

»Wenn ihr auf die Mauer klettert, kommt ihr gut ins Bild«, rät ein Helfer der TV-Leute.

»Einfacher gesagt als getan«, mault einer aus der Menge zurück.

Die ersten erklimmen mühsam die Mauer. Britische Militärpolizisten treffen ein, bleiben aber brav an der Sektorengrenze stehen. Mir fällt ein, dass ich, sicherheitsbedürftig wie ich in den aggressiven letzten Wochen geworden bin, einen kleinen Hammer in der Tasche meines Ledermantels trage. Wer oben ist, zieht die weniger gewandten hoch. Wir sind das Volk, warum nicht auch wir, und das Volk tanzt auf der Mauer. Zum ersten Mal. Tom Brokaw geht auf Sendung. Ich ziehe meinen Hammer aus der Tasche.

In jener Nacht fuhr ich, im Taxi auf dem Heimweg, den Tauentzien und den Kurfürstendamm entlang. Auf beiden Straßenseiten standen Männer und schlugen mit Eisenstangen Schaufenster ein. Überall krachte und splitterte Glas. Es waren SS-Leute in schwarzen Breeches und hohen Stiefeln, aber in Ziviljacken und mit Hüten. Sie gingen gelassen und systematisch zu Werk. Jedem schienen vier, fünf Häuserfronten zugeteilt. Sie hoben die Stangen, schlugen mehrmals zu und rückten dann zum nächsten Schaufenster vor. Passanten waren nicht zu sehen ...

Dreimal ließ ich das Taxi halten. Dreimal wollte ich aussteigen. Dreimal trat ein Kriminalbeamter hinter einem der Bäume hervor und forderte mich energisch auf, im Auto zu bleiben und weiterzufahren.

Als ich zum vierten mal halten wollte, weigerte sich der Chauffeur: »Es hat keinen Zweck«, sagte er, »und außerdem ist es Widerstand gegen die Staatsgewalt.« 97

Vor dem Springerhochhaus an der Kochstraße verteilen Zeitungsjungen kurz nach zwei Uhr die ersten Extrablätter kostenlos an die paradefahrenden West- und Ostberliner. Ich nehme eine BZ: »Die Mauer ist weg«, verkündet die Schlagzeile, und dabei sehe ich sie doch, nur ein paar Meter entfernt, in bestem Zustand. Wie gezählt ihre Tage sind, kann ich mir immer noch nicht vorstellen.

»In der näheren Umgebung der Grenzübergangsstellen gibt es keine Parkplätze mehr«, heißt es im Verkehrsfunk. Mitten in der Nacht.

Auf Tauentzien und Ku'damm steht der Verkehr in beide Richtungen. Es stinkt bestialisch nach Zweitakter, das Hupkonzert ist ohrenbetäubend. Auch die Bürgersteige sind bis zum Bersten gefüllt. Ich fahre tanken am Hohenzollerndamm.

»Wo geht es hier zum Ku'damm?«

Aus dem Osten kommend, wie Sprache, Kleidung und Gestik verraten, müssen die beiden jungen Paare den längst passiert haben. Ich zeige ihnen den Weg.

»Gehen Sie zurück?« frage ich.

»Natürlich.«

»Und wenn morgen wieder dicht ist?«

»Wir müssen zurück!« sagen beide Frauen fast im Chor.

»Warum?«

»Na, die Kinder schlafen doch. Die wissen doch gar nicht, dass wir los sind. Wir wollten ja eigentlich nur ein paar Meter in den Westen und dann gleich nach Hause.«

»Komisch, so viele Glassplitter auf der Straße! In dem schönen, eleganten Modegeschäft sind ja sämtliche Scheiben eingeschlagen, die Schaukästen leer ... Was haben sie bloß wieder gemacht?« denkt Hertha Nathorff auf ihrem Weg zur Arbeit am Morgen des 10. November 1938: »Da höre ich eine gutangezogene Dame im Vorbeigehen zu ihrem Mann sagen: ›Recht geschieht es der verdammten Judenbande, Rache ist süß!‹« 98

