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Frühe Fluchten • An diesem Tag hat Paul Falkenberg beschlossen, Deutschland zu verlassen. Wenige nur spürten die heraufziehende Gefahr, und von diesen wenigen wiederum waren die meisten politisch so engagiert, dass sie nicht Flucht, sondern Gegenwehr für geraten hielten. Die Mehrheit der Emigranten in spe hingegen sah die Situation, sofern sie sich überhaupt Gedanken machte, gänzlich undramatisch. Im Lichte aufgeklärten Denkens schien die erste deutsche Republik, seit Monaten am Rande des Bürgerkriegs,109 durchaus noch eine Chance zu haben, waren die Nazis doch nicht mehr als ein Haufen armer Irrer mit einem Größenwahnsinnigen an der Spitze. Allein schon ihre heiße Liebe zu Uniformen bezeugte, dass sie Politik mit Mummenschanz verwechselten. Nur folgerichtig feierten, so jedenfalls kolportiert es Marianne Hoppe, der junge Max Horkheimer und sein Freund Theodor Wiesengrund-Adorno den Fasching 1932, den letzten vor dem Exil, als Faschisting - in SA-Uniformen.110

Zu der Handvoll Hellsichtiger, die bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten die Koffer packten, weil sie trotz gelegentlicher Erfolge der demokratischen Kräfte den Aufstieg der NSDAP für unabwendbar hielten, gehörten die Schriftstellerin Vicki Baum, der Regisseur Eric Charell und die Schauspielerin Elisabeth Bergner.

»Die Bergner ist auf eine für uns alle sehr rätselhafte Weise plötzlich nach England gegangen«, erinnert sich Max Reinhardts Sohn Gottfried. »Ich selbst wäre damals nie auf so eine Idee verfallen, und ich kenne kaum einen, der geahnt hätte, was auf uns zukam, geschweige denn irgendwelche Konsequenzen gezogen hat.«111

Niemand akzeptierte daher auch Charells Gründe, als er den Vertrag für Max Reinhardts Großes Schauspielhaus kündigen wollte. Der Geldsegen, der die Operetten und Revuen mit schöner Regelmäßigkeit belohnte, besaß für die aufwendigen Projekte des deutschen Theaterkönigs, der keinerlei staatliche Unterstützung bezog, die Bedeutung einer Subvention. Reinhardt bestellte Charell zu sich auf Schloß Leopoldskron und bekniete ihn weiterzumachen.

»Wissen Sie, Herr Professor«, lautete Charells Antwort, »nicht nur dass ich gehe, auch Sie sollten Deutschland verlassen. Und zwar rasch.«112

Max Reinhardt verstand nicht, wovon Charell sprach.

Auf nicht weniger Befremden stieß Vicki Baum mit ihrem Entschluss auszuwandern. Freunde und Bekannte erklärten die Bestseller-Autorin für hysterisch. »Im Ullsteinhaus fragte man mich, ob ich den Verstand verloren habe«, schreibt sie in ihren Memoiren. Doch sehr wohl wusste sie, was sie tat: »Ich sah die Gesichter der Demonstranten auf der Straße; die eingefallenen, schmallippigen Gesichter, die schlottrigen, abgetragenen Trenchcoats der verbitterten ehemaligen Frontsoldaten und Arbeitslosen; ich sah überall Haß und Fanatismus ...«113

Auch Paul Falkenberg ließ sich von Einwänden seiner Freunde nicht beirren. Seit seiner Mitarbeit an Fritz Langs »M« und an Carl Theodor Dreyers »Vampyr«, zwei zukünftigen Klassikern der Filmkunst, war der junge Cutter ein äußerst gefragter Mann, und so bot sich ihm bereits Anfang 1932 eine Gelegenheit, in Paris zu arbeiten. Seine Frau Alice schloss ihr Fotostudio, das sie erst 1928 eröffnet hatte, und folgte ihrem Mann ins Ausland. Die Berliner Wohnung behielt das Paar bei - bis Hitlers Machtübernahme alle Hoffnungen auf eine Rückkehr zunichte machte.

Zwölf Jahre später, als die Alliierten die deutsche Hauptstadt befreien, wird dort keiner von Falkenbergs Verwandten mehr leben. Sein Vater ist 1936 in Berlin gestorben; die Schwester floh 1938 nach Großbritannien, sein Schwager, der Bruder seiner Frau, wurde im KZ Oranienburg ermordet (»Hat ihm nichts geholfen, dass er sich hat taufen lassen ...«). Die Mutter, aktives Mitglied der jüdischen Gemeinde, durchlitt den Rassenterror der Nazis und wurde 1942 nach Theresienstadt verschleppt. 1944 konnte sie freigekauft werden, starb jedoch kurz vor der geplanten Abreise in die USA, ohne ihre Kinder wiedergesehen zu haben.

Paul Falkenberg selbst hat es erst 1961, fast dreißig Jahre, nachdem er Berlin verlassen hatte, über sich gebracht, die Stadt seiner Geburt zu besuchen. Dort wohnen jedoch sollte er nie wieder.

Reise in die Verlorengegangenheit

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