Viele der am 9. November Verhafteten erlebten ihren Tag danach oft erst Wochen später. Zu ihnen gehört Ingeborg Hechts Vater: »Er kam, kahlgeschoren, gebückt, schmal. Ein müder Mann mit müden Augen. Und er fror, fror, fror. Er hatte die Kälte in seinem Körper gespeichert, beim Steineklopfen im Freien, bei vorschriftsmäßig dünner Kleidung im eisigen Novemberwind. Wer sich heimlich wärmendes Zeitungspapier unters Hemd geschmuggelt hatte, wurde halbtot geschlagen ... Mit leiser Stimme, unterbrochen von dem dumpfen Husten, den er lange nicht mehr losgeworden ist, erzählte er Ungeheuerliches. Wenn es nicht unser eigener Vater, Doktor der Rechte und bei klarem Verstand, gewesen wäre, hätten wir das alles nicht geglaubt.«99

»Gestern war das deutsche Volk das glücklichste Volk der Welt«, sagt am nächsten Tag Walter Momper im Radio.

»Auffällig, wie viel junge Leute in der Stadt sind«, meint ein RIAS-Reporter, »offensichtlich wird in Ostberlin heute ganz kräftig die Schule geschwänzt.«

Der SFB meldet, bei Erika gebe es die ganze kommende Nacht Freibier, und bei Joe am Ku'damm kann ab sofort mit Ostmark bezahlt werden. Hertha BSC offeriert zehntausend Freikarten für das morgige Spiel.

Eine ältere Sekretärin in einer City-Firma besteht darauf, sofort eine größere Menge Bargeld abheben zu gehen. »Ich kenne das von früher«, sagt sie, »später kriegen wir nichts mehr.«

Die Kurse an der Berliner Börse klettern steil nach oben. »Wir werden jetzt wieder richtig interessant«, verkündet eine Pressesprecherin. »Die Umsätze werden steigen, es gibt noch Vermögenswerte im Osten. Der Berliner Platz wird attraktiv.«

An diesem Freitag, dem 10. November 1989, erreichen Spitzenzuwächse Baufirmen mit bis zu dreizehn Prozent und Brauereien - Berliner Kindl plus acht Prozent.

»Es gab noch vor einer Woche einen militärischen und zivilen Verwaltungsapparat, der so verzweigt, so ineinander verfädelt, so tief eingewurzelt war, dass er über den Wechsel der Zeiten hinaus seine Herrschaft gesichert zu haben schien. Durch die Straßen von Berlin jagten die grauen Autos der Offiziere, auf den Plätzen standen wie Säulen der Macht die Schutzleute, eine riesige Militärorganisation schien alles zu umfassen, in den Ämtern und Ministerien thronte eine scheinbar unbesiegbare Bürokratie. Gestern früh war, in Berlin wenigstens, das alles noch da. Gestern nachmittag existierte nichts mehr davon«, resümierte am 10. November 1918 Theodor Wolff im Berliner Tageblatt.100 Und der Theologe Ernst Troeltsch erinnert sich an den Tag danach: »Sonntag, der 10. November, war ein wundervoller Herbsttag. Die Bürger gingen in Massen wie gewöhnlich im Grunewald spazieren. Keine eleganten Toiletten, lauter Bürger, manche wohl absichtlich einfach angezogen. Alles etwas gedämpft wie Leute, deren Schicksal irgendwo weit in der Ferne entschieden wird, aber doch beruhigt und behaglich, dass es so gut abgegangen war. Trambahnen und Untergrundbahnen gingen wie sonst, das Unterpfand dafür, dass für den unmittelbaren Lebensbedarf alles in Ordnung war. Auf allen Gesichtern stand geschrieben: Die Gehälter werden weiterbezahlt.«101

In einer überfüllten Bank am Ku'damm bemüht sich eine Frau Mitte Dreißig um das Begrüßungsgeld. Hundert Mark pro Kopf. Der Schalterbeamte verlangt, den Kopf des Kindes der Frau zu sehen. Die Frau verlässt die Bank und geht auf ein anderes Zoni-Paar zu. »Tschuldigung, könnten Sie mir mal Ihr Kind leihen?« Solidarität ist angesagt, das Beispiel macht Schule, ein schwunghafter Kinderverleih setzt ein.

Bonner Prominenz spricht und singt mehr schlecht als recht vor dem Schöneberger Rathaus. Am Ku'damm stehen derweil die größten Menschentrauben vor den Schauräumen von Mercedes und BMW.

»Diese Woche sind die Gefühle dran«, sagt ein Journalist aus der Hamburger Oberliga, der zwecks Stimmungsberichterstattung gerade eingeflogen wurde, »nächste Woche beginnen für alle die Geschäfte. Ich bin halt schneller, ich fange jetzt damit an.«

Der Verfassungsschutz gibt bekannt, dass er ab sofort auf die Befragung von Übersiedlern verzichtet.

»Was mich verunsichert«, gesteht mir ein Ex-SDSler, inzwischen in der Filmbranche erfolgreich, »ist die Veränderung an sich. Wir hatten uns doch alle darauf eingestellt, dass sich nichts mehr ändert. dass wir vielleicht noch mal die Eigentumswohnung wechseln. Oder die Frau. Aber wer wirkliche Abenteuer sehen wollte, der musste sehr weit weg schauen, nach Afrika oder Südamerika. Und jetzt plötzlich das!«

»Mit rasender Wucht rollt sich die Entwicklung der Ereignisse nun auch in Berlin ab«, meldete die Rote Fahne über den 9. November 1918: »Die Umwälzung setzte vormittags ruhig ein und vollzog sich auch weiterhin in völlig geordneten Formen.«102

»In der Nacht vom 9. auf 10. November und am 10. November 1938 trugen sich in ganz Deutschland Ereignisse zu, die ich als das Signal für eine völlig andere Behandlung der Judenfrage in Deutschland ansah«, berichtete der stellvertretende Gauleiter von Franken einer Prüfungskommission: »Durch die in der Nacht und am Morgen des 10. Novembers vorgenommene Große Aktion gegen die Juden waren alle Richtlinien und alle Gesetze auf diesem Gebiet illusorisch gemacht.« 103

Nicht ich muss gehen. Das Land verlässt mich, während ich bleibe. Vereinigt soll etwas werden, das ich nur getrennt kenne. Angeknüpft werden soll an eine Vergangenheit, nach deren Zerstörung ich erst geboren wurde. Ich beobachte den Untergang, das Verschwinden des Landes, dessen Bürger ich war. Fünfunddreißig Jahre lang.

»Erinnerungen lassen sich nicht in Schubladen und Fächern aufbewahren, sondern in ihnen verflicht sich unauflöslich das Vergangene mit dem Gegenwärtigen«, hat Theodor W. Adorno Mitte der vierziger Jahre aus den Erfahrungen des Exils geschrieben. Zu einem Zeitpunkt gelesen, da zwei der drei NS-Nachfolgestaaten alles daran setzen, ihre vierzigjährige Existenz in eine Fußnote der mitteleuropäischen Geschichte zu verwandeln, gewinnen diese Sätze neue Bedeutung. Denn bei der auch kulturellen Vereinigung nimmt zum dritten - und wohl auch letzten Mal - die Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus und mit der von ihm vertriebenen Kultur der ersten deutschen Demokratie eine Schlüsselstellung ein. Die Konstitution einer neuen gesamtdeutschen Identität wird von ihr auszugehen haben, soll das nationale Trauma sich nicht blind wiederholen. »Darum ist es töricht und sentimental«, fährt Adorno fort, »vor der Schmutzflut des Gegenwärtigen Vergangenes rein erhalten zu wollen. Diesem ist keine Hoffnung gelassen, als dass es, schutzlos dem Unheil ausgeliefert, aus diesem als anderes wieder hervortrete.«104

»In diesen Tagen, in denen die Welt auf Berlin, auf Deutschland blickt, braucht sich niemand seiner Tränen zu schämen«, hieß es im Leitartikel des ersten Extrablatts, das die Frankfurter Allgemeine je herausbrachte.105 Die Berliner BZ, nur drei Stunden nach dem Ereignis bereits erhältlich, fasste es knapper: »Der schönste Tag in der jüngsten Geschichte Deutschlands.« Am griffigsten aber war es dann Anfang der nächsten Woche in Berlin auf T-Shirts zu lesen:

9. November - ich war dabei!

Reise in die Verlorengegangenheit

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